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Prämissen einer wissenssoziologischen Interpretation von Bildern Bild und Bildtext

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Bilder aller Art sind in gewisser Weise optische Sinfonien. Denn beim Betrachten von stehenden und bewegten Bildern (und natürlich auch bei technisch erzeugten Grafiken) trifft eine Vielzahl von Tönen gleichzeitig beim Betrachter ein. Insofern ist das Ansehen eines Fotos nur ein besonderer Fall visueller Wahrnehmung, und diese löst (ähnlich wie die Wahrnehmung von Gerüchen, Berührung, Wärme etc.) direkte Körperreaktionen aus, ohne dass die Wahrnehmung in einen Text umgewandelt werden muss. Bilder deuten kann man jedoch nur, soll zumindest eine gewisse Nachvollziehbarkeit und damit eine Überprüfbarkeit geschaffen werden, wenn man den Wahrnehmungsprozess einerseits systematisiert und andererseits den mit der Bildbetrachtung in Gang gesetzten Prozess der Sinnzuschreibung fixiert. Protokolliert man also die Wahrnehmung des Bildes, produziert man erst einmal einen Text. Und dieser Text hat notwendigerweise immer eine andere Ordnung als das Bild und deshalb auch immer eine andere Wirkung.

Ein Bild und der Protokolltext des wahrnehmenden Zugriffs auf dieses Bild unterscheiden sich strukturell. Zwar sind sowohl Bild als auch Text fixiert und damit der analytischen Arbeit beliebiger Rezipienten immer wieder verfügbar, Bild und Text sind also nicht so unaufhebbar flüchtig wie das Leben in der Welt, doch bleibt das Bild eine Sinfonie und der Text eine Reihe von sequenziell geordneten, nach den Regeln der Grammatik, Semantik und Pragmatik einer Gesellschaft ausgewählten Wörtern. Der Text zerstört unwiederbringlich die Gleichzeitigkeit des Eindrucks und schafft eine neue Ordnung des Nacheinanders, des sequenziellen Geordnetseins.

Auch wenn man einräumt, dass Bilder zeichenhaft sind, also mit den allgemeinen Regeln der gesellschaftlichen Bedeutungskonstitution arbeiten, können nur ausgemachte Optimisten unterstellen, die Bildbedeutung ließe sich identisch auf einen Bildtext abbilden. Deshalb gibt es für die Analyse von Bildern nicht nur ein Problem der Beschreibbarkeit, sondern es ist zudem zentral (siehe vor allem Müller/Raab/Soeffner 2014, auch Reichertz 2014).

Die (hermeneutische) Interpretation von Fotos (und Filmen) hat in Deutschland nach einem zögerlichen Beginn in den 1990er Jahren (Oevermann 1979, 1983, Englisch 1991; Haupert 1992; Loer 1992, Reichertz 1992, 1994, 2000) in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung erlebt – weshalb manche von einem pictorial turn sprechen (Schade/Wenk 2011). Eine Fülle von Bildinterpretationsverfahren haben sich im deutschsprachigen Raum entwickelt: Einen guten Überblick über die Entwicklung und die einzelnen Verfahren findet sich in Netzwerk Bildphilosophie 2014. Zudem macht eine Reihe von Sammelbänden das Vorgehen und die Reichweite der einzelnen Verfahren sichtbar: Marotzki & Niesyto 2012, Lucht/Schmidt/Tuma 2013, Kauppert/Leser 2014, Przyborski/Haller 2014 und Eberle 2016. Konsens herrscht darüber, dass die Interpretation und Transkription von stehenden Bildern sich kategorial von der Interpretation und Transkription laufender Bilder unterscheidet (Corsten/Krug/Moritz 2010). Elaborierte qualitative und sozialwissenschaftliche Methoden und Methodologien zur Bildinterpretation sind bislang vor allem von der Rekonstruktiven Sozialforschung (Bohnsack 2001, 2005, 2009, Bohnsack/Michel/Przyborski 2015), der objektiven Hermeneutik (Oevermann 2014, Loer 1992, 1996, 2010, Wienke 2001, Kraimer 2014) und der hermeneutischen Wissenssoziologie (Soeffner 2000, Kurt 2008, Raab 2008, Reichertz 2000, 2010; Reichertz/Englert 2011, Reichertz/ Wilz 2016), die figurative Hermeneutik (Müller 2012) und der Segmentanalyse (Breckner 2010) vorgelegt worden.

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