Читать книгу Bürgergesellschaft heute - Группа авторов - Страница 20
Bürgergesellschaft, Zivilgesellschaft und Bürgertum
ОглавлениеSpricht man heute von „Zivilgesellschaft“ oder „Bürgergesellschaft“, so wird damit das Engagement von Menschen in verschiedensten Bereichen außerhalb der eigentlichen „Politik“ und außerhalb ihrer familiären und beruflichen Sphären bezeichnet. Dieses Engagement äußert sich überaus vielfältig in lokalen, regionalen oder auch überregionalen Initiativen im den Bereichen Kultur, Umwelt, Dritte Welt, Pflege, Betreuung von Asylanten usw., kann aber auch in „Bürgerinitiativen“ die Beeinflussung von Politik und Verwaltung anpeilen. In autoritären Staatswesen kann die Zivilgesellschaft auch zu einer mächtigen Bewegung zur Veränderung des politischen Systems anwachsen.1 Zu erinnern ist an das Občanské fórum (OF; deutsch: Bürgerforum) im tschechischen Teil der damaligen Tschechoslowakei, gegründet am 19. November 1989, zwei Tage nach Beginn der „samtenen Revolution“ in Prag.2 Sowohl die Begriffe „Bürger-“ bzw. „Zivilgesellschaft“ wie auch Občanské fórum orientieren sich am mündigen, aktiv interessierten und engagementbereiten Staatsbürger (oder der entsprechenden Bürgerin).
Die folgenden Überlegungen gelten der Frage, inwiefern ältere Entwürfe von Bürgertum und „bürgerlicher Gesellschaft“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts etwas mit den modernen zivilgesellschaftlichen Erscheinungsformen zu tun haben. Denn in modernen demokratischen Rechtsstaaten erfolgt zivilgesellschaftliches Handeln zumeist im Rahmen der von „bürgerlichen“ Vordenkern, Vorkämpfern, Revolutionären und Politikern errungenen rechtlichen Möglichkeiten. Zentrale zivilgesellschaftliche Freiheiten sind das Recht auf persönliche Freiheit, auf Erwerbsfreiheit, auf Freiheit der Religionsausübung und der Meinungsäußerung, die Pressefreiheit, das Vereins- und Versammlungsrecht, das Petitionsrecht. Ergänzt werden sie durch den Schutz der Privatsphäre (Hausrecht) und das Briefgeheimnis – das die meisten Zeitgenossen heutzutage durch den Gebrauch des Internets durchaus freiwillig entsorgen.
Nun gibt es im Deutschen ein begriffliches Problem, das die meisten anderen Sprachen nicht kennen. Im Deutschen bezeichnet der Begriff „Bürger“ sowohl den (vollberechtigten) Bewohner einer vormodernen Stadt wie den (vollberechtigten) Staatsbürger. Dagegen unterscheidet das Französische zwischen „citoyen“ (Staatsbürger) und „bourgeois“ (Stadtbürger, von „bourg“, das sowohl „Markt“ bedeutet, wie auch als „fauxbourg“ die „Vorstadt“), das Englische kennt sowohl den „citizen“ (Staatsbürger) als auch den „common“ oder auch „burger“ (Stadtbürger), das Italienische den „cittadino“ und den „borghese“. Klar, dass hier einerseits das lateinische „civis“ und die dazugehörige „civitas“ dahintersteht, andererseits ein germanisch-spätlateinisches „burgus“, was zunächst nur ein Kastell bezeichnete, später aber auch auf – eben – „bürgerliche“ Siedlungen, Märkte und Städte, überging.3 Auch in den slawischen Sprachen wird zwischen Staatsbürger (slowenisch „državljan“) und Stadtbürger (slowenisch „meščan“, ganz ähnlich russisch) unterschieden.
Aber auch im Deutschen bleibt, neben dem heimischen Wort, doch auch das vom „civis“ stammende „Zivile“ lebendig, zunächst einmal als Gegensatz zum Militär, aber auch sehr früh als Begriff, der ein bestimmtes – eben „zivilisiertes“, also gewaltfreies, gleichberechtigtes – Verhalten im Verkehr der Menschen miteinander bezeichnet. Im 16. Jahrhundert aus dem Französischen „civil“ entlehnt (vom lateinischen „civilis“), bedeutete es „bürgerlich“, „patriotisch, staatlich, öffentlich“.4 Im 18. Jahrhundert kam – im Zuge der Aufklärung – die Bedeutung „zivilisiert“ im Sinne von „aufgeklärt, gewaltfrei, gutes Benehmen“ dazu, wobei aber im Deutschen wohl auch noch immer die alte stadtbürgerliche Bedeutung von „Ehrsamkeit“ (eheliche Abstammung, ehrsames Verhalten) mitschwingen mochte. Dieses Verhalten erforderte eine rechtliche Normierung: 1789 definierte der große österreichische Aufklärer Gottfried van Swieten bereits die „bürgerliche Gesellschaft“ im Gegensatz zu „einer Horde wilder Menschen“ durch jene „Grundsätze ihrer Verbindung“, dass es „kein Recht ohne Verbindlichkeit und keine Verbindlichkeit ohne Recht“ gibt.5 Die „bürgerliche Gesellschaft“ (Staatsbürgergesellschaft) benötigt daher als Basis ein „bürgerliches Recht“, das ja nun in ebendieser Zeit kodifiziert wurde und 1812 als „Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch“ (ABGB)6 in Kraft trat. Schon in der Zeit Josephs II. begegnet uns erstmals der Begriff des „Staatsbürgers“ in der Gesetzgebung; auch das ABGB geht von einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft der Bewohner jener habsburgischen („österreichischen“) Länder aus, in denen das ABGB in Kraft gesetzt wurde (nicht in Ungarn).
Aber war die „Gesellschaft“ nicht nur in Mitteleuropa, sondern auf dem ganzen Kontinent schon so weit, dass man sie als Gesellschaft gleichberechtiger Menschen ansehen konnte? Tatsächlich bestanden in den allermeisten Regionen noch feudale Abhängigkeiten. Die bäuerliche Bevölkerung, überall noch die Bevölkerungsmehrheit, konnte noch keineswegs als Teil dieser neuen, allgemeinen bürgerlichen Gesellschaft gelten. Die Französische Revolution setzte 1789 erstmals in Europa mit dem Sieg des Slogans „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ die Aufhebung aller feudalen Bindungen durch. Joseph II. hatte schon einige Jahre vorher für seine „österreichische Monarchie“ zumindest die Leibeigenschaft aufgehoben (ab 1781, zuerst für Böhmen), doch blieben die Bauern noch mit ihrem Grund und Boden von Grundherren abhängig. Diese Abhängigkeit existierte im Kaisertum Österreich weiter bis 1848, sie galt als Teil der „Landesverfassungen“, was auch bedeutete, dass diese Verhältnisse nicht vom ABGB erfasst wurden (sie galten also nicht als Pacht).