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5.3 Theory of Mind und Empathie
ОглавлениеFür „Theory of Mind“ (ToM) gibt es keine entsprechende deutsche Bezeichnung. In der Psychoanalyse wird der Begriff der „Mentalisierung“ verwendet, welcher als Fähigkeit beschrieben wird, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren (Fonagy et al. 2002). Da es keine vergleichbare Entsprechung im Deutschen gibt, wird zumeist der englische Begriff Theory of Mind verwendet.
Theory of Mind wird als Fähigkeit beschrieben, mentale Modelle und Theorien über emotionale und intentionale Sachverhalte bei anderen und sich selbst zu bilden. Es handelt sich dabei um nicht direkt sichtbare Denkvorgänge wie z.B. Ansichten, Meinungen, Vorstellungen und Überzeugungen (Beliefs) und handlungsleitende Faktoren wie Bedürfnisse, Wünsche und Absichten (Desires). Weiter beinhaltet diese Fähigkeit, dass man zwischen dem eigenen Wissen und den Überzeugungen anderer unterscheiden kann.
ToM beinhaltet die Fähigkeit, zu schlussfolgern, was andere Personen denken, glauben oder begehren. Die Informationen werden genutzt, um daraus das Verhalten der anderen Person zu erklären oder vorherzusagen (siehe hierzu Baron-Cohen et al. 1993).
In anderen theoretischen Zusammenhängen wird die gleiche Fähigkeit auch als kognitive Empathie im Gegensatz zur emotionalen Empathie beschrieben, welche eher das Phänomen des Mitfühlens etwa im Sinne von Mitleid meint.
Die Forscher (Premack u. Woodruff 1978) untersuchten Affen, um herauszufinden, ob sie sich ihrer selbst bewusst waren. Ein klassischer Test für ToM ist ein Farbpunkt auf der Stirn des Tieres. Betrachtet sich das Tier nun in einem Spiegel, wird überprüft, ob es den Farbpunkt im Spiegel wahrnimmt und ihn bei sich selbst auf der Stirn entfernt. Wenn das Tier den Farbpunkt bei sich selbst entfernt, wird dies als Hinweis gewertet, dass das Tier sich im Spiegel selbst erkennt und begreift, dass der Farbpunkt auf der eigenen Stirn zu finden und zu entfernen ist.
Wimmer und Perner (1983) untersuchten, wie sich bei Kindern die Fähigkeit entwickelt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Verhalten zu interpretieren. Dabei wurden korrekte oder fehlerhafte Überzeugungen mit „False-Belief“-Aufgaben untersucht. Den Kindern werden dafür kurze Geschichten erzählt und Fragen dazu gestellt (s.u./Abb. 5). Die Antworten auf die Fragen geben Aufschluss darüber, ob ein Kind eine „falsche Überzeugung“ bei anderen erkennen kann oder nicht.
Abb. 5 Dies ist eine klassische False-Belief-Aufgabe erster Ordnung, die Kindern erzählt wird. Genaue Beschreibung im Kasten „Sally und Ann False-Belief-Aufgabe“.
Sally und Ann False-Belief-Aufgabe
Eine klassische „False-Belief“-Aufgabe (falsche Überzeugungen) besteht aus einer kleinen Bildergeschichte mit zwei Mädchen, Sally und Ann, und einem Ball oder einer Murmel. Kindern wird diese Geschichte anhand von Zeichnungen erzählt (s. Abb. 5). Zuerst werden beide Kinder vorgestellt. Dann wird eine Aktion initiiert: Sally hat einen Ball, den sie in den Korb legt. Danach verlässt Sally den Schauplatz und geht spazieren. Als Sally weg ist, nimmt Ann den Ball aus dem Korb und legt ihn in eine Kiste, die ebenfalls im Bild zu sehen ist. Später kommt Sally zurück und will mit dem Ball spielen.
Nun wird das Kind, welches die Geschichte gehört und gesehen hat, gefragt, wo Sally den Ball suchen wird. Die Antwort gibt Aufschluss darüber, ob sich das Kind in Sally hineinversetzen kann. Wenn das Kind nur von der eigenen Erfahrung und dem eigenen Wissensstand ausgeht, dann wird es den Fehler begehen und sagen, dass Sally den Ball in der Kiste suchen wird. Diese Antwort entspricht dem aktuellen Wissensstand über die Position des Balles. Kann das Kind jedoch vom eigenen Wissen und dem Wissen einer anderen Person, Sally, unterscheiden (Perspektivenübernahme), dann kommt es zu dem korrekten Schluss, dass Sally im Korb suchen wird. Aufgrund des Wissens, dass die andere Person in dieser Situation nicht den gleichen Wissensstand haben kann als man selbst, wird verstanden, dass Sally nicht die neue Position des Balles weiß und daher dort suchen wird, wo sie selbst den Ball abgelegt hat. Bei dieser Aufgabe handelt es sich um eine False-Belief-Aufgabe erster Ordnung (first-order): Es geht um das Verständnis, dass andere Personen anders über die Realität denken können, als man selbst.
Es gibt weitere, komplexere False-Belief-Aufgaben, z. B. solche zweiter Ordnung. Hier ein kurzes Beispiel zur Erläuterung:
Ein Vater kauft als Geburtstagsüberraschung seiner Tochter ein Rad. Auf die Frage der Tochter, ob der Vater ihr wohl zum Geburtstag ein Rad gekauft hat, antwortet er, dass er ein tolles Videospiel gekauft hat. Da er möchte, dass das Rad eine große Überraschung wird, sagt er nicht die Wahrheit. Seine Tochter entdeckt jedoch später in der Garage das neue Rad und weiß nun, dass sie ein Rad geschenkt bekommen wird. Später am Tag kommt die Oma der Tochter zu Besuch. Sie fragt den Vater, ob seine Tochter denn wisse, was sie zum Geburtstag bekommt. Die Frage, die nun gestellt wird, lautet: „Was sagt der Vater darauf zur Oma?“ Sofern nicht erkannt wird, dass der Vater eine falsche Überzeugung hat, wird geantwortet: „Die Tochter denkt, dass sie ein Fahrrad geschenkt bekommen wird.“ Erkennt man jedoch, dass der Vater eine falsche Überzeugung hat, müsste man als Antwort des Vaters vermuten: „Sie glaubt, dass sie ein tolles Videospiel geschenkt bekommt.“ (Beispiel aus Sullivan u. Tager-Flusberg 1999).
Typisch entwickelte Kinder lösen solche anspruchsvolleren False-Belief-Aufgaben zweiter Ordnung ab einem Alter von fünf bis sieben Jahren korrekt. Bei diesen Aufgaben geht es um das Verständnis, dass eine andere Person (Tochter) etwas anderes denkt, als das was von ihr angenommen wird, was sie denkt (Vater).
Wimmer und Perner (1983) konnten zeigen, dass Kinder erst mit vier bis sechs Jahren die Fähigkeit erlangen, die richtige Antwort zu geben. Sie beschreiben dies als eine neue kognitive Fähigkeit, bei der Kinder mentale Zustände anderer Personen repräsentieren und vom eigenen Wissen unterscheiden können. Diese „Metarepräsentation“, also die Bildung einer Repräsentation über eine Repräsentation, soll die Kinder erst dazu befähigen, mentale Bewusstseinszustände anderer Personen zu verstehen. Ob es sich dabei jedoch tatsächlich um eine qualitativ neue kognitive Fähigkeit handelt, ist umstritten. Andere Forscher nehmen an, dass mit zunehmendem Alter die exekutiven Fähigkeiten reifen und sich verbessern. Dabei wird davon ausgegangen, dass durch diese Reifung erst die benötigte Kapazität für diese Metarepräsentationen zur Verfügung steht und damit ein Perspektivenwechsel möglich wird (Russell 1997). Dieser Ansatz wurde oben in Kapitel I.5.2 näher beschrieben.
Baron-Cohen et al. (1985) untersuchten die ToM-Fähigkeiten bei Kindern mit Autismus. Dabei wurden typisch entwickelte Kinder (mittleres Alter von 4½ Jahren), Kinder mit Down-Syndrom (mittleres Alter von 11 Jahren) und Kinder mit Autismus (mittleres Alter von 12 Jahren) mit „False-Belief“-Aufgaben untersucht. Das Ergebnis zeigte, dass typisch entwickelte und Kinder mit Down-Syndrom zu 80% die Aufgaben richtig lösen konnten, Kinder mit Autismus hingegen nur zu 20%. Damit wurde für die Autoren deutlich, dass Kinder mit ASS Schwierigkeiten haben, sich in andere hineinzuversetzen.
Der Bereich der Theory of Mind umfasst auch die Fähigkeit, dass man andere Menschen täuschen oder belügen kann. Bei diesen Täuschungen oder Lügen handelt es sich um sogenannte „harmlose Lügen“ („white lies“) oder Notlügen. Diese werden normalerweise in sozialen Interaktionen während der Entwicklung zum Erwachsenen gelernt und gehören mit zu den kulturell geprägten sozialen Fertigkeiten.
Ein klassisches Experiment aus der Entwicklungspsychologie überprüft, ob neurotypische Kinder ihre eigenen Wünsche und Absichten in einer Wettbewerbssituation vor anderen verbergen können (s.u.). Es zeigten sich altersabhängige Ergebnisse (Peskin 1992), die wie bei den „False-Belief“-Aufgaben einer Reifung unterliegen: Nur 29% der Dreijährigen konnte ihre Wünsche verbergen, mehr als 50% der Vierjährigen konnte mindestens einmal nach drei- bis viermaliger Wiederholung ihr Verhalten so anpassen und täuschen, dass sie erfolgreich waren. Fast alle Fünfjährigen waren in mindestens einem der Durchgänge erfolgreich.
Wünsche und Absichten in Wettbewerbssituationen verschleiern
Das zu testende Kind sortiert zunächst Sticker nach ihrer Attraktivität. Danach wird ein sehr begehrenswerter, ein etwas begehrenswerter und ein überhaupt nicht begehrenswerter Sticker ausgesucht. Es werden zwei Puppen mit unterschiedlichem Verhalten vorgestellt: Eine Puppe wählt niemals den Sticker, den das zu testende Kind wählt (kooperativ), die andere Puppe verhält sich immer so, dass sie genau den Sticker wählt, den das Kind auch auswählt (konkurrierend). Immer eine der beiden Puppen ist an einem Auswahldurchgang beteiligt. Die Puppen werden entfernt und das Kind wird gefragt, welchen der drei Sticker es am liebsten mag. Nun erhält das Kind die Information, welche Puppe wählen wird und welches Verhalten diese Puppe hat. Nachdem die Puppe den Schauplatz betritt, wird das Kind nochmals gefragt, welchen Sticker es haben möchte.
Es stellt sich nun die Frage, ob das zu testende Kind fähig ist, bei Auftritt der konkurrierenden Puppe den unattraktiven Sticker zu wählen (zu täuschen), damit es im Endeffekt den attraktiven Sticker für sich selbst auswählen kann.
Baron-Cohen (1992) berichtete in seinem Artikel über die Fähigkeit zur Täuschung bei ASS. Er schreibt, dass Täuschungen ein Wissen über Überzeugungen und deren Manipulierbarkeit voraussetzen. Es handelt sich dabei um einen willentlichen Akt, bei dem der Täuschende annimmt, dass er damit einen Vorteil erlangen kann. Personen mit ASS beschreiben häufig, dass sie Schwierigkeiten haben, zu erkennen, ob andere Menschen sie täuschen. Auch die Fähigkeit, selbst zu täuschen scheint schwer bis unmöglich zu sein oder mit einer mangelnden Motivation einherzugehen. Dies führt häufig dazu, dass direkte, ehrliche Antworten gegeben werden, die von neurotypischen Personen als verletzend empfunden werden können, jedoch nicht als Beleidigung intendiert waren. Wenn beispielsweise eine Person beim Friseur war und eine andere neurotypische Person fragt, ob der Haarschnitt schön aussieht, wird normalerweise „sozial angemessen“ geantwortet, selbst dann, wenn die befragte Person den Haarschnitt selbst nicht schön findet. Ähnliches gilt für Beschenkte, die ein Geschenk erhalten, das ihnen in Wirklichkeit nicht gefällt. Neurotypische Personen haben zumeist gelernt, in bestimmten sozialen Bezügen Fragen nicht zwangsläufig ehrlich zu beantworten, wenn sie dadurch den Fragenden mit der Antwort verletzen würden. Dies fällt Personen mit ASS schwer.
Ein Test, bei dem vierjährige Kinder mit ASS ein Geldstück in einer ihrer Hände verbergen sollten, zeigte, dass sie Schwierigkeiten hatten, andere zu täuschen. Beispielsweise verbargen sie das Geldstück in der einen Hand und ließen die andere Hand geöffnet, sodass man sofort erkennen konnte, in welcher Hand es sich befand. Auch nutzten sie seltener die Möglichkeit, die Position des Geldstücks immer wieder zwischen den Durchgängen zu variieren oder die Hände hinter dem Rücken zu verstecken. Auch offenbarten sie vermehrt selbst, wo sich das Geldstück befand (Baron-Cohen 1992).