Читать книгу An der Front und Hinter der Front - Au front et à l'arrière - Группа авторов - Страница 21
Globalisierung und Weltkriege
ОглавлениеDie Geschichte der Globalisierung im modernen Sinne war vor allem die Geschichte der europäischen Expansion. Sie nahm ihren Anfang, als Ende des 15. Jahrhunderts Vasco da Gama den Seeweg nach Indien fand und Christoph Kolumbus den Atlantik überquerte und dort eine für die Europäer neue Welt entdeckte. In den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten griffen europäische Entdecker, Abenteurer, Kaufleute, Soldaten, Eroberer und schliesslich auch Wissenschaftler immer weiter in die Welt aus und machten den Planeten europäischen Interessen zugänglich. Was sie dabei erreichten, war vor allem die Vernetzung von Völkern, Regionen, Zivilisationen, Wirtschaftsräumen und Kulturen. Menschen reisten wie nie zuvor im globalen Massstab. Wanderungsbewegungen, die in der älteren Steinzeit noch Jahrtausende gedauert hatten, benötigten nun nur noch Jahrzehnte. Mit dem technischen Fortschritt und dem Ausbau der Infrastrukturen beschleunigte sich dieser Prozess zunehmend. Die Welt wurde zum Spielfeld der Europäer, die aber gleichzeitig auch Nichteuropäer in diesen globalen Austauschprozess einbezogen – Letztere allerdings häufig unfreiwillig. So wurden bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts etwa zehn Millionen Menschen aus Afrika als Sklaven über den Atlantik verschifft.8
Überhaupt war die Geschichte der europäischen Expansion alles andere als ein friedlicher Vorgang. Ganze Völker und Kulturen fielen den Eroberern zum Opfer. Andere wurden unterjocht, versklavt und ausgebeutet, wobei es allerdings auch durchaus Profiteure unter den Einheimischen gab. Eroberungen und Zerstörungen waren jedoch keineswegs alles. Es entstand ein weltweites Wirtschaftsnetz, das immer enger verknüpft wurde. Signifikant und langfristig von grösster Bedeutung war die Ansiedlung von Europäern in Gebieten ausserhalb des eigenen Kontinents. All dies wurde durch die Revolution des Transport- und Kommunikationswesens im 19. Jahrhundert rasant beschleunigt. Jetzt erst kam es zu Massenauswanderungen aus Europa nach Nord- und Südamerika, Südafrika, Australien, Neuseeland, Sibirien, Zentralasien und anderen Regionen. Dadurch entwickelte sich jene europäisierte Welt auf anderen Kontinenten, die den Gang der Geschichte fortan entscheidend beeinflussen sollte.9 Gleichzeitig wurden im illegalen Sklavenhandel noch einmal drei Millionen Menschen aus Afrika nach Amerika verschleppt.10 Überhaupt nahm der Prozess der Globalisierung erst im 19. Jahrhundert so richtig Fahrt auf.11 Damit entstand jene Welt, die 1914 in Flammen aufging.
Die europäische Expansion war in weiten Teilen ein gewaltsamer Prozess. Kriege gegen aussereuropäische Gruppen, Völker und Staaten kamen immer wieder vor. Dabei wurden Kolonien und imperialistische Einflusszonen errichtet. Dies wiederum führte zu immer neuen Konflikten zwischen europäischen Mächten in Übersee. Zahlreiche Kriege zwischen Europäern und ihren indigenen Verbündeten ausserhalb Europas waren die Folge. Spanier, Portugiesen, Franzosen, Briten, Niederländer und andere Europäer bekämpften sich in fernen Gefilden. Derartige Kämpfe griffen auch auf Europa über oder gingen von europäischen Konflikten aus. Dabei entwickelte sich potentiell die Gefahr einer ganz neuen Art von Kriegen: Weltkriege. Kriege in Europa und Aussereuropa, insbesondere aber auch regionale Konflikte ausserhalb des europäischen Kontinents konnten zu einem einzigen globalen Krieg vernetzt werden. Seit dem 16. Jahrhundert führten europäische Mächte wiederholt mehrere globale Kriege gegeneinander. Der Siebenjährige Krieg Mitte des 18. Jahrhunderts demonstrierte dann die Möglichkeit eines Weltkriegs, der auf mehreren Kontinenten unter Einbeziehung aller Grossmächte und auch in Europa geführt wurde.12
Ob dieser Krieg bereits wirklich ein Weltkrieg war, darüber kann man füglich streiten. Doch um einen solchen Streit zu führen, muss man sich erst einmal über die Frage einigen, was wir eigentlich unter einem Weltkrieg verstehen. Die Geschichtswissenschaft hat hier ein grundsätzliches Problem. Klare Begriffsdefinitionen sind nämlich in diesem Fach weitgehend unmöglich. Friedrich Nietzsche hat diesbezüglich treffend geäussert: «[…] definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.»13 Es macht daher Sinn, die Elemente eines Weltkriegs zu bestimmen, statt nach einfachen Definitionen zu suchen. Weltkriege wären demnach globale militärische Auseinandersetzungen, die regionale Konflikte in einen einzigen Krieg vernetzen. Sie ziehen direkt oder indirekt den grössten Teil der Welt in den allgemeinen Krieg hinein. Da aber Europa das Zentrum des Globalisierungsprozesses bildete, war es ein allgemeiner Krieg auf dem europäischen Kontinent, der die Voraussetzung für einen Weltkrieg darstellte. Andererseits spielte die aktive Beteiligung aussereuropäischer Kräfte eine zentrale Rolle bei der Herausbildung von Weltkriegen. Dies geschah auf zwei Ebenen, nämlich einerseits durch die Intervention von souveränen nichteuropäischen Staaten und andererseits durch die Mobilisierung von Gesellschaften ausserhalb Europas für die Kriegsanstrengungen. Entscheidend aber war die Vernetzung von Kriegen innerhalb und ausserhalb Europas. Um ein Beispiel zu geben: Der japanische Überfall auf Pearl Harbor im Dezember 1941 vernetzte den seit 1937 in Ostasien tobenden Krieg mit dem Krieg in Europa seit 1939. Durch den erzwungenen Kriegseintritt der USA wurde der Zweite Weltkrieg endgültig zum Weltkrieg.14
So gesehen waren es die Kriege im Gefolge der Französischen Revolution, die den ersten wirklichen Weltkrieg der Geschichte darstellten. Spätestens mit General Napoleon Bonapartes Invasion Ägyptens brach ein Weltkrieg aus, in dem auch nichteuropäische Mächte eine wesentliche Rolle spielten. Das Osmanische Reich griff in den Krieg ein. Die indischen Mächte wurden in den Krieg hineingezogen. Schliesslich geriet ganz Europa in Brand. Aber es wurde auch auf allen Weltmeeren gekämpft, in der Karibik, Nord- und Südamerika, im Nahen Osten, in Teilen Afrikas, in Süd- und Südostasien. Persien und schliesslich sogar die USA beteiligten sich an diesem Krieg. In Washington D. C. wurden das Weisse Haus und das Kapitol von britischen Soldaten niedergebrannt. Die Shawnee-Indianer im Mittleren Westen kämpften einen Verzweiflungskrieg mit britischer Hilfe gegen den Expansionismus der USA, den sie verloren. Am Ende wurde die Welt neu geordnet und die Vorherrschaft Europas beziehungsweise der europäischen Abkömmlinge zementiert.15
Es war die europäische Expansion, der von Europa aus initiierte Prozess der Globalisierung, der Weltkriege ermöglichte und als Ergebnis der machiavellistischen Mächterivalitäten auch irgendwie unausweichlich machte. Weltkriege erwiesen sich als der teure und katastrophale Preis für die europäische Expansion.