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4. Zur Aktualität: Bürgergesellschaft auch als Bürgergemeinschaft zu denken
ОглавлениеZweifelsfrei sollte der Vergleich von antiker Bürgergemeinschaft und moderner Bürgergesellschaft nicht überstrapaziert werden, zumal zwischen diesen beiden Perspektiven gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Entwicklungen liegen, die sich kaum bis gar nicht in einer einzigen Zusammenschau darstellen lassen. Und dennoch zeigt allen voran die weltweite COVID-19-Pandemie, dass die modernen Bürgergesellschaften vielleicht doch mehr Bürgergemeinschaften sind, als es zum einen die historischen, soziologischen und philosophischen Entwicklungen annehmen lassen und zum anderen die individuellen, mündigen und in Gesellschaft lebenden – und dadurch in dem Ausmaß ihrer politischen Partizipation völlig dem eigenen Urteil überlassenen – Bürgerinnen und Bürger heute wahrhaben mögen. Erschwerend kommt nun in dieser Zeit der Krise hinzu, dass Rationalisierung, Globalisierung und Kosmopolitisierung das Leben des Menschen und dessen subjektive Lebensgestaltung keineswegs einfacher machen.
Durch die Rationalisierungsprozesse sämtlicher Lebensbereiche und Lebensbeziehungen war und ist die Globalisierung eine weitere durch und durch rationale Folge, und das in allen ihren positiven wie negativen Auswirkungen. Wirtschaft, Politik und Wissenschaft finden heute immer auch im globalen Kontext statt. Und das, so der Soziologe Ulrich Beck, bringe nun die Notwendigkeit mit sich, den Beobachterstandpunkt auf die Gesellschaft (bzw. die Gesellschaften) zu verändern. Globale Probleme – wie u. a. eine weltweite Pandemie – könnten, so Ulrich Beck, nur im globalen Kontext gelöst werden. Und dafür benötige es des „kosmopolitischen Blicks“ auf diese Probleme.24 Ökologie-, Ökonomie-, Gesundheits- und Politikkrisen haben längst nicht mehr ausschließlich Auswirkungen auf das jeweils betroffene Land, die Region oder den Kontinent.
Die COVID-19-Pandemie zeigt zum einen, wie fragil moderne Gesellschaften in weiten Teilen der Welt heute tatsächlich sind. Auch hierfür ist Ulrich Beck ein interessanter Bezugspunkt, der bereits im Jahr 1986 von Risikogesellschaften in Anbetracht globaler Entwicklungen gesprochen hat. Kennzeichnend für diese Risikogesellschaften sei es, aufgrund von Modernisierung, Technisierung, kurz: Forschung und Entwicklung, leicht von einem Extrem in das andere Extrem kippen zu können. Darüber hinaus zeigt sich zum anderen, dass die modernen Gesellschaften nach wie vor zwingend auf ein Grundausmaß an politischer Partizipation der Bürgerinnen und Bürger angewiesen sind. Sei es in dieser aktuellen wie akuten Krise das Mitverfolgen der gesundheitlichen Entwicklungen im eigenen Land und vielleicht auch, darüber hinaus, das Mittragen etwaiger Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie oder das Zurückfahren individueller – und zumeist durch ein gewisses Grundmaß an Mündigkeit entwickelter und liebgewonnener – Lebensgewohnheiten für einen gewissen Zeitraum. Das alles führt vor Augen, dass die Bürgergesellschaft, trotz aller Entwicklungen, in ihrem Kern auch Bürgergemeinschaft bedeutet, zumal einige wenige Menschen in ihrem Handeln dazu ausreichen würden, die genannten Maßnahmen und deren erhofften gesundheitlichen, ökonomischen wie politischen Nutzen nicht nur zu irritieren, sondern darüber hinaus zu konterkarieren.
Demnach lässt sich schließen, dass die Entwicklungen von der antiken Bürgergemeinschaft hin zur modernen Bürgergesellschaft auf der einen Seite zwar durch Individualisierung, Mündigkeit und durch den Weg hin zur offenen Gesellschaft in modernen Demokratien zweifelsfrei vielfach vollzogen worden ist, dabei jedoch, zum anderen, die Bürgergemeinschaft nach wie vor vorhanden ist bzw. vorhanden sein muss. Eine Einsicht, die in Krisenzeiten deutlicher zu erkennen ist als in anderen Zeiten. Bezeichnend hierfür ist die Ansprache des österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen an die österreichische Bevölkerung im Zuge der Verordnungen zum zweiten Corona-Lockdown in Österreich Anfang des Novembers im Jahr 2020. Er appellierte in seiner Sechs-Minuten-Rede drei Mal an „die Gemeinschaft“ und sprach kein einziges Mal zur oder über „die Gesellschaft“.25