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Fazit
ОглавлениеIn den letzten zwanzig Jahren wurde ein besseres Verständnis für die Symptome von ASS entwickelt. In diesem Kapitel wurden drei theoretische Modelle vorgestellt, die versuchen, Aspekte und Symptome bei ASS vorherzusagen und zu erklären. Dennoch besteht bis heute keine Einigkeit dahingehend, welches der theoretischen Modelle ASS am besten beschreibt. Es besteht aber auch die Meinung, dass alle drei theoretischen Modelle (Theory of Mind, exekutive Dysfunktionen und zentrale Kohärenz) zum Teil unabhängige Beiträge zu den Symptomen bei ASS liefern (siehe z.B. Dziobek u. Bölte 2011). Bis heute gibt es vor allem eine Vielzahl von Untersuchungen vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Im Altersbereich der Erwachsenen liegen jedoch weitaus weniger Ergebnisse vor. Auch die Auswirkungen z.B. hinsichtlich Krankenstand, Beruf und Partnerschaft beim hochfunktionalen Autismus und Asperger-Syndrom sind nicht eindeutig. Auch bleibt unklar, wie viele Personen mit ASS durch Kompensation erfolgreich ihr Leben bewältigen und wann Kompensationsleistungen aufgrund der zusätzlichen Anstrengung zu Stress und Krankenstand führen sowie welche Eigenschaften (Intelligenz, vorhandenes Netzwerk, etc.) protektiv wirken können. So lässt sich bis heute auch nicht genau abschätzen, wie stark die einzelnen Symptome im Erwachsenenalter noch sind. Da im ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation, deutsche Modifikation, 2012) ASS als tief greifende Entwicklungsstörung definiert ist, von der man annimmt, dass Symptome ein Leben lang überdauern können, stellt sich die Frage, welche Symptome noch wirken, welche kompensiert werden und welche nicht mehr vorhanden sind. Darüber gibt es bisher nicht genügend Studien, sodass die zufriedenstellende Beantwortung dieser Fragen bisher nicht möglich ist.
Die Theorie der schwachen zentralen Kohärenz bietet durch den Erklärungsansatz mit lokaler versus globaler (holistischer) Verarbeitung den Vorteil, dass nicht nur Schwierigkeiten, sondern auch besondere Fähigkeiten erklärt werden können. Vor allem der Bereich der Wahrnehmung ist ein Schwerpunkt dieser Theorie. Die möglichen Wahrnehmungsphänomene bei Personen mit ASS werden jedoch im ICD-10 nicht berücksichtigt. Dies ändert sich nun im DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) und wird wohl auch im ICD-11 (World Health Organisation 2015) zu den für das Autismus-Spektrum bedeutsamen Symptomen hinzugefügt. Im Vergleich zwischen niedrigem und hohem IQ bei erwachsenen Personen mit ASS können Personen mit höherem IQ bestimmte Theory of Mind-Aufgaben (False-Belief-Aufgaben) gut lösen, die besonders gute lokale Verarbeitungspräferenz z.B. beim Mosaiktest bleibt jedoch erhalten (Happe 1999; Happe u. Frith 2006). Damit stellt sich für die Vertreter der schwachen zentralen Kohärenz die Frage, welche Symptome zur ASS eindeutig dazugehören und welche nicht.
Dysfunktionale exekutive Funktionen werden innerhalb der Theorie exekutiver Dysfunktionen als kausale Schwierigkeiten für eine gestörte Theory of Mind-Entwicklung angenommen. Ob dies tatsächlich der Fall ist, wird bis heute diskutiert. Es ist jedoch ohne Zweifel unmöglich, z.B. False-Belief-Aufgaben zu lösen, wenn starke Beeinträchtigungen der Exekutivfunktionen gegeben sind. Die Frage bleibt, ob es sich hierbei um eine Entwicklungsverzögerung handelt, die gegebenenfalls bei erwachsenen Personen mit ASS und normalem bis sehr gutem IQ dennoch nicht zu Problemen führen muss. Sofern hohe Deduktionsleistungen bei Personen mit ASS vorhanden sind, bereiten False-Belief-Aufgaben keine Schwierigkeiten mehr. Auf der anderen Seite könnten jedoch auch die eingesetzten Testverfahren nicht sensitiv genug sein, um bei hochfunktionalem Autismus und Asperger-Syndrom die möglicherweise auf einem anderen Niveau anzusiedelnden Schwierigkeiten zu erfassen. Die Ergebnisse zu den exekutiven Teilleistungen sind nicht eindeutig. Während einige Forscher Unterschiede zu einer typisch entwickelten Gruppe finden, können andere dies nicht nachweisen. White (2012) stellt die Hypothese auf, dass es sich bei den Testaufgaben zu exekutiven Funktionen mehr um ein Aufgabenstellungsproblem handelt: Werden Instruktionen exakt und explizit gegeben, sind Gruppenunterschiede nicht feststellbar, werden Instruktionen jedoch ungenau gegeben, sodass implizite Informationen erschlossen werden müssen, sind Unterschiede zu erwarten. Sie nimmt an, dass die Schwierigkeiten umso wahrscheinlicher zu Tage treten, je weniger eine Aufgabe geführt und umso schlechter sie strukturiert ist oder wenn sie ein unbestimmtes Ende hat. Ob diese Hypothese zutrifft, muss jedoch noch weiter untersucht werden. Ein weiterer Einwand hinsichtlich der unterschiedlichen Ergebnislage ist der, dass bisher wenig Aufmerksamkeit auf ein möglicherweise kombiniertes Störungsbild von ASS und dem Aufmerksamkeitsdefizit bestand. Laut ICD-10 lässt sich entweder die eine oder andere Diagnose vergeben, jedoch keine Doppeldiagnose. Studien legen jedoch den Schluss nahe, dass bei ca. 40 bis 50% der Personen mit ASS ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom vorliegt (Holtmann et al. 2007). Damit müssen die berichteten Schwierigkeiten bei den Exekutivfunktionen jedoch in einem anderen Licht betrachtet werden, sofern in den Studien nicht darauf geachtet wurde, ob zusätzlich ADS/ADHS-Symptome vorhanden waren oder nicht. Auch die Frage, ob es sich um genau das gleiche Symptombild wie bei Personen mit ausschließlich ADS/ADHS handelt, scheint noch nicht abschließend geklärt zu sein.
Den größten Raum in diesem Kapitel nahm die Theory of Mind ein. Der Fokus lag hier vor allem auf den höheren kognitiven Fähigkeiten. Im Gegensatz zu den anderen beiden theoretischen Ansätzen sind die Testverfahren wesentlich komplexer und die zugrunde liegenden Funktionen weniger gut operationalisiert. Aus diesem Grund wurden in diesem Kapitel zusätzlich verschiedene philosophische Ansätze hinzugefügt, um die Entwicklung einer Theory of Mind durch verschiedene Erklärungsansätze zu beleuchten. Weiter wurde im Kapitel I.5.3.2 der Versuch unternommen, eine Einordnung der verschiedenen mit ToM und Empathie in Verbindung stehenden Begriffe vorzunehmen. Dabei soll die von Singer und Lamm (2009) vorgeschlagene Einordung und Abgrenzung nur als eine Möglichkeit betrachtet werden, da weitere Definitionen und Abgrenzungen aus unterschiedlichen Forschungsbereichen möglich und berechtigt sind. Die Gliederung der verschiedenen mit Empathie in Verbindung stehenden Begriffe von Singer und Lamm (2009) sollte daher als Diskussionsgrundlage angesehen werden.
Weitere Forschung ist nötig, um ein einheitlicheres Bild zu erhalten. Leider explizieren Singer und Lamm die Beziehung der Begriffe Empathie und Theory of Mind nicht, sodass unklar bleibt, inwieweit sich in ihrer Forschung Empathie von ToM abgrenzen lassen und welche Fertigkeiten ToM genau umfassen soll.
Schließlich stellt sich die Frage, welchen Einfluss das soziale Umfeld, vor allem die Familie, auf die Theory of Mind-Entwicklung bei neurotypischen Personen hat und wie Personen mit ASS davon profitieren. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass auch basale Fertigkeiten wie die Anzahl von Informationseinheiten, die im Gedächtnis gehalten werden, ursächliche Auswirkungen auf die Bearbeitung bestimmter ToM-Aufgaben hat. Dennoch kann eine ToM die sozialen und interaktionellen Schwierigkeiten auf einem wesentlich höheren Abstraktionsniveau abbilden als die anderen beiden Ansätze. Damit werden vor allem Symptome auf einer komplexeren Ebene wesentlich griffiger beschreibbar und erfassbar.
Zuletzt soll hier noch darauf hingewiesen werden, dass die Unterscheidung zwischen Asperger-Syndrom, dem frühkindlichen Autismus oder dem atypischen Autismus (ICD-10 Klassifikationen F84.5, F84.0 oder F84.1) in der nächsten Version des WHO-Klassifikationssystems ICD-11 (World Health Organisation 2015) aufgegeben wird, so wie dies beim DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) bereits geschehen ist. Alle Sub-Klassifikationen werden unter dem Namen Autismus-Spektrum-Störungen zusammengefasst. In einem zusammenfassenden Beitrag bezüglich der bisherigen Studienlage über Autismus von Michael Rutter (2013) werden beispielsweise die Symptomüberschneidungen mit anderen Diagnosen angesprochen (beispielsweise ADHS oder Schizophrenie) und kritisch diskutiert. Durch den Wegfall z.B. der Diagnose Asperger-Syndrom könnte sich auch die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems für gut kompensierte autistische Personen ändern, d.h. dass diese Gruppe keine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum mehr erhalten. Es bleibt abzuwarten, ob dies der Fall sein wird. In der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Freiburg wird die Erfahrung gemacht, dass gut kompensierte autistische Personen manchmal erst im zweiten Schritt als autistisch erkannt werden. Der Grund für einen stationären Aufenthalt sind häufiger andere Schwierigkeiten (z.B. Depression oder Erschöpfungssymptomatik). Die Entstehung der Depression lässt sich z.T. durch die autistische Grundsymptomatik und der damit einhergehenden über die Zeit nicht mehr vollständig funktionierenden Kompensation erklären. Dies bedeutet, dass eine zuerst nicht krankheitswertige autistische Symptomatik mit zunehmendem Alter und/oder der Zunahme von berufsbedingten Stressoren dennoch krankheitswertig werden kann. Konkrete Hilfestellungen mit Berücksichtigung auf den zugrunde liegenden Autismus zur Vermeidung dieser negativen Entwicklung scheinen häufig angebracht zu sein.