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4. Die Lage der orthodoxen Christen im Osmanischen Reich
ОглавлениеDer Ökumenische Patriarch war für alle orthodoxen Untertanen des Osmanischen Reichs zuständig. Er besaß damit eine ihm vom osmanischen Sultan übertragene herausragende Stellung gegenüber allen anderen bis dahin existierenden orthodoxen Patriarchaten und Erzbistümern. Die Angehörigen der anderen christlichen Patriarchate und Kirchen wurden nach und nach dem Ökumenischen Patriarchat unterstellt. Im Laufe der Jahrhunderte erfolgte für manche ein Hin und Her zwischen Selbstständigkeit und Unterstellung. Die Selbstständigkeit der Kirchen entwickelte sich in manchen Fällen parallel zur politischen Unabhängigkeit der Völker. Ob, wie immer wieder behauptet wird, das Patriarchat für das Familienrecht, das Eherecht und das Erbrecht aller orthodoxen Untertanen des Osmanischen Reiches zuständig gewesen ist, kann auf Grund der Quellenlage nicht positiv beantwortet werden. Sicher lässt sich belegen, dass es für die orthodoxen Untertanen immer wieder einzelne lokale gesetzliche Regelungen gab, die unabhängig vom Ökumenischen Patriarchat vollzogen wurden.
Das Wort Millet kommt vom arabischen Wort Mille und bedeutet so viel wie „ein Wort“. Eine Gruppe von Menschen, die Anhänger einer Wort- bzw. Buchreligion waren, wurden im Osmanischen Reich daher Millet genannt. Millets waren also keineswegs nur Juden und Christen, sondern alle Angehörigen einer Buchreligion, auch die Muslime gehörten dazu. Die Gleichsetzung von Millet und Nation ist eine spätere Entwicklung und hat mit der ursprünglichen Bedeutung des Wortes nicht mehr viel zu tun.
Die Bevölkerung des Osmanischen Reiches war in zwei Teile aufgeteilt: die Muslime und die Nicht-Muslime. Die Angehörigen der muslimischen Millets gehörten überwiegend zur sunnitischen Konfession. Die Angehörigen der christlichen Millets verteilten sich auf verschiedene christliche Kirchen (Orthodoxe, Orientalisch-Orthodoxe, Katholiken, Protestanten). Die Angehörigen der Millets waren keineswegs immer Teil einer Minderheit. Der Status der nicht-muslimischen Millets weist in der 700jährigen Geschichte des Osmanischen Reiches je nach Epoche und Ort einige Besonderheiten auf. In Bezug auf die Rechte und Pflichten der christlichen Bevölkerung brachten historische Veränderungen wie etwa die Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 oder die „Reformen“ in der Tanzimatszeit der 1830er und 1850er Jahre Veränderungen mit sich. Nach dem Jahr 1453 waren für viele Jahrhunderte nur drei große Millets, nämlich diejenigen der Juden, der Orthodoxen sowie der Armenier, von den Osmanen anerkannt. Im Laufe des 19. Jh. entstanden aber weitere Millets, so zum Beispiel ein armenisch-katholischer Millet (1831), ein katholischer Millet (1850), oder ein armenisch-protestantischer Millet (1878). Die bereits seit der Eroberungszeit bestehenden Millets erhielten im 19. Jh. eigene Verfassungen; im Jahr 1862 die Orthodoxen, 1863 die Armenier und 1865 die Juden. Auch die nicht-muslimischen Millets unterstanden mit allen Untertanen des Osmanischen Reiches dem islamischen Recht der Scharia. Nur in religiösen Fragen durften nicht-muslimische Millets ihre Angelegenheiten innerhalb ihrer Religions- bzw. Konfessionsgemeinschaft regeln
Die höchsten Geistlichen der nicht-muslimischen Millets, z.B. der Oberrabiner der Juden, der Ökumenische Patriarch der orthodoxen Christen oder der Armenisch-Apostolische Patriarch wurden Milletbashehe (Oberhaupt) genannt. Sie hatten einen Status wie Staatsbeamte. Dieses Amt konnte vom osmanischen Staat gegen Bezahlung an Bewerber verpachtet werden. In der Forschung wird deshalb zunehmend von einem Iltizam-System (Verpachtungssystem) gesprochen. Auf Grund des neu erschlossenen Quellenmaterials wird die herkömmliche Bezeichnung Millet-System für den Status der nicht-muslimischen Buchreligionen neu zu überdenken sein.