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3.3.4 Die Mitte der Identität

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»Ins Lateinische übersetzt heißt Atom das Unteilbare, Individuum. Wenn wir dem Individuum, d.h. uns selbst, unserem Ich, auf den Grund gehen, kommen wir zur gleichen Weise der Grund-Erkenntnis wie bei Materie und Zeit. Als Individuum, als isolierte unteilbare Einheit gibt es uns nicht. Wenn wir mit der Identitätsfrage: »Wer bin ich?« radikal ins Zentrum unserer Existenz hineinfragen, dann wird unser vermeintlich individuelles Ich entlarvt als egozentrische Illusion. Es ist nicht selbständig, unabhängig für sich existierend, sondern durch polaren Gegensatz bedingt: Subjekt und Objekt, Ich und Du oder einfach Ich und Nicht-Ich. Es löst sich auf, wenn wir versuchen, ihm auf den Grund zu gehen, es aus seinen polaren Existenzbezügen zu lösen und als individuelle, isolierte Einheit zu betrachten. Die Illusion des individuellen Ich löst sich auf in den Grund, die Grund-Wirklichkeit. Der ununterscheidbare transdifferente Grund ist das einzig Unteilbare. Nur Gott ist ein Individuum, ein individuelles Ich. Meister Eckhart sagt es so:

»Ego, daz wort ich, ist nieman eigen

denne gote allein in siner einekeit!« (Pfeiffer 1924, 201)

So bezeichnet Friedlaender aus seiner philosophischen Perspektive die Menschen als »Dividuen« und nur die »schöpferische Indifferenz« als das Individuum, das ICH (GS10, 306 ff. »Das magische Ich« 2001).

Wenn wir mit unserem unterscheidenden intellektuellen Erkenntnisvermögen einem Phänomen, welcher Art auch immer, sei es Materie, Zeit, individuelles Ich, radikal auf den Grund gehen, dann erkennen wir letztlich immer das Gleiche, nämlich eben den Grund. Es bleibt kein letztes unterscheidbares Einzelphänomen übrig, sondern wir werden zur Ununterscheidbarkeit, zur Indifferenz der überpolaren, nicht-dualen Grund-Wirklichkeit geführt. Der undefinierbare Grund ist einerseits Ausdruck der Grenze des dualen unterscheidenden Erkennens, auf die wir stoßen, und damit Ausdruck der Verborgenheit der letzten Realität. Aber diese Erkenntnisgrenze birgt auch die Chance, in ein überpolares Erkennen und Verstehen transformiert zu werden, in dem sich uns die in-dividuelle, überpolare Grund-Wirklichkeit Gottes erschließt – in kontemplativer Schau. (Frambach 1994, 346)

Auch der Grund, der Kern, die Mitte unserer Identität erweist sich bei gründlichem Erforschen nicht als eine letzte individuelle Einheit, sondern wir stoßen zu einer Weite durch, die jenseits aller Gegensätze liegt. Das Individuum, auf das wir treffen, ist die Indifferenz vom Einzelnen im Gegensatz zum Vielen. Die persönliche Individualität des Einzelnen wird nicht ausgelöscht und aufgelöst in einem Einheitsbrei, sondern in und durch die Ununterschiedenheit, die Übergegensätzlichkeit von Einheit und Vielheit, transformiert.

Martin Küpper hat in seiner Studie zu Psychologie und Meditation im Hesychasmus (1983) diese Suche nach der Mitte der Identität in dieser frühen mystischen Tradition des Christentums treffend beschrieben:

»Gleichzeitig sucht der Geist seine Mitte, d.h. seine ursprüngliche Identität. Er hat diese nur in dem Punkt, von dem aus sein ganzes Sein sich entfaltet. Wenn er gegenüber dem Netz von Umweltbezügen die Freiheit des zusehenden Dabeiseins erlangt hat, wird ihm bewusst, dass er nicht in der Trägerschaft dieser Bezüge aufgeht und mit keiner Rolle des Daseins identisch ist. Er hat ein Leben, das von jenen verschieden ist, und eine Mitte, die jenseits ihrer Verknotung liegt. Indem der Geist sie sucht, sucht er gewissermaßen das Herz des Geistes … Er muss also, um seine Mitte zu finden, durch sich hindurch zu einem inneren Jenseits gelangen, das innerlicher ist als er selbst.« (Küpper, 1983, 338)

Dass man, um seine Mitte zu finden, »durch sich hindurch zu einem inneren Jenseits gelangen« muss, das innerlicher ist als man selbst, das ist nicht nur für den Hesychasmus gültig, sondern für jede radikale existentielle Suche nach dem Grund der Identität, sei sie religiös oder nicht.

Friedlaender beschreibt diesen Weg zum »inneren Jenseits« in seiner Terminologie als Indifferenzierung. Seine Intention ist damit zu einem befreienden Verstehen des Ich, des Selbst, zu führen, zur wahren Identität: »Man muss wissen, wer man ist.« (GS10, 172) Diese Transdifferenzierung des Inneren, des Subjekts, meint die »Evakuierung des Selbstes von Differenz« (ebd. 489), oder, anders ausgedrückt, die Entidentifikation von dem, mit dem man sich »pseudoidentifizierte« (ebd. 555). Wenn man sich in irgendeiner Weise noch mit etwas Differenziertem, Äußerlichem, wozu auch die eigenen Gefühle und Gedanken zählen, identifiziert, so verfehlt man sich, denn: »Indifferenz erst ist die nackte Seele. Die menschliche Seele, die psychischen Differenzen, stehen zu ihr in einem ähnlichen Verhältnis wie das Kleid zum Leib.« (ebd. 450)

Eine völlige Loslösung auch aus den subtilsten differenzierten Identifikationen ist not-wendig, um zur wirklichen eigenen Wesensmitte befreit zu werden, denn der »Gedanke Identität kann nicht intim genug erlebt werden« (ebd. 174). »Wer aber sein eigenes Inneres noch nicht neutralisiert hat, ist noch gar kein Wer.« (ebd. 509) »Erst das Selbst, worin aller Unterschied vernichtet ist, ist das echte Selbst.« (ebd. 210) In immer neuer Variation umkreist Friedlaenders Philosophieren diesen Zentralpunkt der eigenen Existenz wie auch alles anderen Existierenden, der sich in seiner Transzendenz letztlich dem differenzierten Begreifen entzieht. »Das gestaltende Selbst ist gestaltlos.« (ebd. 556), es ist mit unserem unterscheidenden Intellekt nicht erkennend wahrzunehmen. Das, was die wahre Person, das wahre, wirklich ungeteilte In-Dividuum, begründet, die schöpferische Wesensmitte des Selbst, übersteigt die Prinzipien unseres intellektuellen Erkennens. »Das eigene Herz, unser Innerstes, beruhigt sich nicht eher, als bis es alles in allem ist.« (ebd. 164) Wenn Friedlaender davon spricht, sich im Innersten mit der Indifferenz, dem Individuum, zu identifizieren, dann klingt das, zumal in christlich geprägten Ohren, sehr nach Hybris. Dem stelle ich zur Klärung ein bekanntes Zitat der »jüdisch/christlichen« Philosophin und Mystikerin Simone Weil (1909–1943) aus Schwerkraft und Gnade an die Seite: »Das Ich ist mir (und den andern) verborgen; es ist auf Seiten Gottes, es ist in Gott, es ist Gott. Hochmütig sein heißt vergessen, dass man Gott ist.«

Wie dieses Indifferenzieren, diese »Evakuierung des Selbstes von aller Differenz«, diese Entidentifikation von dem, mit dem man sich »pseudoidentifizierte« vonstatten gehen soll, davon schreibt Friedlaender fast nichts. Keine Anleitung, keine Methode, keine Praxis. Warum? Weil für ihn eben dieses Philosophieren an der Grenze des Denkbaren die Praxis ist. Er ist ein radikaler Denker, dieses Denken ist sein existenzieller Vollzug des Indifferenzierens. »Denke das Nichtdenken« ist ein Prinzip der meditativen Praxis des Zen. Und das macht Friedlaender auf seine Weise, ohne im Lotussitz auf dem Kissen zu sitzen.

Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie

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