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3.4 Der konkrete Sinn mystischer Transdifferenzerfahrung

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Was ist der Sinn solch einer mystischen Erfahrung der schöpferischen Indifferenz, der Transdifferenz oder wie immer man dies philosophisch oder religiös ausdrücken will? Oder noch drastischer ausgedrückt: Was ist der Nutzen, für einen selbst und für andere? Das klingt sehr nüchtern zweckorientiert und wenig spirituell, aber diesen Fragen muss man sich stellen. Um das zu klären beziehe ich mich auf Albert Schweitzer (1875–1965), mit dem ich mich intensiv befasst habe (2005). Denn Schweitzers Ethik der »Ehrfurcht vor dem Leben« hat einen mystischen Quellgrund. Schweitzer war ein ethischer Mystiker oder mystischer Ethiker. Im Jahr 1915 fährt er auf einem Lastkahn auf dem Ogowe in Zentralafrika. Seit Jahren ringt er um ein vertieftes Verständnis von Ethik und befindet sich deswegen in der Sackgasse einer tiefen geistigen Krise, in der Phase der Diffusion, um es mit meinem Prozessverständnis auszudrücken. »Ich irrte in einem Dickicht umher, in dem kein Weg zu finden war. Ich stemmte mich gegen eine eiserne Tür, die nicht nachgab.« (Schweitzer GW 1, 167)

Dann fährt der Kahn durch eine Herde von Flusspferden. »Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurch fuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das Wort ›Ehrfurcht vor dem Leben‹ vor mir. Das eiserne Tor hatte nachgegeben; der Pfad im Dickicht war sichtbar geworden.« (ebd. 169) Mit Schweitzers Worten geht es um die »unmittelbarste Tatsache des Bewusstseins des Menschen«: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.« (ebd.) An anderer Stelle drückt er in einer Predigt diesen mystischen Erfahrungszusammenhang so aus: »Der tiefste Begriff des Lebens ist erreicht, das Leben, das zugleich Miterleben ist, wo in einer Existenz der Wellenschlag der ganzen Welt gefühlt wird, in einer Existenz das Leben als solches zum Bewusstsein seiner selbst kommt … das Einzeldasein aufhört, das Dasein außer uns in das unsrige hereinflutet.« (GW 5, 130) Aus dieser Einsichtserfahrung heraus entfaltet er seine mystische Ethik der »Ehrfurcht vor dem Leben«. Bei aller Wertschätzung steht Schweitzer der Mystik doch auch kritisch gegenüber:»Von aller bisherigen Mystik gilt, dass ihr ethischer Gehalt zu gering ist. Sie bringt den Menschen auf den Weg der Innerlichkeit, aber nicht auch auf den der lebendigen Ethik« (GW 1, 237) Und noch schärfer formuliert: »Die Mystik ist nicht der Freund, sondern der Feind der Ethik. Sie zehrt sie auf.« Aber er fährt in einem spannungsvollen Gedankenbogen im nächsten Satz fort: »Und doch muss die das Denken befriedigende Ethik aus der Mystik geboren werden.« (GW 2, 370) Wenn eine mystische Einsichtserfahrung wirklich der transdifferenten Einheit und damit Verbundenheit mit allem, was lebt, was existiert, entspringt, dann drängt sie auch zu einem entsprechenden Lebensstil verantworteter Verbundenheit.

Bei Friedlaender gibt es zu dieser Sichtweise Schweitzers eine Entsprechung. Wenn er auch nicht müde wird, die grundlegende Bedeutung der schöpferischen Indifferenz aufzuzeigen, so warnt er doch auch eindringlich davor, sich im Indifferenten zu verlieren. Es geht ihm nicht um einen Rückzug aus der Welt, sondern um ein tatkräftiges kreatives Gestalten der Welt aus ihrer geistigen schöpferischen Mitte heraus, denn: »Es darf am schöpferischen Prinzip so wenig das identisch Innere fehlen wie dessen unterschiedene Äusserung.« (GS10, 122) Er spricht in diesem Zusammenhang von Indo-Amerikanismus: »Der Osten dringt auf die Kultur der Indifferenz, der Westen auf diejenige der Differenz; ich will westöstlich sein, indo-amerikanisch. Ich lehne eine Kultur der bloßen Indifferenz ebenso ab wie eine der bloßen Differenz; beide sind verführerische Scheinbarkeiten.« (F/K 1986, 57) Wirklich »Schöpferische« Indifferenz im Sinne von Transdifferenz bleibt nicht quietistisch für sich, sondern drängt zu konstruktiver Lebensgestaltung, zu kreativer Entwicklung: »∞ zu sein, genügt nicht; man soll es auch (polariter) werden.« (F/K1986, 18)

Der Wert und die Tiefe einer »spirituellen« Erfahrung zeigen sich nicht zuletzt in der konkreten Umsetzung für das »Gemeinwesen« im umfassendsten Sinn. Es geht um eine »Spiritualität des Konkreten«, wie das Petzold/Orth/ Sieper (2011, 22) auf den Punkt bringen, die sich tatkräftig engagiert, z. B. sozial, politisch, ökologisch. Das wird in der heutigen psycho-spirituellen Szene gerne aus den Augen verloren.

Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie

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