Читать книгу Schüchterne und sozial ängstliche Kinder in der Schule - Группа авторов - Страница 22
1.4 Selektiver Mutismus
ОглавлениеEs gibt ein Symptom bei schüchternen, sozial ängstlichen Kindern, das zu einer anderen internalisierenden Störung differentialdiagnostisch abgegrenzt werden muss: Es geht um das Sprechen bzw. das Nicht-Sprechen. Sowohl Kinder mit selektivem Mutismus als auch Kinder mit sozialer Ängstlichkeit zeigen bezüglich des Sprechens deutliche Auffälligkeiten, aber in je unterschiedlicher Weise. Während Kinder mit selektivem Mutismus in bestimmten Situationen nicht sprechen, in anderen Situationen sich jedoch problemlos äußern, fallen Kinder mit sozialer Angst vor allem durch zu leises und undeutliches Sprechen auf. In neuen und Bewertungssituationen kann es auch vorkommen, dass sozial ängstliche Kinder vorübergehend nicht sprechen. Werden Kinder mit sozialer Angst mit neuen Situationen und Personen vertraut, verschwinden die Auffälligkeiten des Sprechens, sie gewöhnen sich also an diese soziale Situation. Beim selektiven Mutismus verhält es sich anders. Diese Kinder reden immer in bestimmten Situationen nicht, z. B. im Kindergarten oder in der Schule. Zu Hause sprechen sie unauffällig und altersentsprechend. Hin und wieder kann es auch umgekehrt sein. Die Klassifikationssysteme verwenden die Formulierung emotional bedingte Selektivität des Sprechens (ICD-10: F 94.0); Dilling & Freyberger, 2019) bzw. andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen, in denen üblicherweise Reden, Erzählen, Antworten erwartet werden (DSM-5 2015). In der ICD-10 wird der Begriff elektiver Mutismus verwendet; im DSM-5 heißt es selektiver Mutismus. Im ICD-11-Katalog, der 2019 von der WHO verabschiedet wurde, wird die Störung ebenfalls selektiver Mutismus genannt.
Es stellt sich die Frage, zu welcher Störungsgruppe der selektive Mutismus gehören soll, mehr zu internalisierenden Störungen, also zu den Angststörungen, oder zu einer eigenständigen Störungsgruppe. In der ICD-10 ist der elektive Mutismus in der Gruppe der Störungen sozialer Funktionen eingeordnet. In der ICD-11 wird der selektive Mutismus als eigenständige Angststörung betrachtet. Das DSM-5 fasst den selektiven Mutismus als einen Subtyp in der Gruppe der Angststörungen auf. Dies ist nicht unumstritten, ob der selektive Mutismus tatsächlich zu den Angststörungen gehört (Muris & Ollendick, 2015). In einer aktuellen Studie von Poole et al. (2020) wird der Frage nachgegangen, ob man selektiven Mutismus bei Kindern als Extremvariante der Störung mit sozialer Ängstlichkeit begreifen kann und inwiefern sich diese Kinder von solchen mit einer Störung mit sozialer Ängstlichkeit unterscheiden oder auch nicht. Poole et al. (2020) betrachten dabei subjektive Daten von Kindern, Lehrern und Eltern (Selbst- und Fremdurteil), führen Verhaltensbeobachtungen in standardisierten Situationen durch (per Video dokumentiert) und untersuchen mit Hilfe von Speichelkortisol die Stressreaktivität der Kinder. Neben einer Kontrollgruppe gibt es eine Gruppe von Kindern, die selektiven Mutismus und eine soziale Angststörung kombiniert aufweisen; eine weitere Gruppe zeigt nur soziale Angst. Interessant war das Ergebnis, dass beide klinischen Gruppen ähnlich hohe soziale Angst aufwiesen. Trotz der Überschneidungen von sozial ängstlichen Kindern mit und ohne selektiven Mutismus sollte der selektive Mutismus nicht als ein besonders stark ausgeprägter Subtyp der Störung mit sozialer Ängstlichkeit betrachtet werden. Denn zu einer weiteren Beurteilung dieses Sachverhaltes muss zukünftig eine weitere Gruppe von Kindern in eine solche Studie einbezogen werden, nämlich Kinder nur mit selektivem Mutismus ohne eine komorbide Störung mit sozialer Angst (Poole et al., 2020).
Auch die Studie von Schwenck et al. (2019) geht einer ähnlichen Frage nach, nämlich, zu welcher Störungsgruppe selektiver Mutismus letztlich gehört. Ihre Ergebnisse sprechen dafür, dass selektiver Mutismus eher eine Angststörung mit einem speziellen Angstprofil darstellt als eine Extremform einer Störung mit sozialer Ängstlichkeit. Obwohl nämlich beide Störungsgruppen eine ähnlich stark ausgeprägte Angst beim Anschauen von 21 verschiedenen Videosequenzen angaben, hoben doch die Kinder und Jugendlichen mit selektivem Mutismus im Vergleich zu solchen mit sozialer Angststörung hervor, dass ihre Angst besonders bei Videosequenzen hervorgerufen wurde, wenn diese Sprechanforderungen zeigten, im Unterschied beispielsweise zu peinlichen Situationen.
Es bleibt also eine differentialdiagnostische Herausforderung, eine Störung mit sozialer Ängstlichkeit von einem selektiven Mutismus zu unterscheiden bzw. abzugrenzen. Die sehr selten auftretende Störung selektiver Mutismus mit einer Punktprävalenz zwischen 0,03 % und 1 % in klinischen oder schulischen Stichproben (DSM-5 2015, S. 265) mahnt zu genauer multimodaler und multimethodaler Prüfung der relevanten diagnostischen Kriterien, zumal die verschiedenen Ängste im Kindes- und Jugendalter – zu den hier ausgeführten gehören zudem die phobische Störung des Kindesalters, die generalisierte Angststörung und die spezifische Phobie – untereinander komorbid, d. h. gleichzeitig, auftreten können. Einen Überblick dazu und zu weiteren, notwendigen differentialdiagnostischen Abgrenzungen gibt der Leitfadenband Kinder- und Jugendpsychotherapie Soziale Ängste und Leistungsängste von Büch et al. (2015, S. 6 und 7). Darüber hinaus ist für den Schulbereich ein Screening-Verfahren hilfreich, damit Lehrkräfte selektiven Mutismus zuverlässig in ihren Lerngruppen erkennen können. Ein solches evaluiertes Instrument liegt mit dem Dortmunder Mutismus Screening für die Schule (DortMuS-Schule) vor (Starke & Subellok, 2017), das von Lehrkräften bei Kindern im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren angewendet werden kann. Es besteht aus zwei Skalen mit insgesamt 17 Items, Schweigen im Unterricht (Skala 1) sowie Hilfe und Unterstützung einfordern (Skala 2). Es handelt sich also um ein ökonomisches Verfahren, das für den Alltag einer Schule geeignet ist. Da dieses Screening es jedoch nicht leisten kann, sehr schüchterne von selektiv mutistischen Kindern zu unterscheiden, sollte im Verdachtsfall eine weitergehende, leitlinienorientierte Diagnostik eingeleitet werden.