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1970er-Jahre Elisabeth Joris
ОглавлениеDas Boulevardblatt Blick unterstützt zwar die Kampagne für das Frauenstimmrecht 1970/71. Als es dann aber so weit ist, nutzt es die Gunst der Stunde: «Sex sells» werden sich die männlichen Redaktoren gedacht haben. Langhaarig, blond und kurvig muss sie sein. Das Sträusschen spielt auf eines der Abstimmungsplakate an. 1978 führt der Blick das «Seite 3-Girl» ein. 2016 verschwinden die leicht Bekleideten auf Seite 3 endgültig.
Die ersten elf Nationalrätinnen mit Nationalratspräsident Wil liam Vontobel, Bern 1972 (v. l.n.r.): Hanny Thalmann (CVP, SG), Gabrielle Nanchen (SP, VS), Hanna Sahlfeld-Singer (SP, SG), Nelly Wicky (PDA, GE), Liselotte Spreng (FDP, FR), Martha Ribi (FDP, ZH), Lilian Uchtenhagen (SP, ZH), Tilo Frey (FDP, NE), Elisabeth Blunschy-Steiner (CVP, SZ), Josi Meier (CVP, LU), Hedi Lang (SP, ZH).
Die klassische Hausfrau ist 1971 das gängige Rollenmodell für verheiratete Frauen mit Kindern. Auch für solche ohne Kinder. 1971 sind rund 55 Prozent der Frauen zwischen 30 und 64 Jahren nicht erwerbstätig. Diese Quote sinkt bis 2019 auf 18 Prozent. Doch die heutige hohe Erwerbsquote von über 80 Prozent täuscht. Viele Mütter sind in Teilzeit erwerbs tätig und erledigen immer noch rund 70 Prozent der Haus arbeit, die Männer 20 bis 30 Prozent.
1971 beträgt die Lebenserwartung für Frauen 76 Jahre, für Männer 70 Jahre. Heute liegt sie für Frauen bei 85 Jahren und für Männer bei 81 Jahren. Nicht nur die Lebenserwartung ist stark gestiegen, auch bezüglich Aussehen und Lebensumstände hat sich das Älterwerden stark verändert. Das verdeutlicht diese Aufnahme aus einem Altersheim von 1974.
An der Lavaterstrasse 4 in Zürich entsteht 1974 das erste Frauenzentrum der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) mit der Beratungsstelle Infra (Informationsstelle für Frauen). Hier finden Beratungen zu Themen wie Familienplanung, Abtreibung und Rechtsfragen in ungezwungenem Rahmen statt. Kein Schreibtisch trennt Beraterinnen und hilfesuchende Frauen. Man sitzt auf Augenhöhe bequem zusammen und versteht das Gespräch als Akt der Solidarität und Ausdruck des gegenseitigen Austauschs.
Flyer des Frauenzentrums der FBB in Zürich. Elisabeth Joris gehört von 1976 bis 1978 auch zum Beratungsteam und hilft – damals selbst hochschwanger – Frauen, die in Not sind. Helen Pinkus-Rymann, Grafikerin, Mitinitiantin der Beratungsstelle und lange selbst dort aktiv, hat den Flyer gestaltet.
Der im Auftrag der schweizerischen UNESCO-Kommission durch das Soziologische Institut der Universität Zürich erstellte Bericht «Die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft» hält fest: Die Schweizerin wird in Familie, Beruf, Gesellschaft und Staat diskriminiert. Im Bild die Pressekonferenz vom 25. April 1974 (v. l. n. r. Professor Peter Heintz, Leiter der Untersuchung, Perle Bugnion-Secrétan, Mitglied der Arbeitsgruppe, Jacques Rial, Generalse kretär der UNESCO-Kommission, und die Autoren des Berichts, René Levy und Thomas Held).
Mehr als 1000 Frauen aus 80 etablierten Frauenorganisationen nehmen vom 17. bis 19. Januar 1975 am grossen Frauenkongress in Bern teil. Am zweiten Konferenztag dringen Frauen des Antikongresses im Gäbelbach mit Transparenten in die Versammlung ein. Am Ende stimmt eine Mehrheit – gegen den Willen der katholischen Frauenverbände – für eine Fristenlösung in der Abtreibungsfrage.
Am Antikongress im Quartierzentrum Gäbelbach nehmen Frauen der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) und des Mouvement de libération des femmes (MLF) teil – sie bilden die sogenannte neue Frauenbewegung. Erwartet werden 300 bis 1000 Personen, es kommen aber mehr als 7000. Ihr Protest richtet sich gegen das Motto «Partnerschaft» am grossen Kongress und die Unterbewertung der Frage des Schwangerschaftsabbruchs.
Anlässlich des UNO-Jahrs der Frau gestalten 1975 Künstlerinnen gemeinsam mit Amateurinnen im kreativ-feministischen 35-köpfigen Kollektiv die Schau «Frauen sehen Frauen» im Zürcher Strauhof. Es ist eine anarchisch aufbegehrende Ausstellung, die sich kritisch-provozierend mit dem weiblichen Alltag und den vorherrschenden Geschlechterrollen auseinandersetzt. Auf dem Plakat die Kunstwissenschaftlerin Bice Curiger (*1948), spätere Kuratorin am Kunsthaus Zürich und Mitgründerin der Kunstzeitschrift Parkett.
Erste Sitzung der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen (EKF) am 19. Februar 1976.Damit wird die erste staatliche Institution für Gleichstellung etabliert, eine Forderung des Frauenkongresses von 1975. Am Tischende Bundesrat Hans Hürlimann, links neben ihm die erste Präsiden tin, Emilie Lieberherr (SP). Ihr fol gen in den ersten drei Jahrzehnten Lili Nabholz-Haidegger (FDP), Judith Stamm und Chiara Simoneschi-Cortesi (beide CVP).
Im August 1960 kommt in den USA die erste Antibabypille auf den Markt, Grundstein für die sogenannte sexuelle Revolution. «Die Pille macht frei» lautet der Slogan zunächst, wobei in der Frauenbewegung bald auch Kritik an der ständigen Verfügbarkeit aufkommt. Schwangerschaft, Verhütung und Abtreibung sind bis zur Einführung der Fristenlösung 2002 wichtige politische Themen der Frauenbewegung. Im Bild Frauen, die 1965 die Pille einpacken.
Zum Internationalen Tag der Frau finden am 12. März 1977 das erste Mal Anti-Gewalt-Demonstrationen in Zürich und Basel statt. Die Gesichter der Frauen sind weiss, die Augenhöhlen schwarz gefärbt. Auf den Plakaten liest man «Gewalt gegen die Frau ist: wenn Frauen durch Pornofilme und Pornofotos diskriminiert werden», «Gewalt gegen die Frau ist: wenn der Chef die Frau als Bedienstete benützt» etc.
Frauenliebe wird in den 1970er-Jahren zum öffentlichen Thema und ist stark verflochten mit der neuen Frauenbewegung. Lesbisches Leben soll kein Tabu mehr sein, die Frauen erheben ihre Stimme und organisieren sich. 1972 entsteht die Gruppe Sappho s’en fout in Genf.
Im August 1974 setzen Lesben sich von der Männerorganisation Homosexuelle Arbeitsgruppe Zürich (HAZ) ab und gründen 1976 die autonome Lesbengruppe Homosexuelle Frauengruppe Zürich (HFG). In der ersten Ausgabe ihrer Zeitschrift Lesbenfront vom Oktober 1975 heisst es: «Wir Lesben haben eingesehen, dass eine Zusammenarbeit mit den Phallokraten der HAZ unmöglich ist.» Die Zeitschrift besteht bis 1984. Von 1985 bis 1995 erscheint die Nachfolgepublikation Frau ohne Herz.
Kritik am Patriarchat und Frauenbefreiungsbewegung
Abtreibungsdiskussionen
Frauenräume, Frauenberatung
Lesben treten an die Öffentlichkeit
Frauenkongress und Gegenkongress
Eidgenössische Frauenkommission
7. Februar 1971: Endlich! Endlich Zeit zum Mitgestalten, dachten die langjährigen Aktivistinnen der organisierten Frauenbewegung. Das Ja der Männer zum Frauenstimmrecht ermöglichte ihnen die seit Jahrzehnten angestrebte Integration in den bürgerlichen Staat, öffnete ihnen dieselben Partizipationsmöglichkeiten wie den Schweizer Männern, sei es als Stimmende, Parlamentarierin, Regierungsmitglied oder Richterin. Nach den eidgenössischen Wahlen vom Oktober desselben Jahres nahmen im Dezember neben 232 Männern erstmals 12 Frauen im Parlament Einsitz: im Ständerat die Genfer Freisinnige Lise Girardin, im Nationalrat eine Repräsentantin der PdA, drei Repräsentantinnen der CVP, vier der SP und drei der FdP, darunter Tilo Frey aus Neuenburg, die erste Vertretung der Schwarzen im Bundeshaus. Die Presse vermerkte über sie indes nur, dass sie sich mit ihrem weissen Kleid über alle parlamentarischen Kleidervorschriften hinweggesetzt habe.33 Der Einfluss des vier Jahre später von 5 auf 7,5 Prozent und bis 1979 auf 10,5 Prozent gestiegenen Frauenanteils im eidgenössischen Parlament blieb allerdings in den 1970er-Jahren insbesondere im bürgerlichen Lager beschränkt, da die Parlamentarierinnen sich mehrheitlich der von Männern bestimmten Parteilinie unterwarfen.34
Die späte Ausdehnung des Grundrechts auf Partizipation auf das weibliche Geschlecht ist Frauenorganisationen zu verdanken, die gegen das Ansinnen der Regierung, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unter Vorbehalten zu unterzeichnen, 1968/69 mit vehementem Protest – vom diskreten Lobbying bei Parlamentariern über den Grossanlass im Berner Kursaal bis zum Marsch nach Bern – reagiert hatten. Sie ist das Resultat eines Rekurses auf transnationale Rechtsverbindlichkeiten, konkretisiert in den völkerrechtlich garantierten Menschenrechten. Diese schreiben unmissverständlich das Diskriminierungsverbot und damit auch die Gleichheit von Frau und Mann fest. Auf dieses unverrückbare Prinzip bezog sich die spätere SP-Politikerin Emilie Lieberherr, als sie im März 1969 auf dem Bundesplatz im Namen der rund 5000 für das Frauenstimmrecht Demonstrierenden verkündete: «Nicht als Bittende, sondern als Fordernde stehen wir hier.»35
Fordern, nicht bitten, das sagten ebenso die mehrheitlich jungen Frauen, die sich im Gefolge des 1968er-Aufbruchs zur «Frauenbefreiungsbewegung» formierten, welche erst im Laufe der 1970er-Jahre als feministisch definiert werden sollte. Unabhängig von Rechtsparagrafen verstanden sie sich als ausserparlamentarische Aktivistinnen, die sich auch ohne formelle Partizipationsmöglichkeiten über provokative Aktionen in den Medien Gehör zu verschaffen wussten. Nicht ums Mitgestalten ging es den «Neo-Feministinnen», so die Bezeichnung der Westschweizer Historikerin Sarah Kiani, sondern um die grundlegende Veränderung der Gesellschaft. Im Gegensatz zum Rekurs auf die abstrakte Ebene des Rechts verwiesen sie auf konkrete Lebenswelten, auf alltäglich erfahrene Abhängigkeiten. Diese zeigten sich in der unhinterfragten Nutzung der Arbeit, des Einkommens und des Körpers von Frauen, zementiert durch die ebenso formelle wie informelle Definitionsmacht männlicher Autoritäten. Diese alltäglichen Erfahrungen von Unterordnung und Ausbeutung waren nicht an Staatsgrenzen gebunden. Daher verstanden sich die widerständigen und aufbegehrenden jungen Frauen als Teil einer transnationalen sozialen Bewegung. Das grenzüberschreitende Mobilisierungspotenzial lag in der konkreten Forderung nach Abschaffung der Abtreibungsparagrafen im Strafrecht. Die Parole «freie Abtreibung» trieb von Frankreich über Deutschland bis Italien Frauen zu Tausenden auf die Strasse. Das Ziel dieser transnationalen, sich um die Abtreibungsfrage konstituierenden neuen Frauenbewegung war nicht die Integration in bestehende öffentlichrechtliche Strukturen politischen Handelns, sondern Autonomie: hierarchiefreie Räume des Denkens und Begehrens, die von keinen vorgegebenen Strukturen und Abhängigkeitsverhältnissen eingeschränkt würden.
Und: Das Stimmrecht war in diesem transnationalen Aufbruch von Frauen der späteren 1960er-Jahre kein Thema, sondern historische Reminiszenz – ausser in der Schweiz, präziser noch: der deutschen Schweiz. In den drei Westschweizer Kantonen Genf, Waadt und Neuenburg war das Stimmrecht schon seit Beginn der 1960er-Jahre Realität. Die Frauenstimmrechtsfrage hatte für das Mouvement de libération des femmes (MLF) keine Dringlichkeit mehr. Vielmehr sahen sie dessen Nutzen für die gesellschaftliche Umgestaltung als allzu beschränkt. «Das Frauenwahlrecht ist nicht genug» sprayte die Front des Bonnes Femmes am 7. Februar 1971 an Wände der Stadt Genf.36 Der Kampf um das Frauenstimm- und -wahlrecht sei passé, sagten auch die jungen Zürcher Feministinnen bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt im November 1968 im Schauspielhaus: «Auch wenn das Stimmrecht in einigen Jahren Realität sein wird, müssen wir erkennen, dass der Anspruch der Frauen auf Gleichberechtigung keineswegs erfüllt ist, dass damit nur eine formale Gleichstellung erreicht wird. […] Andere, direkte Kampfformen müssen gefunden und verwirklicht werden, die Aktionen müssen an den immer noch aktuellen Missständen im Leben der Frauen selbst ansetzen.»37 Es gehe um viel weiter reichende Forderungen, die das gesamte private, öffentliche, soziale und wirtschaftliche Leben tangierten, wie Ausbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, die «himmelschreiende» Lohnungleichheit, die zivilrechtliche Diskriminierung im Vermögens- und Eherecht, auch um antiautoritäre Kinderbetreuung. Die Transnationalität und die staatskritische Haltung der Bewegung waren zusammen mit der Orientierung an lebensweltlichen Erfahrungen und dem Föderalismus mit seinen ungleichen Tempi in der Rechtssetzung mit ein Grund für das geringe Interesse der neuen Feministinnen an nationalstaatlich definierten Gesetzesverfahren, ja dafür, dass sie sich sogar mit provokativen Aktionen darum foutierten und sich von der vereinsmässig organisierten Frauenbewegung distanzierten, nicht selten in ignoranter Überheblichkeit.
Zwei Faktoren erzeugten in der Schweiz allerdings die nicht zu unterschätzende spezifische Wirkung, dass sich die in Vereinsstrukturen organisierte Frauenbewegung und die neue, über informelle Arbeitsgruppen, Aktionen und Demonstrationen agierende Frauenbewegung nach Einführung des Frauenstimmrechts 1971 in der Schweiz immer wieder gegenseitig dynamisierten: zum einen die Wechselwirkung zwischen der im Verhältnis zu anderen westlichen Staaten späten Umsetzung der rechtlichen Gleichstellung im Gesetz, und der Mobilisierungseffekt direktdemokratischer Instrumente zum anderen. Dieser Dynamisierungsprozess erwies sich als spannender als die gegenseitige Abgrenzung oder das Sprechen von zwei «Wellen».38 Er barg viel kreatives Potenzial in sich und brachte die Pluralität der Positionen und deren Schnittstellen zum Ausdruck.39 Diese zeigten sich im Befreiungsdiskurs, in Fragen der gesetzlichen Liberalisierung der Abtreibung, der Schaffung feministischer Beratungsstellen und Institutionen zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen, der Verankerung der Gleichstellung und des Mutterschaftsschutzes in der Verfassung und in der positiven Wertung von Frauenbeziehungen. Doch obwohl die Diskussion um die Ratifizierung der EMRK Ende der 1960er-Jahre der Einführung des Frauenstimmrechts den notwendigen Schub verlieh, kam den Menschenrechten trotzdem lange ein geringes argumentatives Gewicht zu, bei den jüngeren Feministinnen noch weniger als bei der älteren Generation von Frauenrechtlerinnen.40