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Grenzen und Aufbrüche evangelischer Spiritualität

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Im Licht von Joh 6,63 lassen sich auch Grenzen und nötige Neuaufbrüche evangelischer Spiritualität erkennen. Die Konzentration der christlichen Spiritualität auf das Wort droht die sinnliche Wahrnehmung des Menschen auf den Hörsinn zu reduzieren. Im Vergleich mit anderen Konfessionen fällt auf, wie wenig es im evangelischen – im reformierten noch stärker als im lutherischen – Gottesdienst zu sehen, zu spüren und zu schmecken gibt. Der Protestantismus hat im 20. Jh. dieser Reduktion des liturgischen Lebens entgegenzuwirken versucht und dabei auch von anderen Konfessionen gelernt: Das Abendmahl wird wieder häufiger gefeiert, der Friedensgruß nicht nur verkündet, sondern auch ausgetauscht, auch Salbungsgottesdienste gehören heute zum liturgischen Repertoire evangelischer Kirchen. Im sechsten Gottesdienstkriterium des Evangelischen Gottesdienstbuches heißt es: „Die Hochschätzung der Predigt ist ein besonderes Merkmal der evangelischen Kirchen; sie darf jedoch nicht dazu führen, dass der Gottesdienst einseitig intellektuell bestimmt wird“, denn liturgisches „Handeln und Verhalten bezieht den ganzen Menschen ein“.6

Im Anschluss an Joh 6 hat der Protestantismus zudem eine Hierarchisierung der biblischen Schriften vorgenommen und sich in Theologie und Frömmigkeit vor allem am Johannesevangelium und den Briefen des Paulus orientiert. Luther zog das Johannesevangelium als „das eynige zartte recht hewbt Euangelion“ den Synoptikern vor, weil es „gar wenig werck von Christo, aber gar viel seyner predigt“ beschreibt. Ausdrücklich bezog er sich dabei auf den Vers Joh 6,63: „Denn die werck hulffen myr nichts, aber seyne wort die geben das leben, wie er selbs sagt.“ (WA.DB 6,10)

Als Folge dieser Ausblendung des Lebens Jesu hat man in evangelischer Theologie und Frömmigkeit oftmals das Kreuz vom Leben Jesu gelöst – und damit dazu beigetragen, dass heute die Kreuzestheologie vielen Menschen kaum mehr etwas sagt. Um das Kreuz zu begreifen, muss man es als Konsequenz des Lebens Jesu verstehen. Weil Jesus sich den gesellschaftlich Ausgegrenzten (den Zöllnern und Prostituierten gleichermaßen) zuwendet, erfährt er die Feindschaft derer, die die Macht im Lande haben. Indem der Sohn Gottes Gemeinschaft mit den Menschen sucht und diese dort aufsucht, wo sie ihr Leben unter der Macht der Sünde führen, nimmt er das Risiko auf sich, von diesen Menschen verstoßen und gekreuzigt zu werden. Jesus Christus aber bleibt seiner Sendung zu den Menschen bis zum äußersten, bis zum Tod am Kreuz, treu. Um dem menschgewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Christus zu begegnen und ihn zu verstehen, brauchen wir neben den neutestamentlichen Briefen auch die Evangelien – und neben Johannes auch die Synoptiker und selbstverständlich auch das Alte Testament. Mit ihrer Konzentration auf Johannes und Paulus, aber auch das Wort vom Kreuz, steht evangelische Frömmigkeit in der Gefahr, der Fülle des Lebens Christi nicht gewahr zu werden.

Man wird diese Einsicht auch in der Auslegung von Joh 6 geltend machen müssen: Wir sollten, anders als protestantische Ausleger(innen) dies gewohnt sind, „das Fleisch des Menschensohnes und sein Blut“ (6,53) nicht vorschnell auf „die realen und gewaltsam voneinander getrennten ‚Elemente‘ des Leibes des getöteten Jesus“ beziehen,7 sondern im Sinne von Joh 1,14 auf das gesamte Leben Jesu. In der geistlichen Einverleibung des Leibes Christi geht es darum, dass Menschen Anteil bekommen an der Fülle des Lebens Jesu (seinem Fleisch) in seiner Lebendigkeit (seinem Blut8). Im Licht von Joh 6 wäre evangelische Frömmigkeit dann als ein Hineinwachsen in die lebendige Fülle des Lebens Jesu zu verstehen, das dadurch möglich wird, dass sich dieses Leben in Wort und Geist Menschen erschließt und diese für sich gewinnt.

Geist und Leben 1/2015

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