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1. Die Bohème

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Friedlaender hat in Berlin in Künstlerkreisen gelebt, in der sogenannten Bohème, hergeleitet von der Bezeichnung »Zigeuner aus Böhmen«. Maler, Schriftsteller, Musiker, Schauspieler, Philosophen, Querdenker bildeten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine lebendig-kreative Szene unbürgerlicher Existenzen, eine experimentierfreudig-freigeistige gesellschaftliche Avantgarde (Bocian 2007, 134 ff.). Friedlaender selbst hat sie so beschrieben: »Zigeuner des Geistes – eine Fülle abenteuerlich mit dem Leben experimentierender Männer und Frauen, berühmter, obskurer, ruhmwürdiger.« (M 1965, 227) Und er fühlt sich in dieser abenteuerlich bunten Melange wohl, die sich in Ateliers traf und in Cafés, wie dem »Café des Westens«, im Volksmund »Café Größenwahn« genannt, vornehmlich zu fortgeschrittener Stunde. »Ich habe nämlich niemals in den Tag, sondern immer mal wieder tief in die Nacht hineingelebt. Vereinsmeier war ich nie, gehöre aber jetzt dem Verein ehemaliger Eunuchen […] an. Denn stets wohnten (mindestens) zwei Brüste in meiner Seele.«1 So ironisiert er seinen ausgeprägten Hang zu amourösen Abenteuern, typisch nicht nur für ihn, sondern für die Bohème insgesamt.

In akademisch-universitären Kreisen bewegt sich Friedlaender kaum. Und bei den professoralen akademischen Philosophen stößt er auch auf fast keine Resonanz, bis auf wenige Ausnahmen wie z. B. Georg Simmel. Er bezeichnet die Mitglieder des akademisch-universitären Bildungsmilieus mit dem ihm eigenen Sprachwitz als die »Akadämlichen« (GS 1, 79). Ihm war das »akadämliche« Geistesmilieu wohl schlicht zu langweilig. Der spezifisch freigeistige Esprit der Bohème lag ihm da weit mehr. Hier fühlte er sich inspiriert und geistig herausgefordert. Er hat das konsequent gelebt mit all den Problemen einer finanziell ungesicherten Existenz und der fehlenden Anerkennung von Seiten der etablierten Philosophenzunft der Universitäten.

Dieser Bohème-Aspekt spricht mich bei Friedlaender besonders an. Ich wollte anfänglich einmal Kunst studieren, da ich für das Bildnerische ein gewisses Talent habe. Als mich die Kunstakademie ablehnte, überlegte ich kurze Zeit, Diktator zu werden, entschied mich aber dann doch für ein Studium der Philosophie und Kunstgeschichte und wechselte dann nach zwei Semestern zur evangelischen Theologie. Mein Freundeskreis in Nürnberg und Umgebung besteht zu einem großen Teil aus Künstlern, aus Malern und Musikern, Schriftstellern, aus unbürgerlichen kreativen Menschen. Es ist eine Art fränkischer Bohème. Von meinem Beruf her müsste ich mich wohl eher im kirchlichen und akademischen Milieu bewegen, unter Studierten, unter Theologen, Psychologen, Medizinern usw. Aber mir geht es da wie Friedlaender, mir ist das meist zu langweilig, zu unlebendig, auch wenn es dort natürlich auch sehr interessante Menschen gibt. Unter dem Titel »Ein munteres Völkchen« habe ich für einen Ausstellungskatalog meiner fränkischen Künstlerszene einen Text geschrieben, der sie aus sozial-psychologischer Perspektive in den Blick nimmt:

»Jedes Volk braucht ein Völkchen. Das Volk der Normal-Bürger braucht die unangepassten Kreativen, die Künstler. Die ›Normalen‹ brauchen die ›Ver-rückten‹, die zeigen, dass es möglich ist, kreativ anders ›ver-rückt‹ zu sein, nicht im Sinne von psychischer Krankheit. Damit das Leben nicht ganz zuwächst mit Konvention, Tradition, Bürokratie und Sicherheit, kurz mit Ordnung. In einer Gesellschaft, die rational überorganisiert verzweckt ist, fixiert auf den in Geld zählbaren Erfolg, ist es wichtig, dass es Gruppen gibt, die sich diesem Diktat nicht beugen. Sie sind so etwas wie das Salz in der gesellschaftlichen Suppe, die sonst wohl ziemlich fade schmecken würde.« (Frambach 2010, 13)

Eines möchte ich noch erwähnen, nämlich dass die Künstlerszene durchaus für soziale und karitative Belange offen und zu engagieren ist, z. B. für Benefiz-Konzerte oder -bildversteigerungen, nach meiner Erfahrung weitaus mehr als der finanziell abgesicherte Normalbürger. Man sollte nicht in eine Idealisierung zu verfallen, denn es gibt auch hier genug menschliche Unzulänglichkeiten, wie ein nicht seltener narzisstischer Hang zur Selbstdarstellung. Doch stellt das Bohème-Milieu, das keineswegs nur aus Künstlern, sondern querbeet auch aus Sozialpädagogen, Gast- und Landwirten, Lehrern, Theologen, Unternehmern usw. besteht, eine sehr anregende Mischung aus kreativem Individualismus und freier Gemeinschaftsbildung dar. Und die meisten dieser freigeistigen Menschen sind an philosophischen und religiösen Fragen ausgesprochen interessiert, wenn sie nicht autoritär dogmatisch beantwortet werden. Das mögen sie gar nicht.

»1922 – Neuer Anfang. Sehr aufregend. Wir! Ich vergrößere die familienlose Welt. Wir: Bohemiens, abseits des Weges. Schauspieler, Maler, Schriftsteller. Schaffen eine neue Welt. Bauhaus, Brücke, Dadaismus, neue Realitätsbewegung. Entdecke einen Guru: S. Friedlaender (erstes Kapitel) ›Schöpferische Indifferenz‹. Entdecke den Nullpunkt als Zentrum des Nichts, das sich in Gegensätze ausdehnt. Zum ersten Mal eine solide Position. Taste mich durch. Und weniger verwirrt.« (Perls 1998, 116)2

Ganz offensichtlich, Perls identifiziert sich mit der Berliner Bohème. »Wir!« Er sieht sich als Teil, als Mitglied dieser kreativen Szene. Und er ist davon ausgesprochen inspiriert, angeregt, ja aufgeregt. Hier wird die künstlerische Seite seines Charakters angesprochen, die er als Maler, Zeichner, Karikaturist, Schauspieler, Schriftsteller etc. etwas ausgelebt hat und die eine grundlegende Bedeutung für sein Verständnis von Therapie hat.

Die Bohème, diese ausgesprochen kreative Mischung aus Kunst, Literatur, Humor, Philosophie, Politik, Gesellschaftskritik, Wissenschaft, Utopie usw., ist ein wesentlicher geistiger Quellgrund der Gestalttherapie. Perls suchte später wieder nach einem solchen Milieu und fand etwas Ähnliches in New York um Paul Goodman und in der sogenannten »counter culture« (Frambach 2010, 35).

Dieses bunte, kulturell vielgestaltige Milieu ist charakteristisch für die Gestalttherapie von ihrer Entstehung her und zum großen Teil noch heute für ihr Erscheinungsbild. Dieser Ansatz hat eine ausgeprägte Affinität zur Kunst und steht in einer schöpferischen Wechselbeziehung zu ihr (Spagnuolo Lobb / Amendt-Lyon 2006). Aber das enthebt natürlich nicht der Aufgabe einer wissenschaftlichen, insbesondere klinischen Fundierung.

Das kreative Bohème-Milieu war ausgesprochen individualistisch und gegen bürgerliche Normen gerichtet. Zur geistig-psychischen Gesundheit bedarf es auch einer mehr oder weniger ausgeprägt nonkonformen Individualität. Aber das kann auch übertrieben werden und den Gemeinschaftssinn, das Soziale, zu sehr in den Hintergrund treten lassen. Friedlaender/Mynona hat das hellsichtig gesehen: »Wir brauchen […] einen autonomen Individualismus mit sozialer Konsequenz. Eher wird es nicht gut.« (F 1982, 44)3 Der Einzelne und die Gemeinschaft, eine Polarität, die in lebendiger Balance gehalten werden muss.

Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie

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