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5.4 Weitere Theorien
ОглавлениеAußer den drei bisher beschriebenen kognitiven Theorien zur Erklärung der ASS-Symptomatik werden in der Literatur weitere genannt: Hierzu zählen beispielsweise die Enhanced Perceptual Functioning Theorie (EPF, Mottron u. Burack 2001; Mottron et al. 2006) oder die Extreme Male Brain Theorie (EMB, Baron-Cohen 2002).
Bei EPF handelt es sich um eine teilweise mit WCC überschneidende Theorie. Die Autoren gehen davon aus, dass der präferierte lokale Verarbeitungsstil für Aufgaben zu mehr Flexibilität führt, wobei eine globale Verarbeitung dennoch möglich ist, d.h. kein tatsächliches Defizit darstellt.
Die EMB basiert auf der Idee, dass Autismus ein testosteron-induzierter männlicher Zustand ist. Baron-Cohen führt dafür Unterschiede zwischen den Geschlechtern an, bei denen neurotypischen Frauen im Durchschnitt besser als neurotypische Männer abschneiden: Sprachaufgaben, soziale Urteile, Empathie und Kooperation. Auf der anderen Seite scheinen Männer besser im mathematischen Schlussfolgern (Systematisieren), der Embedded Figures Task und der mentalen Rotation zu sein (Baron-Cohen 2002). Die bei neurotypisch entwickelten Frauen im Durchschnitt besser ausgebildeten Fähigkeiten (z.B. Sprachaufgaben, soziale Urteile, Empathie und Kooperation) werden bei Autismus als defizitär, und die bei neurotypisch entwickelten Männer im Durchschnitt besonders gut funktionierenden Fähigkeiten (z.B. mathematisches Schlussfolgern, Systematisieren) bei Autismus als besondere Stärken beschrieben.
Eine weitere Theorie zur Erklärung der autistischen Symptomatik im Bereich sozialer Interaktion ist die Social Motivation Theory (SMT) von Chevallier und Kollegen (2012). Diese versucht, die autistische Symptomatik nicht auf der Ebene kognitiver Beeinträchtigungen zu beschreiben, sondern auf der Ebene motivationaler Faktoren bzw. Defizite. Die Autoren nehmen an, dass eine verminderte sozial-motivationale Ausprägung bei ASS die Entwicklung sozial-kognitiver Verhaltensweisen verschlechtert und damit ursächlich für sozial-kognitive Schwierigkeiten sind. Die Theorie versucht, die Defizite auf verschiedenen Abstraktionsniveaus zu erklären: i. evolutionäre Entwicklung, ii. biologische Mechanismen vermittelt durch ein Netzwerk kortikaler und subkortikaler Strukturen und iii. dem aus den biologischen Mechanismen abgeleiteten motivationalen sozialen Verhalten bei typisch entwickelten Personen (bevorzugte Lenkung der Aufmerksamkeit auf soziale Inhalte, Anreiz- und Belohnungswert sozialer Stimuli und Freude an Kooperation sowie die Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen über einen längeren Zeitraum). Die Autoren nehmen an, dass entscheidende Entwicklungsschritte (möglicherweise in einer sensitiven Entwicklungsperiode) nicht oder nur ungenügend stattfinden können, wenn die soziale Motivation und Aufmerksamkeit schon in einer sehr frühen Entwicklungsphase vermindert sind. Dies führt dann letztendlich zu den Schwierigkeiten der sozialen Kognition, wie sie in dem Erklärungsansatz eines Theory-of-Mind-Defizits beschrieben werden. Die Autoren sind sich jedoch bewusst, dass die SMT am besten die Symptomatik in Bezug auf die ToM erklärt – andere Schwierigkeiten im nicht-sozialen Bereich jedoch kaum. Letztere sind besser über Theorien wie der Weak Central Coherence oder Executive Dysfunction beschreibbar. Dennoch handelt es sich bei der SMT um ein interessantes Konzept und den Versuch, die Schwierigkeiten auf einer anderen, möglicherweise grundlegenderen Ebene für Personen mit Autismus in einer sozialen Welt zu erklären.