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Kulturkritische Psychoanalyse und »Aufhebung der fremden Macht in innerste eigene Autorität«

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Perls wird unweigerlich im Kontext des Mynonakreises mit den Ansichten von zwei Personen in Kontakt gekommen sein, in denen sich zentrale Positionen der damaligen Kultur-Avantgarde bündelten, die auch in der Gestalttherapie weiterleben. Dies betrifft in Bezug auf die hier behandelte Zeit in erster Linie Raoul Hausmann, »Dadasoph« und Polaritätstheoretiker, der auch eine persönliche und inhaltliche Verbindung zwischen Mynona und dem anarchistischen Psychoanalytiker Otto Gross darstellte. Dieser wiederum gab mit seiner kulturrevolutionären Anti-Introjektionstheorie der Selbst- und Welterfahrung der betroffenen sozialen Gruppe einen psychologischen Ausdruck.

Die Verbindung zwischen Friedlaender und Gross wird indirekt gewesen sein. Beide haben bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Franz Pfemferts wichtiger Avantgardezeitschrift »Die Aktion« publiziert. Die Verbindung zwischen Friedlaender und Hausmann war hingegen direkt. Hanne Bergius berichtete, dass die Berliner Dadaisten Raoul Hausmann und Johannes Baader ein »intensiveres Verhältnis« zu Friedlaender hatten und bereits 1915 mit ihm eine »vordadaistische Truppe« bildeten, die die Zeitschrift »Erde 1915« herausgeben wollte (vgl. Bergius 1993, 231). Hannah Höch, die die Geliebte des verheirateten Hausmann in diesen Jahren war, hatte eine freundschaftliche Beziehung zu Friedlaender, der ihr manchmal »um ein Viertelernst gemeinte Liebesbriefe« (Höch in Bergius 1993, 236) schrieb, während sie selber Porträtzeichnungen von Friedlaender anfertigte und Titel seiner Grotesken in ihre Collagen und Montagearbeiten einbaute (vgl. ebd.). Höch, deren wunderschöne Arbeiten im Internet angeschaut werden können, sowie Hausmann und Friedlaender haben im Februar 1921 auf einer gemeinsamen Dada-Manifestation Grotesken vorgelesen und vorgetragen (vgl. Bergius ebd., 239).

Ich gehe davon aus, dass Perls als Teil der »Mynonagemeinde« die Grundgedanken Hausmanns kannte oder Diskussionen zwischen den beiden mitbekommen hat. Hannah Höch hat ja berichtet, wie anregend sie die Diskussionen zwischen Friedlaender und Baader und Hausmann fand und Jahrzehnte später noch im Gespräch mit Hanne Bergius erwähnt, dass es Gedankengänge waren, »bei denen das Gehirn knackte« (Höch in Bergius 1993, 133).

In Hausmanns »Pamphlet gegen die Weimarische Lebensauffassung« ist zu lesen:

»Der Club Dada war die Fronde gegen den ›geistigen Arbeiten‹, gegen den ›intellektuellen‹! Der Dadaist ist gegen den Humanismus, gegen die historische Bildung! Er ist: Für das eigene Erleben!!!« (Hausmann in Schuhmann 1991, 249)

Hier ist das Programm des »Dadasophen« Hausmann auf einen Nenner gebracht. Perls hat nach vielen Jahren ernsthafter Mühe, ein »geistiger Arbeiter« innerhalb der organisierten freudianischen Psychoanalyse zu werden, ernüchtert diese Position eingenommen. Er hat sie dann radikal und persönlich verkörpert, bis in alle Einseitigkeit und Missverständlichkeit hinein. Er hat Intellektualisieren und Theoretisieren oft als ein Ausweichen vor den Fakten der augenblicklichen Lebens- und Beziehungsrealität erkannt oder begriffen und andere auf unfreundliche und oft auch auf verletzende Art und Weise konfrontiert. Perls wusste aus eigener Erfahrung, was die reduzierte Sprachpersönlichkeit entbehrt. Er hat sich selbst in Bezug auf seine psychoanalytische Zeit als »Wisdomshitter« bezeichnet, was wohl die Amerikanisierung des im Deutschen gebräuchlichen Wortes ›Klugscheißer‹ ist (vgl. Perls 1993, 6).

Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren für die jungen Rebellen nicht die Zeit der Mitte, nicht die Zeit der Synthese und Integration, auch wenn diese Themen, mit Bezugnahme auf Mynonas Konzept der schöpferischen Indifferenz, in der Diskussion präsent waren. Für Raoul Hausmann war »die Gegenläufigkeit (Ambivalenz, Polarität, Dialektik) … das Primäre« (Hausmann 1982b, 172). Es ging ihm darum, »die ungelösten Widersprüche ›zu bejahen‹, d. h. aufzudecken, zu benennen, zu zitieren, sie aufeinanderprallen zu lassen« (Bergius 1993, 237). Im neuartigen Konzept der künstlerischen Fotomontage, als deren Pioniere Raoul Hausmann, Hannah Höch und der »Monteurdada« John Heartfield gelten, wird diese Haltung sinnlich präsent (vgl. ebd., 236). In der Montage wird Realität polar vorgeführt. »Der Entstehungsprozess – das Zerschneiden, Trennen, Teilen eines bestehenden Ganzen, und dann das Montieren der Teile zu einem beliebigen Ganzen in all seinen Widersprüchen«(Nobs in Desch et al. 1991, 194) – ist ein sinnlicher Akt, der die Brüchigkeit der Realität auch im künstlerischen Akt selber erfahrbar macht.

Erst gegen Ende der Dadaphase orientierte sich Hausmann stärker an den konstruktiven und synthetischen Möglichkeiten und forderte »in der mitteleuropäischen Flachheit endlich den Aspekt einer Welt die real ist, eine Synthese des Geistes und der Materie« (Hausmann 1982b, 25), wobei er sich auf Mynonas Begriff »Présentismus« (ebd., 24) bezog. Das Konzept des Présentismus war bei Hausmann verbunden mit seiner Forderung nach der »Erweiterung und Eroberung all unserer Sinne! (ebd. b., 28). […] Damit uns bewusst sei, dass wir leben, heute leben!!« (ebd., 26 f.). Damit wurde nach Erlhoff dem Künstler die politische Funktion zugeschrieben,

»die Menschen zu enttäuschen, ihnen selber dadurch die präzise Wahrnehmung ihrer Realität zu ermöglichen und gleichsam darauffolgend sie in die Lage zu versetzen, ihren Wahrnehmungsapparat zu verbessern, ihre Sinne (Hausmann nahm das ganz physiologisch) zu qualifizieren, so dass sie sich und die Gegenstände wirklich in die Hand hätten bekommen können« (Erlhoff in Hausmann, 225).

Im Kampf gegen die aufgeblasene deutsche Geistigkeit, gegen »die bürgerliche Geschichte des Kopfes« (ebd., 230) bestand Hausmann auf dem sinnlichkonkreten Menschen. Er kämpfte, und das scheint mir als Bestandteil des Gestaltansatzes heute noch wichtig, gegen »die Idealität der Ware, die Vorstellungswelt der Performanz der Ware und deren Schein […]. Die Dinge sollten für die Menschen wieder handhabbar sein, auch transparent, deutlich, einfach – eben wahrnehmbar und begreifbar« (Erlhoff, 231). Was Erlhoff hier als Anliegen Hausmanns benennt, das nannte Perls später: »Lose your mind and come to your senses.« Durch die Ausdrucksexperimente Hausmanns und anderer Dadaisten, etwa mit Lautgedichten, sollten erstarrte bürgerliche Haltungen aufgelöst und die Sinnesempfindungen zurück gewonnen werden. In den inhaltlich sinnlosen Lautgedichten kann man durchaus das expressionistische »Verlöschen des Inhalts zu Gunsten der Expression« (Benn in Korte 1994, 21) erkennen, denn den Expressionisten wie den Dadaisten ging es um die Rückbindung der Kunst an die »Urkräfte des Lebens« (Hausmann). Diese Haltung kennzeichnete auch das Verhältnis von Perls und Goodman zum Phänomen Sprache (vgl. Bocian 2000, 52 f.). Bei ihnen geht es gegen die isolierte Sprachpersönlichkeit, gegen Sprechen als Vermeiden von Fühlen und gegen Intellektualisieren als Abwehr. Bewirkt werden soll eine »Reorganisation des Denkens« (Perls 1991, 229), damit der Mensch wieder zu Sinnen kommt, anstatt nur in Kontakt mit seinen Projektionen, Übertragungen und Maya zu sein. Im besten Falle kommt der Mensch »wieder zu Sinnen, indem er seine Vernunft anwendet« (ebd., 54), die nun eine ganzheitliche, eine sinnliche Vernunft ist. Der alte Perls hat manche seiner Workshopteilnehmer – oft akademische Lehrkräfte mit langjähriger Erfahrung auf der Couch eines freudianischen Psychoanalytikers (vgl. Gaines 1979) – aufgefordert, ihr Sprechen und Fragen zu unterbrechen und inhaltlich sinnlos loszubrabbeln. Dies waren dadaistische Lautexperimente, die die habituellen Sprech- und Denkgewohnheiten aufbrechen und den sprachlichen Ausdruck wieder mit der persönlich-leiblichen Erfahrung verbinden sollten.

Perls ist mit den Dadaisten vor dem Hintergrund der gemeinsamen Krisenerfahrung auch noch auf einer tieferen Ebene verbunden. Huelsenbeck hat betont, dass »Dada seine tiefste Verzweiflung lebte, sie in der Kunst ausdrückte und in dieser schöpferischen Teilnahme seine eigene Therapie in sich selbst fand« (Huelsenbeck 1994, 224). Dies gilt meiner Ansicht nach auch für Perls und seine persönliche Form der Gestalttherapie. Bis an sein Lebensende hat er immer wieder davor gewarnt, in Schnelltherapien die Konfrontation mit Leid und Schmerz zu umgehen, und die Notwendigkeit betont, durch das »Höllentor des Seelensumpfes, diese äußersten Leiden, hindurchzugehen« (Perls 1986, 237).

Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie

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