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2.8 Aktive Lebenserwartung, Kompression und Expansion der Morbidität

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Neben der allgemeinen Lebenserwartung gibt es noch weitere Maßzahlen für den Gesundheitsstatus, die auf Sterblichkeitsdaten basieren. In komplexere Indikatoren geht nicht nur die Lebensdauer ein, sondern auch, wie viel Zeit eine Person bei guter Gesundheit verbringen kann. Ein Beispiel hierfür ist das Konzept der aktiven Lebenserwartung, das aus der allgemeinen Sterbetafelanalyse hervorgegangen ist. Je nach Abgrenzung zwischen gesund, krank oder pflegebedürftig sind auch im Englischen Bezeichnungen wie »healthy« oder »disability free life expectancy« gebräuchlich (Weyerer et al. 2008). Nach Heigl (2002) umfasst die aktive Lebenserwartung die Lebensspanne, die frei von Pflegebedürftigkeit ist, und die inaktive Lebenserwartung die Phase der Pflegebedürftigkeit als Übergangsphase zum Tod. Selbstverständlich ist die aktive Lebenserwartung sehr stark davon abhängig, wie Pflegebedürftigkeit definiert wird: etwa nach den Kriterien der Pflegeversicherung oder auf der Grundlage von Alterskompetenz-Skalen (Activities of Daily Living/ADL-Skalen). Eine grobe Schätzung zeigt, dass in den meisten europäischen Ländern die Über-60-Jährigen mindestens vier Fünftel der verbleibenden Lebenszeit gesund verbringen (Hoffmann et al. 2009b). Bringen die durch die steigende Lebenserwartung hinzugewonnenen Jahre ein Mehr an Lebensqualität oder ist der Anstieg der Lebenserwartung nur um den Preis einer gestiegenen Prävalenz von Krankheit und funktionalen Einschränkungen zu haben? Zu diesen Fragen wurden zwei zentrale Thesen formuliert: die Kompressionshypothese und die Expansionshypothese.

Eine optimistische Sichtweise geht davon aus, dass die allgemeine Verlängerung der Lebenserwartung und die zunehmende Konzentration der Sterblichkeit auf die Hochaltrigen (Kompression der Mortalität) auch begleitet wird von einer Verkürzung der Lebensphase, in der mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu rechnen ist (Fries 1980, Fries et al. 2011). Gemäß der Kompressionsthese bleiben die alten Menschen trotz steigender Lebenserwartung von funktionalen Einschränkungen verschont. Aufgrund einer gesünderen Lebensweise und des medizinischen Fortschritts wird das Auftreten chronischer Behinderungen verzögert und in seiner Schwere gemildert.

Der medizinische Fortschritt wird jedoch auch für die Expansionsthese (Gruenberg 1977) herangezogen, wonach die zusätzlichen Lebensjahre nicht in Gesundheit, sondern im kranken Zustand verbracht werden. Aufgrund des medizinischen Fortschritts gelingt es immer besser, das frühzeitige Sterben wegen akuter lebensbedrohlicher Erkrankungen zu verhindern. Auf diese Weise erreichen immer mehr Menschen ein höheres Alter, in dem chronische Erkrankungen zunehmen. Außerdem gelingt es mit Hilfe verbesserter therapeutischer Verfahren, den tödlichen Ausgang von Krankheiten im hohen Alter um den Preis einer verlängerten Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern. Des Weiteren gehen die Vertreter der Expansionsthese davon aus, dass Krankheiten mit langer Latenzzeit, wie z. B. Erkrankungen des Bewegungsapparats, stärker zum Tragen kommen.

Epidemiologische Studien, in denen über längere Zeiträume die Prävalenz von Erkrankungen mit identischen Erhebungsmethoden bestimmt wird, können hier wichtige Hinweise liefern. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Prävalenz eine komplexe Messgröße ist, in die verschiedene Komponenten einfließen können (Beaglehole et al. 1997). Die Prävalenz erhöhende Faktoren sind: längere Krankheitsdauer, Zunahme der Neuerkrankungen, Zuwanderung erkrankter Personen, Abwanderung gesunder Personen, Lebensverlängerung bei Patienten, die nicht geheilt werden können, und bessere diagnostische Möglichkeiten (höhere Entdeckungsrate). Faktoren, die die Prävalenz senken, sind: kürzere Krankheitsdauer, Abnahme der Neuerkrankungen, Zuwanderung gesunder Personen, Abwanderung erkrankter Personen, hohe Letalitätsrate (d. h. Anteil der Fälle einer bestimmten Krankheit, die innerhalb eines definierten Zeitraums tödlich enden), höhere Heilungsrate bei erkrankten Personen.

Tab. 2.6: Prävalenz (%) von ausgewählten Erkrankungen und Mobilitätseinschränkungen nach Alter und Geschlecht in den USA: National Health Interview Survey 1998–2006; die jeweils höheren Prävalenzraten sind durch Fettdruck hervorgehoben (Crimmins und Beltran-Sanchez 2010)


DiagnoseMännerFrauen

Auf die Frage, ob die Kompressionsthese oder die Expansionsthese die richtige ist, gibt es keine eindeutige Antwort. Für beide Thesen liegen epidemiologische Studien vor, welche die jeweiligen Annahmen unterstützen. Zunächst zeigten epidemiologische Studien aus den 1960er und 1970er Jahren, dass in den Vereinigten Staaten die Zunahme der ferneren Lebenserwartung nicht mit einem Anstieg der aktiven Lebenserwartung einherging (Colvez und Blanchet 1981, McKinlay et al. 1989). Crimmins und Beltran-Sanchez (2010) fanden in einer groß angelegten US-Studie zwischen 1998 und 2006 in den meisten Fällen einen Anstieg in den Prävalenzraten bei Erkrankungen, die die Mortalitätsraten entscheidend bestimmen ( Tab. 2.6): Koronare Herzerkrankungen, Herzinfarkt, Krebserkrankungen und Diabetes. In dem gleichen Zeitraum fanden sie darüber hinaus bei Männern und Frauen aller Altersgruppen eine deutliche Zunahme bei Einschränkungen in der Mobilität ( Kap. 7). Die Lebenserwartung der Über-65-Jährigen ist sowohl bei den Männern (1998: 16,0 Jahre; 2006: 17,0 Jahre) als auch bei den Frauen (1998: 19,2 Jahre; 2006: 19,7 Jahre) angestiegen. Dabei zeigte sich bei beiden Geschlechtern, dass im Beobachtungszeitraum die Lebenserwartung bei den Personen anstieg, die mindestens eine Erkrankung hatten bzw. in ihrer Mobilität eingeschränkt waren ( Tab. 2.7). Ein in diesem Zeitraum festgestellter Anstieg der Lebenserwartung kann unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass – aufgrund verbesserter Behandlungsmöglichkeiten – Menschen mit chronischen Erkrankungen länger leben.

Andere Studien weisen auf einen Anstieg der gesunden Lebenszeit hin. So konnten Fries et al. (2011) zeigen, dass von 1982–2004 in den Kohorten der 65-Jährigen und Älteren die Prävalenz funktioneller Einschränkungen um 28 % zurückging ( Tab. 2.8). Dieser Rückgang in den funktionellen Einschränkungen war in allen Untergruppen festzustellen: Er war am höchsten (−58 %) bei den leicht Beeinträchtigten und am niedrigsten bei den sehr schwer Beeinträchtigten (−9 %). Bemerkenswert ist auch der deutliche Rückgang (−47 %) bei den Personen, die in Institutionen lebten.

Tab 2.7: Lebenserwartung (in Jahren) bei über 65-jährigen Männern und Frauen mit und ohne Erkrankungen (Koronare Herzkrankheiten, Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebserkrankungen, Diabetes) bzw. Mobilitätseinschränkungen: National Health Interview Survey 1998–2006 (Crimmins und Beltran-Sanchez 2010)


DiagnoseMänner (65 und älter)Frauen (65 und älter)

Tab. 2.8: Prävalenz (%) funktioneller Einschränkungen bei den Kohorten 65-jähriger und älterer US-Bürger (Fries et al. 2011)


ErhebungsjahrFunktionelle Einschränkungen (%)

Kroll und Ziese (2009) haben entsprechende Ergebnisse für Deutschland berichtet. Für 67–70-jährige und 71–75-jährige Männer und Frauen fand sich ein deutlicher Rückgang des Anteils der Lebensjahre mit funktionellen Einschränkungen. Im Rahmen des Mikrozensus liegen seit 1978 für das frühere Bundesgebiet altersspezifische Morbiditätsraten vor. Es zeigt sich, dass der Anteil kranker Menschen (bezogen auf einen Zeitraum von vier Wochen) in allen Altersgruppen und bei beiden Geschlechtern im zeitlichen Verlauf abnahm ( Tab. 2.9). Besonders deutlich war der Rückgang bei den 71–76-jährigen Frauen, bei denen die Krankheitsrate von 35,1 % (Kohorte: 1907) auf 24,2 % (Kohorte: 1919) abnahm. Es ist jedoch unklar, welche Faktoren wie z. B. Veränderungen in den Risiko- und Schutzfaktoren im zeitlichen Verlauf zu der Verbesserung des subjektiv berichteten Gesundheitszustands beigetragen haben.

Es gibt Hinweise aus skandinavischen und angelsächsischen Studien, dass sowohl die Kompressions- als auch die Expansionsthese zutreffen können, allerdings für unterschiedliche soziale Schichten. Während in den höheren sozialen Schichten häufig eine Kompression der Morbidität registriert wird, werden in den unteren sozialen Schichten chronische Krankheiten in einem früheren Lebensalter erworben und die Lebenserwartung stagniert (Deutscher Bundestag 2002).

Tab. 2.9: Altersspezifischer Anteil der Bevölkerung (in %; Jahrgangskohorten: 1907, 1913, 1919) in Deutschland, der in den letzten vier Wochen krank war (Kroll und Ziese 2009)


Kohorte59–64 Jahre (%)65–70 Jahre (%)71–76 Jahre (%)77–82 Jahre (%)

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