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Thema Abtreibung – auf der Strasse und im Parlament

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Mit den Parolen «Mein Bauch gehört mir» und «Kinder oder keine, entscheiden wir alleine» forderte die neue Frauenbewegung ultimativ, dass Abtreibung nicht mehr unter Strafe gestellt werde. Sie beanspruchte mit diesen Parolen auch die Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Kontroll- und Machtansprüchen, die von Männern repräsentiert und ausgeübt werden: von Richtern, Theologen oder Ärzten. Doch die Forderung nach «freier Abtreibung» war im Gegensatz zu anderen Ländern in der Schweiz nicht von der neuen Frauenbewegung lanciert worden. Die Initiative «für Straflosigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung» wurde im Dezember 1971 von einem fünfköpfigen Komitee von drei Männern und zwei Frauen – dank des Frauenstimmrechts war dies nun Frauen erstmals möglich – eingereicht. Drei Jahrzehnte sollte die dadurch ausgelöste Auseinandersetzung dauern.55 Es ging um die Streichung der Paragrafen 118 bis 121 des schweizerischen Strafrechts. Bei der Sammlung der Unterschriften engagierten sich neben Frauen und Männern unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Zugehörigkeit auch die zur Neuen Linken zählenden Progressiven Frauen Basel und Aktivistinnen der neuen Frauenbewegung, insbesondere aus den Reihen der FBB Zürich. Trotz ihrer Absetzung von institutionalisierten Wegen des Politisierens verstanden sie diese Initiative als Ausdruck der transnationalen Mobilisierung für «freie Abtreibung» und Selbstbestimmung. Dabei gingen sie in ihrer Argumentation und ihrem Forderungskatalog weit über den Rahmen der Initiative hinaus und verlangten die Übernahme der Kosten durch die Krankenkasse.

Die Initiative beschäftigte in starkem Masse auch die in Verbänden organisierte bürgerliche Frauenbewegung. So setzte sich die Kommission für Soziales des BSF mit dem Thema auseinander und berief kurz darauf eine Ad-hoc-Kommission mit mehrheitlich jüngeren Frauen ein, um die verschiedenen Möglichkeiten eines straffreichen Abbruchs zu erörtern.56 Ähnlich verfuhren andere Frauenverbände, um im Vernehmlassungsverfahren der Gesetzesvorlage des Bundesrats Stellung zu beziehen. Dieser hatte als Reaktion auf die Initiative verschiedene Möglichkeiten eines Abbruchs formuliert – von der medizinischen über die soziale Indikation bis zur Fristenlösung. Mit Ausnahme des SKF und dessen grundsätzlicher Opposition gegen die Abtreibung sprach sich die Mehrheit der Frauenverbände bei der Vernehmlassung 1973 für die Fristenlösung aus. Eine kleine Minderheit trat sogar für die von der Initiative verlangte Straffreiheit ein. Selbst der Evangelische Frauenbund (EFB) stellte sich gegen die Kriminalisierung des Abbruchs, doch nicht wie die jungen Feministinnen aus Gründen weiblicher Selbstbestimmung, sondern im Sinne einer «Notlösung», da bei der herrschenden Doppelmoral die Kriminalisierung einseitig die Frauen treffe. Nach Meinung des EFB mache die von der FBB als Mittel zur Selbstentfaltung angepriesene Pille auch nicht frei. Frauen falle es wegen der ihnen damit auferlegten Verantwortung für die Verhütung vielmehr oft noch schwerer, in sexuellen Beziehungsverhältnissen selbstbestimmendes Subjekt zu sein. Die Parole «Mein Bauch gehört mir» werde nur dann Realität, wenn jegliches ausbeuterisches Verhalten der Männer verboten sei.57 So sah sich der EFB wegen der Volksinitiative gezwungen, sich mit den Argumenten des neuen Feminismus auseinanderzusetzen. Trotz gänzlich unterschiedlichen Entstehungshintergrunds gab es gerade in Fragen von Doppelmoral und Verfügung über den Körper der Frauen gewisse argumentative Schnittstellen.58

Doch auf der Ebene der medienwirksamen Aktionen gab weiterhin die FBB den Ton an, die 1975, in dem von der UNO ausgerufenen Jahr der Frau, einen Höhepunkt erreichten. Im März ebendieses Jahres diskutierte das eidgenössische Parlament in Bern über die Gesetzesparagrafen zum Schwangerschaftsunterbruch, ein Anlass für die erste grosse Frauendemonstration der Schweiz zum 8. März auf dem Bundesplatz. Sie blieb weitgehend ohne Wirkung auf die parlamentarische Gesetzgebung, genauso wie die grosse Nationale Demonstration für die Legalisierung der Abtreibung mit mehreren Tausend Teilnehmerinnen am folgenden Wochenende in Zürich oder gar die Aktion von rund 15 FBB-Aktivistinnen im Oktober 1975 auf der Tribüne des Nationalratssaals. Sie pfiffen, skandierten «Abtriibig frei, Nationalröt gönd hei» und «Des enfants ou non, c’est nous qui décidons», entrollten ein Transparent, warfen gleichzeitig Flugblätter und nasse Windeln in den Saal.59 Die Debatte zum Schwangerschaftsabbruch wurde kurz unterbrochen. Doch das Parlament und der dafür zuständige CVP-Bundesrat Kurt Furgler blieben bei ihrer Ablehnung der ersatzlosen Streichung der Paragrafen 118 bis 121 aus dem Strafgesetz. Dennoch befürwortete eine bedeutende Zahl von Abgeordneten die als mögliche Gesetzesrevision vorgeschlagene Fristenlösung, die Straflosigkeit des Unterbruchs in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft, für die sich im selben Jahr der von den Frauenverbänden organisierte Frauenkongress im Berner Kursaal ausgesprochen hatte. Daher zog das fünfköpfige Komitee die von ihm lancierte Initiative für einen straflosen Schwangerschaftsabbruch zugunsten einer «Fristenlösungsinitiative» zurück. Diese erhielt die Unterstützung einer breiten Allianz von Frauenverbänden und Frauen bürgerlicher Parteien, allerdings nicht aus den Reihen der CVP mit Ausnahme der späteren Luzerner Nationalrätin Judith Stamm.60 Die katholischen Politikerinnen plädierten zusammen mit dem SKF für mehr Hilfe für Schwangere in prekären Verhältnissen und gründeten diesbezüglich einen spezifischen Fonds.61

Aktivistinnen der neuen Frauenbewegung reagierten ihrerseits heftig auf den Rückzug der Initiative zum straflosen Schwangerschaftsabbruch, der den Kampf um die gänzliche Selbstbestimmung in Sachen «Kinder oder keine» – ohne äussere Beschränkung oder Kontrolle – unterlaufe: «Nous ne supportons aucune instance au-dessus de nous. Ce n’est pas une loi qui nous fera gagner le libre contrôle de notre corps.»62 Während in der Romandie das MLF auch im Abstimmungsjahr 1977 noch lautstark gegen die Fristenlösung opponierte, unterstützten in der deutschen Schweiz, wenn auch mit Vorbehalt, zunehmend viele FBB-Frauen und die Mitglieder der in ebendiesem Jahr aus den POCH-Frauen herausgewachsenen Organisation für die Sache der Frau (OFRA) die Fristenlösung.63 So auch über den mit Unterstützung der Zürcher Infra produzierten Film «Lieber Herr Doktor» von Hans Stürm und dem Filmkollektiv, in dem unter anderem eine Abtreibung mit der damals neuen Absaugmethode vorkam.64 Dass die Fristenlösung als Kompromiss schliesslich wohl von der Mehrheit der Feministinnen Unterstützung erhielt oder zumindest an der Urne bejaht wurde, ist paradigmatisch für den Integrationsprozess der sozialen Bewegung ins schweizerische Politsystem.

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