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3. Die Mystik

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Dieser Punkt ist mir bei Weitem der wichtigste. Und darum ist er auch bei Weitem umfangreicher als die ersten beiden Aspekte.

Schon vor meinem Studium der Theologie habe ich mich für Mystik interessiert. Für christliche Mystik und Kontemplation, die Praxis der Mystik, aber auch für Mystik in anderen Religionen, insbesondere den Zen-Buddhismus. Hugo Enomiya-Lassalle (1898–1990), der Pionier des Zen im christlichen Raum, war mein wichtigster Lehrer der meditativen Praxis, aber ich beschäftigte mich auch mit der Philosophie des Zen, z. B. der Kyoto-Schule von Nishida und seinen Nachfolgern. Auf die Gestalttherapie stieß ich dann gegen Ende der Siebziger-Jahre. Zuerst machte ich eine Ausbildung beim Nürnberger Arbeitskreis für Gestalttherapie, dem heutigen Symbolon-Institut, später am Fritz-Perls-Institut. An der Gestalttherapie hat mich der erfahrungsbezogene, experimentelle Charakter angezogen, speziell die Betonung der »Awareness«, der in der Leiblichkeit gegründeten Bewusstheit im Hier-und-Jetzt. Das waren Aspekte, die ich auch von christlicher Mystik und Zen her kannte. Aber insgesamt hatte mich meine geistige Suche eher intuitiv als reflektiert zu Mystik, Zen und Gestalttherapie geführt. Nun wollte ich tiefer und bewusster verstehen, was diese drei Bereiche verband, das prinzipiell Gemeinsame. Nach jahrelanger intensiver, wenn auch nicht sehr systematischer Auseinandersetzung in Praxis und Theorie erschloss sich mir im Sommer 1986 ein neues vertieftes Verständnis. Struktur und Dynamik des Prozesses, der diesen drei Bereichen gemeinsam ist, wenn auch auf verschiedene Inhalte bezogen, wurden mir bewusst in einer spontanen Einsichtserfahrung, die mich auch emotional tief bewegte. (Von wegen Denken im Sinne einer intensiven geistigen Suche hat nichts mit Gefühlen zu tun!) Ich habe das in meiner Dissertation ausgearbeitet, die 1994 leicht verändert unter dem Titel »Identität und Befreiung in Gestalttherapie, Zen und christlicher Spiritualität« erschienen ist. Entscheidend für dieses Prozessverständnis war für mich Friedlaenders Philosophie schöpferischer Indifferenz und polarer Differenzierung. Dadurch konnte ich nicht nur das von Perls unklar beschriebene »Fünf-Schichten-Modell« der Neurose als Phasen von Fixierung, Differenzierung, Diffusion, Vakuum und Integration stimmig interpretieren, sondern auch den existenziellen Prozess im Zen und der christlichen Mystik.

Friedlaender ist für mich ein philosophischer Mystiker. Darum ist seine Philosophie auch in religiöser Hinsicht relevant. Er ist kein religiöser Mystiker, in keiner Weise einer bestimmten Religion zuzuordnen, auch nicht der jüdischen. Er ist ein religiös unabhängiger Freigeist und sieht sich nur der philosophisch stimmigen Erkenntnis verbunden. In hinduistischen Kategorien würde man ihn dem Jnana-Yoga zuordnen, dem Weg zur Befreiung durch Wissen und Erkenntnis. Mystik ist nicht nur als ein religiöses Phänomen zu verstehen. Hilarion Petzold (1983) spricht im Rahmen seines umfassenden Ansatzes der sogenannten Integrativen Therapie von »Säkularer Mystik«. Mystik ist ein allgemeinmenschliches, kultur- und religionsübergreifendes Phänomen und nicht nur auf die Sphäre des Religiösen beschränkt.

Das Verhältnis des Absoluten zum Relativen, der Transzendenz zur Immanenz oder, theistisch-religiös ausgedrückt, von Gott zur Welt, das ist nach meinem Verstehen das zentrale Thema von Friedlaender, das er in seiner ureigenen Terminologie ausdrückt. Und damit ist er nah an mystisch-religiösen Einsichten, wie z. B. von Meister Eckhart (um 1260–1328), den er sehr schätzt: »Eckehardt entzückt mich, er ist der göttliche Freigeist fast schon im allerreinsten Sinne.« (F/K 1986, 35) Am Beispiel einer für Eckharts Gottesverständnis zentralen Aussage möchte ich verdeutlichen, wie relevant Friedlaender für den Bereich der Mystik ist. Eckhart schreibt: »Gott aber unterscheidet sich durch seine Ununterschiedenheit, seine Unendlichkeit, von allem Geschaffenen, Unterschiedenen, Endlichen …«5

Gott unterscheidet sich durch Ununterschiedenheit. Das trifft sich mit den grundlegenden Einsichten von Friedlaender.

»Das allerallgemeinste Merkmal aller möglichen Phänomene ist der Unterschied, die Differenz.« (GS 10, 98) Damit ein Phänomen existent und wahrnehmbar sein kann, muss es im Gegensatz zu etwas Anderem stehen, sich von etwas Anderem unterscheiden, different sein. Das grundlegendste Gestaltungsprinzip, das die Differenz der Phänomene strukturiert, ist die Polarität, der Urgegensatz, der Urunterschied. »Auch die allerkomplizierteste Relativität lässt sich in korrelative Paare auflösen.« (GS 10, 155)

Geht man der relativen Wirklichkeit konsequent auf den Grund, so lässt sie sich auf polare Verhältnisse zurückführen wie plus und minus, ein und aus, groß und klein, hoch und tief, nah und fern, abstoßen und anziehen, geben und empfangen usw. »Polarität ist der Ariadnefaden im Labyrinthe der Welt.« (GS 10, 432) Pole sind nach Friedlaenders Definition exakt entgegengesetzt wie plus und minus, sie sind »oppositiv (spiegelhaft) homogen« (GS 10, 135), sie sind identisch, aber mit umgekehrtem Vorzeichen. Polarität ist nicht nur eine philosophische Theorie, die eine interessante Geschichte und Interpretation hat (Thiel 2012, 27 ff.), sondern wissenschaftlich in allen Wissensgebieten nachzuweisen (Höhl/Kessler 1974; Köhne 1981, 1983), wie z. B. in der Quantenphysik (Welle-Teilchen-Dualismus; Komplementaritätsprinzip, Nils Bohr) oder der Struktur der DNA mit 64 polaren Kombinationsmöglichkeiten. Aber Friedlaenders philosophischer Blick richtet sich vor allem auf die Mitte der Polaritäten, auf deren Indifferenz:

»Seit Alters her hat man beim Polarisieren mehr auf die Pole als auf deren Indifferenz geachtet. In dieser aber steckt das eigentliche Geheimnis, der schöpferische Wille, der Polarisierende selber, der objektiv eben gar nichts ist. Ohne ihn aber gäbe es keine Welt.« (GS 10, 436)

Diese Indifferenz ist die schöpferische Zentraldimension der Wirklichkeit, genauer die »Immension aller Dimension« (GS 10, 440), die Friedlaenders Denken in immer neuer Variation unermüdlich umkreist. Das prinzipielle Problem dabei ist, dass es sich eben um nichts Differenziertes, Unterscheidbares handelt, das darum negativ als Nichts missverstanden wird: »Es herrscht ein Lebens- und Denkfehler: man verwechselt das Nichts von plus und minus mit dem minus.« (GS 10, 133). Die »monströse Überschätzung des Differenzierten« (GS 10, 120) führt zum Ignorieren der indifferent-zentralen Wirklichkeit, dessen, was wirklich wirkt:

»Grade das Nichts des Unterschieds ist dessen Schöpfer, die Realität der Realitäten, verglichen mit welche Unterschiede bereits subaltern sind, späte Sinnenfälligkeit. Gerade das objektive Nichts ist das subjektive Herz der Welt.« (GS 10, 120)

Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie

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