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Gelebte Erfahrungen und widerspenstige Praktiken

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Widerstand ist ein elementarer Begriff in den Cultural Studies, der durch Antonio Gramscis Hegemonieanalysen (Gramsci 1991 ff.), seine Überlegungen zur Popularkultur und vor allem durch Michel Foucaults Analytik der modernen Macht (Foucault 1976, 1977) bestimmt wird. Trotz massiver Kritik nimmt er bis heute eine sehr wichtige Rolle in der Analyse gelebter Erfahrungen und Praktiken ein. Seine wichtige Bedeutung veranschaulicht, dass Cultural Studies kulturelle und mediale Prozesse im Kontext sozialer und kultureller Ungleichheit sowie als Teil der Dispositive der Macht betrachten. Ihre Perspektive ist immer auch die »von unten«, die das Leiden an der Gesellschaft, das Elend der Welt, registriert, analysiert, gleichzeitig aber auch Möglichkeiten von Utopie und gesellschaftlicher Transformation aufzeigen möchte (Kellner 1995, Denzin 2010).

So wundert es nicht, dass Widerstand zur zentralen Kategorie dieser kritisch interventionistischen Theorie und Forschungspraxis wurde. Gerade im alltäglichen Gebrauch von Medien, in deren Rezeption und (produktiver) Aneignung, finden sich die Merkmale und Spuren widerspenstiger Praxis und kreativen Eigensinns, die mediale Texte gegen den Strich lesen und zur Artikulation eigener Perspektiven nutzen (Winter 2001). Zum Streitpunkt wurde dabei die Frage, wie weitreichend dieser Widerstand gegen Macht sein kann und welche Bedeutung ihm im Kontext gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen zukommt. Hat der Widerstand (nur) symbolischen Charakter oder auch »reale« Auswirkungen? Als methodologisch schwierig erweist es sich nämlich, die kreativen und widerständigen Elemente alltäglicher Erfahrung zu erfassen, da diese immer bereits von Diskursen durchdrungen und strukturiert werden.

In der frühen Widerstandsforschung, die allerdings keine von einem Programm ausgehende einheitliche Tradition darstellt, wird bereits ein zentraler Aspekt von Cultural Studies deutlich: ihr Kontextualismus. Widerspenstige Praktiken lassen sich nur dann verstehen, wenn der Kontext (re-)konstruiert wird, in dem sie sich ereignen und den sie (mit)konstituieren. Für Lawrence Grossberg (1999, S. 60, 2010, S. 169–226) werden die Cultural Studies von einem radikalen Kontextualismus geprägt: »Um es für Cultural Studies auf den Punkt zu bringen: der Kontext ist alles, und alles ist kontextuell.«

So kann Paul Willis in seiner in der Zwischenzeit zum Klassiker gewordenen ethnographischen Studie Spaß am Widerstand (1979) in einer dichten Beschreibung zeigen, wie die »lads«, Jungs aus der Arbeiterklasse, eine lebendige und aufmüpfige Gegenkultur schaffen, die die Mittelklassenormen ihrer Schule ablehnen und subversiv unterlaufen. Ihre kreativen Praktiken prangern Langeweile und Entfremdung schulischer Sozialisation an, führen jedoch nicht zu einer Transformation »realer« Herrschaftsstrukturen, weil den schlecht ausgebildeten »lads« nämlich nichts anderes übrig bleibt, als nach der Schule Arbeiterjobs anzunehmen. Damit ist ihr Protest, den sie subjektiv als Freiheit erfahren, in die Reproduktion sozialer Ungleichheit eingebunden.

In ihrer ebenfalls berühmt gewordenen Studie Reading the Romance (1984), die multidimensional angelegt ist und historische Betrachtungen mit narrativen Analysen von Romanen und empirischer Erforschung der Perspektive der Leserinnen verbindet, kam Janice Radway zu dem Ergebnis, dass die Rezeption von Liebesromanen, zunächst unabhängig von ihrem Inhalt, eine grundsätzlich positive Bedeutung für Frauen haben kann. Die regelmäßige und enthusiastische Lektüre, das Sich-Verlieren im Lesen, helfe ihnen nämlich, sich von den sozialen Pflichten und Beziehungen des Alltags zu distanzieren und einen Freiraum für sich selber im häuslichen Ambiente zu schaffen, wo von ihnen ansonsten erwartet wird, ausschließlich für die Familie da zu sein und ihre Selbstfindung daran zu binden. Im Weiteren kann Radway dann zeigen, wie in den Liebesromanen auch weibliche Sinnangebote gegen die des Patriarchats ausgespielt und als höher eingestuft werden. Die scheinbar harmlose Praktik des Lesens von relativ standardisierten Liebesromanen erweist sich als widerspenstig und führt zur Bildung einer lebendigen, widerständigen Subkultur. Allerdings kommt Radway zu dem Schluss, dass die realen patriarchalen Strukturen, die familiäre und gesellschaftliche Beziehungen durchdringen, nicht transformiert werden. Der Widerstand kann sogar zu ihrer Stärkung beitragen.

Die Analysen des Widerstandes innerhalb von Cultural Studies beschäftigen sich also mit auf den ersten Blick trivialen, unbedeutenden alltäglichen Erfahrungen und Praktiken untergeordneter Gruppen, die in ihrer Eigenart, insbesondere wie sie den realen Strukturen von Macht und Herrschaft widerstehen, untersucht werden. Auch wenn in der Lesart von Cultural Studies Ideologien und die hegemoniale Kultur das Verhältnis der Handelnden zur Welt vermitteln, kennen sie diese Strukturen jedoch mittels ihres praktischen Wissens, was die Voraussetzung für ihren Widerstand ist, der in der Regel jedoch im Imaginären verbleibt und vergeblich ist.

Methodologisch werden die alltäglichen Erfahrungen und Praktiken, so z. B. die Medienrezeption, ernst genommen und damit auch deren Bedeutung. Allerdings kontextualisiert sie der Forscher und bestimmt damit ihre eigentliche Bedeutung. In diesem Zusammenhang wird in der neueren Diskussion oft die Kritik geäußert, dass dieser »Durchblick« des Forschers seiner Selbstreflexivität im Wege steht. So kann er z. B. nicht erkennen, wie die von ihm analysierten »realen« Herrschaftsstrukturen durch seine eigenen theoretischen Vorannahmen oft erst begriffliche Kontur gewinnen. Sowohl Willis als auch Radway wurden dahingehend kritisiert, dass ihre theoretischen Vorannahmen zur Ausbildung blinder Flecke führen, was freilich für jede Forschung gilt. In der neueren ethnographischen Diskussion wird etwas übertrieben eingewendet, dass man oft mehr über die theoretische Perspektive der Forscher/-innen erfährt als über die untersuchten Personen. Diese Kritik wurde auch an John Fiske geübt, der als der wichtigste Vertreter des Widerstandsparadigmas gilt und dessen Analysen in der Exploration von Möglichkeiten in dem Dickicht der Lebenswelt für viele einen zu optimistischen Charakter annehmen.

In seinen Analysen des Populären in der Gegenwart (Fiske 1989) knüpft er eng an Foucaults (1976) Unterscheidung zwischen Macht und Widerstand an. »Widerstand« kann in spezifischen historischen Situationen im Verhältnis von diskursiven Strukturen, kultureller Praxis und subjektiven Erfahrungen entstehen. Fiske begreift den Alltag als kontinuierliche Auseinandersetzung zwischen den Strategien der »Starken« und den Guerillataktiken der »Schwachen«. Im Gebrauch der Ressourcen, die das System z. B. in Form von medialen Texten und anderen Konsumobjekten zur Verfügung stellt, versuchen die alltäglichen Akteure ihre Lebensbedingungen selbst zu definieren und ihre Interessen auszudrücken. Dabei interessiert er sich nicht für die Aneignungsprozesse, die zur sozialen Reproduktion beitragen, sondern für den heimlichen und verborgenen Konsum, der im Sinne von Michel de Certeau (1988) eine Fabrikation, eine Produktion von Bedeutungen und Vergnügen ist, in der den Konsumenten ihre eigenen Angelegenheiten deutlicher werden und die (vielleicht) zur allmählichen kulturellen und sozialen Transformation beitragen kann (Winter 2001).

Fiske (Fiske 1999; Winter/Mikos 2001) dekonstruiert in seinen Analysen die unterschiedlichsten populären Texte von Madonna über Stirb langsam bis zu Eine schrecklich nette Familie mit dem Ziel ihr Potenzial an Bedeutungen aufzuzeigen, das je nach sozialer und historischer Situation der Zuschauer von diesen unterschiedlich realisiert wird. Er zeigt die Inkonsistenzen, die Unabgeschlossenheit, die widersprüchliche Struktur oder die Polyphonie medialer Texte auf, arbeitet heraus, wie eng populäre Texte auf die gesellschaftliche Wirklichkeit bezogen sind und soziale Differenzen artikulieren. Die Rezeption und die Aneignung von Texten werden zu einer kontextuell verankerten gesellschaftlichen Praxis, in der die Texte als Objekte nicht vorgegeben sind, sondern erst auf der Basis sozialer Erfahrungen produziert werden. Damit gelingt es Fiske, die situative Einzigartigkeit und Signifikanz kultureller Praktiken aufzuzeigen, die an einem besonderen Ort zu einer besonderen Zeit realisiert werden.

Wie bei Radway und bei Willis stellt sich jedoch auch bei Fiske die Frage, welche über den unmittelbaren Kontext hinausgehende Bedeutung diese symbolischen Kämpfe haben können. Eine nahe liegende Kritik lautet, dass widerständiger Medienkonsum, wie Fiske (2001) ihn in seiner berühmt gewordenen Madonna-Studie aufzeigt, ineffektiv bleibt, weil er die patriarchalen Herrschaftsstrukturen nicht ändert. So zu argumentieren, heißt jedoch, nicht sehen zu wollen, dass Fiske dies zum einen nicht behauptet. Zum anderen geht es ihm gerade darum, die Bedeutung, ein Madonna-Fan zu sein, ernst zu nehmen und – vor allem in seinen späteren Arbeiten – die Singularität kultureller Erfahrungen und Praktiken in spezifischen Kontexten herauszuarbeiten, ohne überhaupt den Anspruch auf Generalisierung oder unmittelbare Transformation von Herrschaftsstrukturen zu stellen. Allerdings entgeht auch Fiske nicht der Kritik, dass er als Forscher vorgibt, die Bedeutung der Praktiken der Untersuchten besser zu verstehen als diese selbst.

Diesem für die Forschungen zum Widerstand charakteristischen Dilemma versucht man in neueren Arbeiten dadurch zu entgehen, dass Phänomene aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden und auf diese Weise das methodologische Instrumentarium sensibler für die Erfahrung des Anderen werden soll. So wird untersucht, welchen Einfluss Widerstandspraktiken in einem spezifischen Kontext auf Ereignisse und Prozesse in anderen Bereichen haben, wie sie mit diesen artikuliert sind. Zudem werden Erfahrungen, Praktiken und Diskurse in multiplen lokalen Kontexten analysiert, sodass sich verschiedene Formen von Subordination und Widerstand aufzeigen lassen (Saukko 2003). Innerhalb von Cultural Studies spielt die Analyse subversiven Medienkonsums also weiterhin eine wichtige Rolle, auch wenn die damit verbundenen optimistischen Hoffnungen nicht mehr im Zentrum der Betrachtung stehen.

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