Читать книгу Konzerte für Menschen mit Demenz - Группа авторов - Страница 12
1.1.4 Ressourcen fördern statt Retrogenese fokussieren
ОглавлениеRetrogenese-Modell
Ziel: Vernunft im Handeln erkennen
Es erleichtert die Begegnung mit Betroffenen, wenn man ein Verständnis für die Welt in »Anderland« entwickelt, also versucht die Welt in der die Betroffenen gedanklich leben, zu verstehen. Ein defizitorientiertes Modell für die wahrgenommene Veränderungen ist das Retrogenese-Modell von Reisberger et al. (2002). Es ist eine Hilfskonstruktion, um die Phasen der progredient verlaufenden Demenz zu verstehen. Reisberger nimmt an, dass Menschen mit Demenz sukzessive die Entwicklungsstufen des Menschen von der Geburt bis zum 20. Lebensjahr rückwärts durchlaufen. Haben diese zunächst nur leichte Probleme mit der Merkfähigkeit, so regredieren diese zunehmend in den funktionellen Status von Jugendlichen und Kindern. Im mittleren Schweregrad der Demenz ist das Bewältigen von Alltagsanforderungen (z. B. Kochen, Gartenarbeit) eingeschränkt und das Verhalten ist für Außenstehende zunehmend schwierig zu erklären oder zu deuten. Bei sehr hohem Schweregrad werden Hilfen benötigt, wie für ein zweijähriges Kind, bei dem selbstständiges Anziehen, Waschen oder die Urin- und Darmkontrolle nicht möglich sind. Schließlich ist bei schwerster Demenz auch das Sprechen reduziert; Gehen und Sitzen sind ohne fremde Hilfe nicht möglich, so wie man es vom Säugling kennt. Das Modell hat einen Wert, um den sukzessiven Abbau von einstmals vorhandenen Fähigkeiten zu verstehen. Es ist im Alltagverständnis weit verbreitet. Allerdings wird der Vergleich mit kindlichen Entwicklungsstufen den Betroffenen nicht gerecht, da diese mehrere Jahrzehnte Wissen, Fertigkeiten, Weisheit und Fähigkeiten erworben haben. In der Pflege und Betreuung wird dagegen ein personenzentrierter Ansatz verfolgt. Dieser stellt die Person und die Persönlichkeit in den Mittelpunkt. Der Mensch wird als einzigartiges Subjekt mit ganz individuellen Unterstützung- und Beziehungsbedarfen verstanden (DNQP 2019). Mit ihrer Persönlichkeit sind die Betroffenen eingebettet in eine räumliche und soziale Umwelt, die deren Leben geprägt hat, typische Reaktionsmuster hat entstehen lassen und zu einer ganz eigenen individuellen Weltsicht beigetragen hat. Im Verständnis der Menschen mit Demenz spielt daher die Deutung aus der Biografie heraus eine wichtige Rolle (vgl. Berendonk 2015). Die Lebensgeschichte bestimmt unsere Gewohnheiten, die oft automatisiert oder ritualisiert sind. In der Begegnung müssen diese Bedeutungszusammenhänge erahnt, gedeutet oder erkannt werden. Der Anspruch stets die »Vernunft im Handeln« der Menschen mit Demenz zu erschließen, erleichtert den Umgang und ermöglicht Erklärungen für scheinbar »unsinniges« Verhalten – auch bei musikalischen Angeboten.
Dazu ein Beispiel: Ein Mann mit Demenz lauscht schunkelnd bei einem sommerlichen Open-Air-Konzert dem Walzer »An der schönen blauen Donau«. Am Ende des Liedes reicht der Mann den Menschen links und rechts neben sich die Hand und wünscht allen ein gutes neues Jahr. Warum tut er das? Weil es für ihn zum festen Ritual gehörte seit 1959 am Neujahrstag das Konzert der Wiener Philharmoniker im Fernsehen zu sehen. Den Walzer verbindet er automatisch mit »Neujahr« und handelt entsprechend.
Emotionalität von Musik ist biografisch bedingt.
Es erleichtert das Verständnis für manche ungewöhnlich erscheinende Verhaltensweisen, wenn man die Erfahrungen und Erlebnisse, die für die Personen individuell bedeutsam waren und mit denen Emotionen verbunden sind, kennt. Der Partner bzw. die Partnerin oder die Kinder können aufgrund der gemeinsam verbrachten Zeit und der gemeinsamen Rituale am besten erklären, welche Emotionen zu erwarten sind, wenn der bzw. die Betroffene eine bestimmte Musik hört. In Institutionen der Altenhilfe ist es Aufgabe von professionellen Pflegenden diese »Biografiearbeit« zu leisten, idealerweise mit Beteiligung der Angehörigen. Wenn klar ist, was positive Emotionen auslöst, dann ist das ein wichtiger Schlüssel, um eine hohe Lebensqualität zu erreichen. Wenn die Ratio in den Hintergrund tritt, dann ist dennoch ein Zugang durch positive sinnliche Erfahrungen, Berührung und berührende Musik möglich. Die meisten Menschen nutzen Musik aktiv, um sich bewusst an schöne Momente zu erinnern oder auch um trübe und traurige Momente zu »übertönen«. Dies funktioniert auch bei Menschen mit Demenz.