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4. Friedlaender und die Gestalttherapie – Thesen

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Meine Überlegungen zur Bedeutung Friedlaenders für die Gestalttherapie werde ich hier in verdichteter Form als Thesen präsentieren. Ich habe sie in verschiedenen Publikationen ausführlich dargestellt, ausgehend von meinem Buch Identität und Befreiung (1994). Die Zusammenhänge, die ich hier thesenartig formuliere, können differenziert nachgelesen werden. Ich beziehe mich hier fast nur auf Fritz Perls, da die anderen Mitbegründer der Gestalttherapie, Paul Goodman und Lore/Laura Perls, nie explizit auf Friedlaender eingegangen sind.

1. Von seinem ersten Buch (1942) bis zu seinen letzten Veröffentlichungen hat Fritz Perls die Philosophie der schöpferischen Indifferenz von Salomo Friedlaender als eine Grundlage für sein Verständnis von Psychotherapie angesehen.

Die Einsichten seines »Gurus« Friedlaender hatten für Perls eine grundlegende Bedeutung, wie er an verschiedene Stellen prägnant formulierte. Prägnant, aber leider ist er nicht differenziert und ausführlich genug. Aber das hat er auch bei seinen anderen Quellen nicht getan!! Bei einer Darstellung der Gestalttherapie auf Friedlaender nicht einzugehen, in welcher Weise auch immer, ist historisch ignorant und fachlich unangemessen.

»Fritz Perls hat sich zu keinem Autor so vorbehaltlos bekannt wie zu Friedlaender. Diese Verehrung zog sich von Das Ich, der Hunger und die Aggression (1944) bis in die späten Jahre bruchlos durch. Sie betrifft ausschließlich das Werk Schöpferische Indifferenz.« (Blankertz/Doubrawa 2005, 76)

»Der vielleicht wichtigste Einfluss auf die Entwicklung der Gestalttherapie ist nebst Freud das Konzept der ›Schöpferischen Indifferenz‹, das philosophische Hauptwerk von Salomo Friedlaender.« (Bongers/Schulthess 2005, 14)

2. Die Grundstruktur von Friedlaenders Denken, nämlich polare Differenzierung und die Mitte der schöpferischen Indifferenz, findet sich bei Perls in etlichen Konzepten, wenn auch nicht explizit darauf Bezug genommen wird.

Die elementare Denkkonzeption Friedlaenders, Indifferenz und polare Differenzierung, kommt bei Perls in unterschiedlicher Wortgestalt zur Geltung wie z. B. Mitte, Zentrum, Nullpunkt, Nichts, Leere, Prä-Differenz, Gleichgewicht, Balance, Gegensätze, Pole, Polarisieren. »Der Polaritätsgedanke gehört zur Basis der Gestalttherapie.« (Hartmann-Kottek 2008, 141).Wenn man genauer hinsieht, lässt sich bei diesen Begriffen meist unschwer die Grundstruktur von Friedlaenders Philosophieren ausmachen, aber nicht in der angemessenen Deutlichkeit und mit explizitem Bezug. Hilarion Petzold schreibt in seiner Darstellung der Gestalttherapie (1984, 11):

»Bei Friedlaender findet Perls die Konzepte, die für die Entwicklung der Gestalttherapie entscheidend werden sollten. Als er später mit der Gestaltpsychologie in Kontakt kommt und mit der Organismus-Theorie von Kurt Goldstein, findet er dort eine Terminologie, die seiner Auffassung nach den Gedankengängen von Friedlaender entspricht: Das Konzept der Homöostase bzw. der organismischen Selbstregulation und das Figur/Hintergrund-Konzept. Der alleinige Rekurs auf diese Theorien, ohne den ideengeschichtlichen und philosophischen Hintergrund von Perls mitzusehen, führt aber zu einer Verkürzung (so Walter 1984). Gegenüber der funktionalen Betrachtungsweise der Gestaltpsychologie greift nämlich das Konzept des ›schöpferischen Ichs‹, das aus sich selber, aus seiner Lage undifferenzierter Innerlichkeit alle Differenzierungen in der objektiven Welt mitbewirkt, weiter.«

Das entspricht meiner Sicht dieser Zusammenhänge, die Perls wohl aber nicht wirklich reflektiert bewusst waren. Jedenfalls hat er das nicht explizit formuliert.

3. Das Vordergrund/Hintergrund-Konzept der Gestaltpsychologie wird von mir durch das Verständnis des Grundes ergänzt. Der Grund entspricht dabei der Schöpferischen Indifferenz bei Friedlaender.

»An dieser Stelle führe ich nun eine neue Unterscheidung ein. Sie wird normalerweise weder in der Gestalttheorie und -psychologie noch in der Gestalttherapie gemacht. Für das hier entwickelte Verständnis des Befreiungsprozesses der Identität – sowohl in der Gestalttherapie als auch im Zen und in der christlichen Spiritualität – ist sie von fundamentaler und entscheidender Bedeutung: Außer der Differenzierung in Vordergrund und Hintergrund muss noch der Grund erfasst werden, um die Dynamik des Gestalt-Prozesses ganz zu verstehen. Der Grund ist dabei als indifferent zu begreifen. Er entspricht dem, was Salomo Friedlaender als ›Schöpferische Indifferenz‹ bezeichnet.

Der als Gestalt oder Figur prägnante Vordergrund und der diffuse Hintergrund sind, entsprechend Friedlaenders philosophischer Erkenntnis, als polare Differenzierung zu verstehen. Indifferenz und polare Differenzierung als Grundkonzeption für das Verständnis des kreativen Prozesses der Wirklichkeit in der Philosophie von Salomo Friedlaender finden ihre Entsprechung im Verständnis von Grund und polarer Vordergrund/Hintergrund-Differenzierung im Gestalt-Ansatz.

Fritz Perls hat diese Entsprechung nie explizit formuliert und Grund und Indifferenz gleichgesetzt. Vorgeprägt durch Friedlaenders Philosophie hat ihn m. E. jedoch genau diese strukturelle Entsprechung am Gestalt-Ansatz fasziniert und angezogen, wenn er sich dessen auch nicht völlig reflektiert bewusst war.

Der Grund darf nicht mit dem Hintergrund verwechselt werden, wie das häufig in der Formulierung ›Figur/Grund‹ geschieht. Der Hintergrund ist diffus gegenüber dem prägnanten Vordergrund. Der Grund jedoch ist indifferent, er ist kein unterscheidbares Phänomen. Er ist das, was sich differenziert. Perls spricht, wie wir später sehen werden, in seinem Verständnis des Nichts der Implosionsschicht des Fünf-Schichten-Modells, das an, was unter dem Grund zu verstehen ist.« (Frambach 1994, 55)

Der Grund ist transdifferent. Er ist in der Differenzierung in Vordergrund und Hintergrund präsent in Überunterschiedenheit. Er ist das, was sich differenziert und damit als Phänomen existent wird.

4. Mit dem Grund als Entsprechung zur schöpferischen Indifferenz kann das von Fritz Perls mehrdeutig und unklar beschriebene »Fünf-Schichten-Modell« der Neurose als stimmiger Prozess verstanden werden.

Perls hat das »Fünf-Schichten-Modell« der Neurose an drei Stellen unterschiedlich und widersprüchlich beschrieben (1969, 145; 1974, 63/64; 1980, 101). Meine Interpretation beruht vor allem auf dem Bezug zu Friedlaenders Philosophie und dem Verständnis des transdifferenten Grundes. Dadurch wird eine stimmige Dynamik deutlich, die sich in den Phasen oder Stadien von Fixierung, Differenzierung, Diffusion, Vakuum und Integration ausdrückt. Im Vakuum wird die schöpferische Indifferenz oder der transdifferente Grund erfahren. Das ist der Punkt, auf den der Prozess, in einer unbegrenzten Variation von Intensität, Zeitdauer und Wiederholung, zuläuft, der Wendepunkt, der aber keineswegs in spektakulärer Weise erlebt werden muss, sondern oft erst im Nachhinein als solcher erkannt wird. Hier nun eine dichte Beschreibung dieses Prozesses. Ausführlicher und damit weniger Missverständnissen ausgesetzt kann das an anderer Stelle (Frambach 1994, 83–106) nachgelesen werden:

»Die ›Aufgesetzte Schicht‹ der Rollen und Spiele ist bei Perls die Ausgangssituation. Die neurotische Unfreiheit besteht prinzipiell in einer Fixierung auf bestimmte Aspekte der Identität, die den Vordergrund der Bewusstheit besetzt halten. Andere, aus welchen Gründen auch immer, nicht angenommene Aspekte der Persönlichkeit, werden mehr oder weniger permanent in den Schatten des Hintergrundes, hinter die Kulissen der Lebensbühne, verdrängt. In der ›Phobischen Schicht‹ werden diese vermiedenen Impulse, unterstützt durch die therapeutische Arbeit, zunehmend bewusster, und damit auch die Angst, die phobische Haltung, die zur Vermeidung führte und sie aufrecht erhält. Es wird eine Differenzierung vollzogen, die Bewusstheit wird differenzierter, da bislang ungelebte gegenpolige Seiten und Bedürfnisse der Psyche zumindest teil- und zeitweise die Möglichkeit haben, ins Erleben zu treten und Gestalt zu werden. Zum Beispiel tritt eine permanent in den Hintergrund gedrängte Aggression in den Vordergrund, der sonst durchgehend von einer aufgesetzten, gleichsam chronischen Freundlichkeit besetzt ist. Der Widerstreit der E-motion, der Heraus-bewegung und der zurückdrängenden Gegenbewegung der Angst, verdichtet sich weiter zu einer Diffusion, von Perls als ›Impasse‹ bezeichnet. In diesem Engpass, dieser Sackgasse oder Blockierung, hat sich die alte Struktur der bisherigen vordergründigen Identifikations-Fixierung in eine diffuse Verwirrung aufgelöst. Hält man in dieser beängstigenden Phase aus, dann tritt ein Vakuum ein, von Perls ›Schicht des Todes‹, ›Fruchtbare Leere‹ oder ›Implosion‹ genannt. Hier findet keine polare Differenzierung in Vorder- und Hintergrund statt, hier wird deren kreative Mitte erfahren, der Grund, das Nichts der schöpferischen Indifferenz. Nach einseitiger, schiefer Identifikation findet der Mensch wieder zum ›Mittleren Modus‹, aus dem heraus das Selbst frei und spontan gestaltet. Das geschieht dann auch umgehend in der Phase die Perls als ›Explosion‹ bezeichnet. Ein bislang hintergründiger psychischer Aspekt, wie z. B. Aggression oder Trauer, kann sich nun unbehindert im Vordergrund entfalten und dadurch eine ›unerledigte Situation‹, eine ›offene Gestalt‹ schließen. Es kommt zu einer Integration eines nicht angenommenen seelischen Aspektes, der zusammen mit seinem bereits zugelassenen psychischen Gegenpol als balancierende Polarität in den Verantwortungsbereich der Persönlichkeit integriert wird.

Die Stadien Fixierung, Differenzierung, Diffusion, Vakuum und Integration des ›Fünf-Schichten-Modells‹, die in einer unendlichen Variation individueller Intensität, Zeitdauer, Wiederholung usw. durchlebt werden, ergeben sich als stimmiger Prozessverlauf, wenn man Friedlaenders polare Indifferenz-Philosophie als strukturierendes Interpretament anwendet und insbesondere Vorder- und Hintergrund als polare Differenzierung versteht sowie den Grund als Indifferenz. Wenn Perls diese Zusammenhänge auch nicht explizit herausgearbeitet hat, so finden sich bei ihm doch deutliche Hinweise darauf:

›Die grundlegende Lehre der Gestalttherapie ist die der Wesensdifferenzierung und der Integration. Die Differenzierung als solche führt zu Polaritäten. Als Dualitäten werden diese Polaritäten leicht in Streit kommen und sich gegenseitig paralysieren. Indem wir gegensätzliche Züge integrieren, machen wir die Menschen wieder ganz und heil. Zum Beispiel Schwäche und tyrannisches Verhalten integrieren sich als ruhige Festigkeit.‹ (Perls 1980, 155)

Klar kommt hier Perls’ grundsätzlich polare Sicht psychischer Dynamik zum Ausdruck. Es geht ihm darum, Dualitäten, einseitige Identifikationen mit eigentlich gleichwertigen psychischen Polen, zu ausgewogenen Polaritäten zu integrieren. In seinem Beispiel dreht es sich um die psychischen Fähigkeiten des Nachgebens (Schwäche) und sich Durchsetzens (tyrannisches Verhalten), die in isolierter Einseitigkeit eine negative, destruktive Qualität entwickeln. Nur wenn sie »gleich-gültig« komplementär aufeinander bezogen sind, ergänzen sie sich konstruktiv zur Ganzheit einer emotionalen Polarität, zu einer »ruhigen Festigkeit«, die flexibel und angemessen auf die Forderungen einer Situation antworten lässt.« (Frambach 1996, 14)

Dieses Prozessmodell der so genannten ›Fünf Schichten‹, eine nicht sehr glückliche Bezeichnung, ist für mich das Herzstück des psychotherapeutischen Ansatzes von Fritz Perls, wurde aber leider von ihm selbst nicht wünschenswert klar formuliert.

5. Struktur und Dynamik dieses Prozesses lassen sich auch auf der spirituellen Ebene nachweisen, beim Zen-Buddhismus und in der christlichen Spiritualität beim Hesychasmus, bei Meister Eckhart, der »Wolke des Nichtwissens«, Martin Luther und Gerhard Tersteegen. Es scheint, dass dieser Prozessverlauf für die Mystik charakteristisch ist, in kultur- und religionsübergreifender Weise.

Dieses Prozessverständnis wurde ja in praktischer und theoretischer Auseinandersetzung mit diesen drei Bereichen – Gestalttherapie, Zen und christliche Spiritualität – gefunden. Sie haben sich für mich gleichsam gegenseitig in einem inneren Polylog erklärt und geklärt. Dass die Prozessstruktur auch für den Aspekt des Transzendenten, des Religiösen, Geltung hat, bedeutet jedoch nicht, dass die Gestalttherapie selbst nun spirituelle Qualitäten hätte. Die Sphären von Psychotherapie und Spiritualität, Religion, Mystik usw. sind grundsätzlich zu trennen, wenn die Übergänge auch fließend sind:

»Psychotherapie will, vereinfacht ausgedrückt, die Entwicklung einer gesunden, d.h. stabilen und flexiblen Ich-Struktur ermöglichen. Spiritualität hingegen will, wie mehrfach aufgezeigt, das Ich überwinden, oder genauer, die egozentrische Position des Ich, das sich absolut setzt, relativieren. Beides ist für die menschliche Reifung wichtig: Ohne eine Ich-Struktur, die einigermaßen vollständig ausgebildet und gefestigt ist, kann auch kein Ich relativiert werden. Wo nichts ist, kann auch nichts überwunden werden. Der zweite Schritt kann nicht vor dem ersten erfolgen.

›Wo Es war, soll Ich werden‹ hat Sigmund Freud formelhaft das therapeutische Ziel seiner Psychoanalyse umrissen. Wollte man analog pointiert das Ziel von Spiritualität formulieren, dann könnte es lauten:

›Wo Ich war, soll Wir werden.‹

Der spirituelle Prozess, wie er sich in der christlichen Spiritualität, aber auch im Zen darstellt, zielt darauf, die egozentrische Fixierung auf das Ich aufzuheben und zu einem alles umfassenden, nichts und niemand ausschließenden Wir zu befreien.« (Frambach 1994, 286)

Wobei das spirituelle Wir im Sinne der Transdifferenz zu verstehen ist, nicht als simple Auflösung der Ich-Struktur in einer Wir-Einheit.


6. Friedlaenders Motiv von schöpferischer Indifferenz und polarer Differenzierung kann man der Sache, wenn auch nicht dem Namen nach auch in Gestalttherapie von Perls/Hefferline/Goodman ausmachen, nämlich im Verständnis des »Mittleren Modus« und des »Selbst«.

Zu Gestalttherapy (1951) hat Fritz Perls wohl nur eine Art Ideenmanuskript beigesteuert. Der theoretische Teil trägt eindeutig die Handschrift von Paul Goodman. Doch im Verständnis des Selbst und des Mittleren Modus ist die Philosophie von Friedlaender zu erkennen, die via Perls eingeflossen ist. Der hat sich später nie explizit auf Gestalttherapy bezogen.

Bei Goodman findet die Auffassung der schöpferischen Indifferenz oder des transdifferenten Grundes, der sich polar differenziert, eine strukturelle Entsprechung im Verständnis des Selbst, wenn er schreibt:

»Das Selbst ist nicht die Gestalt, die es bildet, sondern das Bilden der Gestalt, d.h. das Selbst ist das dynamische Verhältnis von Grund [m. E. müsste hier ›Hintergrund‹ stehen, L. F.] und Figur.« (Perls/Hefferline/Goodman, 1979b, 203 f.)

An anderer Stelle versteht Goodman Hintergrund und Figur (= Vordergrund) explizit polar: »Im Prozess sind Hintergrund und Figur Polaritäten.« (ebd. 202)

»Das Spontane ist zugleich aktiv und passiv, sowohl das, wozu man bereit ist, wie auch das, was einem zustößt, oder, besser, es ist ein mittlerer Modus zwischen Tun und Erleiden, eine schöpferische Unparteilichkeit, ein Desinteresse, nicht in dem Sinne, dass man nicht erregt oder nicht schöpferisch wäre, denn Spontaneität ist dies beides in außerordentlichem Maße, sondern als Einheit vor (und nach) der Trennung von Aktivität und Passivität, die beides einschließt.« (Perls/Hefferline/Goodman, 1979b, 164)

»Die Polarität von Aktivität und Passivität ist grundlegend für die menschliche Existenz. Besonders wenn es um Kreativität und Spiel geht, und auch um Spiritualität. Wenn man sich kreative Prozesse genauer ansieht, wird man feststellen, dass darin Aktivität und Passivität in eigentümlicher Weise verwoben sind. Ein Künstler, ein Wissenschaftler beschäftigt sich intensiv mit einer Fragestellung, sitzt fest, ist blockiert. Dann hat er einen Einfall. Es fällt ihm etwas zu. Er empfängt etwas. Dieses passive Moment ist meist auszumachen. Mit dem Gefühl der Freude ist dann das Gefühl der Dankbarkeit verbunden. Bei all der eigenen Anstrengung fühlt man sich auch beschenkt. In der Gestalttherapie wird dieses Ineinanderfallen, diese Koinzidenz von Aktivität und Passivität, als ›Mittlerer Modus‹ bezeichnet, ›als Einheit vor (und nach) der Trennung von Aktivität und Passivität, die beides einschließt‹.« (Perls/ Hefferline/Goodman 1979b, 164)

Das klingt doch verdächtig nach der schöpferischen Indifferenz von Friedlaender/Mynona. »Ja, schöpferische Indifferenz ist ein mittlerer Modus«, sagt Lore/Laura Perls (1989, 178), auch wenn das von Fritz Perls & Co. nicht explizit formuliert wurde.

Kreativität und schöpferische Spontaneität sind wesentlich vom Mittleren Modus, von der schöpferischen Indifferenz von Aktivität und Passivität geprägt, z. B. beim Tanzen. Wir bewegen uns und werden bewegt, von der Musik, dem Rhythmus. Oder beim Singen. Wir tönen und gleichzeitig hören wir uns und können so den Ton gestalten.

Oder in der Spiritualität, in der Meditation, die ich als einen grundlegend schöpferischen Prozess verstehe. Meditieren ist wesentlich davon geprägt, geistig in eine Balance von Aktivität und Passivität zu kommen, wie körperlich in eine Balance von An- und Entspannung. Im Mittleren Modus dieser schöpferischen Indifferenz kann sich das Befreiende ereignen, das wir in der spirituellen Übung suchen. Aber eher dosiert prozesshaft als in spektakulären Durchbruchserfahrungen, auf die spirituelle sensationseeker spekulieren.

Fritz Perls nennt Friedlaender »das westliche Äquivalent zur Lehre Laotse’s« (1969, 80). So ist es nicht verwunderlich, dass der Mittlere Modus der schöpferischen Indifferenz mit dem Wu-wei des Daoismus verglichen wird (Portele 1992, 105 ff.), das oft paradox mit »Handeln durch Nicht-Handeln« übersetzt wird.« (Frambach 2010, 44 f.)

»Der mittlere Modus ist somit die grundlegende innere Haltung, die dem Respekt vor der Selbstorganisation alles Lebendigen im Wechselspiel von Chaos und Ordnung gemäß ist.« (Fuhr/Gremmler-Fuhr 1995, 160)

Gerade das kreative Denken und Erkennen ist nach meiner Selbstwahrnehmung ein Prozess, der sich im Mittleren Modus vollzieht. Man beschäftigt sich aktiv und intensiv mit einem Thema einer Frage, bis man passiv auch unbewusst damit beschäftigt wird. Der Geist pendelt und oszilliert zwischen einem aktiven und passiven Modus, die sich gegenseitig durchdringen.

7. Das Motiv von schöpferischer Indifferenz und polarer Differenzierung ist geeignet, auch andere gestalttherapeutische Aspekte psychischer Dynamik grundlegender zu verstehen.

Das gilt z. B. für die neurotischen Vermeidungsmechanismen von Perls (1976, 48 ff.), die Introjektion und die Projektion, sowie die Konfluenz und die Retroflexion, die ich polar als »Verinnerlichen« und »Veräußerlichen«, sowie als »Auflösen« und »Verdichten« begreife, als »je zwei polar-gegensätzliche Möglichkeiten, die reale Auseinandersetzung an der realen Kontaktgrenze zu vermeiden und damit der Realität aus dem Wege zu gehen.« (Frambach 1994, 82)

»Bei der psychisch ›gestörten‹ Persönlichkeit, die aus dem seelischen Gleichgewicht geraten ist, hat sich gleichsam wie bei einer Wippe die balancierende Mitte verschoben, weil man sich zu einseitig und überwiegend mit nur einem Pol einer psychischen Gegensatzeinheit, wie z. B. Freude und Trauer, identifiziert. Dadurch kippt die innere Balance und es entsteht eine Schieflage, auf der man sich nur in einer anstrengenden Weise aufrechthalten kann, nämlich durch die Ausgleichsbewegung neurotischer Vermeidungsmechanismen. Der existentiell eigentlich ›schwerwiegendere‹ Pol, von dem man aus irgendwelchen Ängsten abgerückt ist, sinkt unter das Bewußtheitsniveau, in den Schatten des Hintergrunds, und der für einen ›leichtere‹ wird vordergründig pseudo-dominant. Die/der eigentlich ›überwiegend‹ Traurige ›neigt‹ dazu, kompensativ eine vordergründig heitere Fassade zu zeigen. Der Weg der Heilung besteht daher grundsätzlich in einem ›Prozeß der Zentrierung‹, in der ›Aussöhnung von Gegensätzen … zu einem produktiven Zusammenspiel« (Perls 1980, 95).

Diese Aussöhnung geschieht im Finden der Mitte, der schöpferischen Indifferenz, die den »Magnetismus der Extreme« (F 1926, 32) bewirkt, der widerstreitende Dualitäten zu komplementären Polaritäten integriert. Wendet man Friedlaenders polaren Denkansatz konsequent an, dann ist davon auszugehen, dass die Psyche, wie jedes andere Phänomen auch, prinzipiell polar, paarig, komplementär strukturiert ist. Es gibt keine einzelnen, für sich isolierten psychischen Phänomene, sondern es ist von Gegensatzeinheiten auszugehen, wie z. B. Zuneigung und Abneigung, Freude und Trauer, Durchsetzten und Nachgeben usw. Perls hat diese polare Sicht der Psyche nicht in einer systematischen Weise entfaltet, sie aber doch immer wieder zum Ausdruck gebracht:

»Wie jedes psychologische Phänomen wird das Selbstwertgefühl als Polarität erfahren. Während oben ein hohes Selbstwertgefühl, Stolz, Ruhm und sich großartig fühlen steht, steht unten: sich schlecht, wertlos, niedrig und klein fühlen.« (Perls 1969, 4)

Polarität ist für das Verstehen der Psyche von grundsätzlicher Bedeutung. Sie ist insbesondere in allen Ansätzen, die von der Psychoanalyse ausgehen (Jung, Adler, Reich, Szondi u. a.) mehr oder weniger deutlich aufzuzeigen, und vielleicht »eröffnet die Lehre von der Psychodynamik der Polarität die Möglichkeit, eine Gemeinsamkeit in der Neurosenpsychologie verschiedener tiefenpsychologischer Richtungen zu formulieren.« (Schlegel 1982, 275) Eventuell nicht nur dieser. Die polare Ausrichtung von Perls ist eindeutig auf Friedlaender zurückzuführen, der ihm außer dem Prinzip der polaren Differenzierung noch die zentrale Bedeutung der integrierenden Indifferenz vermittelte, und mit diesem Motiv die Denkbewegung seines gestalttherapeutischen Ansatzes anfänglich und entscheidend prägte. Ziel des gestalttherapeutischen Prozesses ist es aus dieser Perspektive, aus einseitiger Fixierung auf Vordergründiges zunehmend zum Grund zu führen, von der Peripherie zu Mitte und Zentrum, indem starre Dualitäten zu flexiblen Polaritäten integriert werden.« (Frambach 1996, 15)

Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie

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