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1 Palliative Geriatrie Marina Kojer

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Als ich Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der Geriatrie zu arbeiten begann, erkannte ich bald, dass sich vieles ändern musste, wenn ich in diesem Beruf Erfüllung finden sollte. Nichts war so, wie ich es mir vorgestellt hatte: Meine Patientinnen waren weder »lieb« noch »dankbar« noch »zufrieden«, sondern zum Großteil mürrisch, aggressiv, unzugänglich und unglücklich. Es fiel mir schwer, mich ihnen zuzuwenden. Ich musste herausfinden, was diese alten Menschen brauchten und wünschten (aber sichtlich nicht bekamen!). Wie konnte ich ihnen als Ärztin dazu verhelfen? Die meisten Pflegekräfte und Ärztinnen, denen ich begegnete, wirkten uninteressiert-gleichmütig und schienen sich dabei auch recht wohl zu fühlen. Würden sie sich jemals aus ihrer Lethargie aufrütteln und für neue Ideen begeistern lassen? An der Logik der Altenarbeit, der ich hier begegnete, stimmte etwas von Grund auf nicht. Was es genau war, hätte ich nicht sagen können, ich wusste nur, dass das, was geschah, an den meisten Patientinnen vorbeizielte.

Das größte Pflegeheim Europas war damals in vieler Hinsicht ein Aufbewahrungsort für anderwärts nicht mehr tragbare alte Menschen. Im Gegensatz zu den meisten solcher Institutionen beschäftigte es eine große Zahl angestellter Ärztinnen. Sie betreuten 3.000 Langzeitpatientinnen rund um die Uhr. Sie behandelten allfällige akute Krankheiten und führten, da sie im Allgemeinen nur wenig Zeit mit ihren Patientinnen verbrachten, darüber hinaus ein ziemlich bequemes Leben. Die Pflegenden arbeiteten intensiv, die meisten Tätigkeiten dienten allerdings der Aufrechterhaltung der Reinlichkeit. Einige Schwestern, gütige, mütterliche Frauen, suchten aufrichtig nach einem Weg zu den alten Menschen, ein paar schlecht oder gar nicht ausgebildete Gutwillige taten freundlich, was von ihnen verlangt wurde, die meisten anderen erledigten einfach ihren Job. Eine Zeitlang überlegte ich ernsthaft, ob ich mich nicht nach einem anderen Arbeitsplatz umsehen sollte.

Meine Ratlosigkeit angesichts dieser bedrückenden Gegenwart machte mich zu Beginn fast aktionsunfähig. Ich war enttäuscht – enttäuscht vom Alltag des Pflegeheims (ich hatte es mir ganz anders vorgestellt), enttäuscht von den Patientinnen (sie »wollten« mich gar nicht), enttäuscht von mir selbst. Da ich mich von Kindheit an zu alten Menschen besonders hingezogen gefühlt hatte, hatte ich mich bewusst für eine Arbeit in der Geriatrie entschieden. Ich war mit vielen unrealistischen Ideen und Plänen hierhergekommen, doch diese idealistischen Vorstellungen verloren angesichts ernüchternder Tatsachen rasch ihren Glanz.

Ich war gekommen, um mich als Ärztin und als Mensch für alte Menschen einzusetzen. Ich wollte nicht nur ihre Krankheiten behandeln, ich wollte sie als ganze Menschen wahrnehmen, mich ihnen zuwenden, ihr Vertrauen und ihre Zuneigung gewinnen und mit ihnen über ihr Leben sprechen. Meine Patientinnen sollten das Pflegeheim als zweite Heimat erleben und Freude am Leben haben. Die Realität schaute anders aus. Wenn ich zurückdenke, tauchen viele Bilder vor mir auf, Bilder, die sich – wenn auch mit unterschiedlichen Gesichtern, Körpern und Stimmen – im Laufe der Jahre noch oft wiederholten. Erst in den letzten zehn Jahren meiner Tätigkeit als ärztliche Leiterin einer Abteilung kamen seltener neue, negative Bilder hinzu.

Der demenzkranke, alte Mann ist mit einem zusammengerollten Leintuch an seinem Stuhl festgebunden. Wird das Leintuch entfernt, versucht er sogleich aufzustehen und fällt hin. Er könnte sich dabei verletzen, davor muss er »geschützt« werden. Es »geht nicht anders«. Er sitzt regungslos, den Kopf nach vorne geneigt, mit resigniert geschlossenen Augen. Sein unbewegtes Gesicht ist eine Maske der Trostlosigkeit. Er wirkt auf mich wie ein angeketteter Strafgefangener. Ich spreche ihn an – sein Gesicht bleibt regungslos, er hebt seinen Kopf nicht.

Urlaubszeit, Krankenstände, Personalnot, Zeitnot. Ich gehe im Nachtdienst zur Zeit der Abendarbeit über den Gang. Eine Patientin schreit, ihre Stimme ist voller Angst: »Mama, Mama hilf mir!« Darauf die Stimme der Pflegenden, ungeduldig, zornig und laut: »Sei ruhig! Die Mama kann dir jetzt auch nicht helfen!« Es ist eine altgediente, angesehene Schwester, und ich bin erst kurz im Haus. Ich zwinge mich dazu, in das Zimmer zu gehen: »Müssen Sie so schreien? Die Frau fürchtet sich doch!« Die Pflegekraft schaut nur kurz auf: »Frau Doktor, wenn man zu zweit 40 Patientinnen fertig machen muss, kann man sich den Luxus nicht leisten, jede Einzelne mit Glacéhandschuhen anzufassen und zu streicheln!«

Ich stehe am Bett einer Sterbenden. Ich bin sicher, dass sie nur mehr kurz zu leben hat. Ob sie in einem Tag, in drei Tagen oder in einer Woche stirbt, weiß ich freilich nicht. Ihr Herz ist schwach, sie trinkt kaum mehr, kann keine Medikamente schlucken. Ich handle, wie ich es gelernt habe: Blut abnehmen, Infusion anhängen – die Patientin ist unruhig, ihr Arm muss fixiert werden – Therapie auf Spritzen umstellen, Dauerkatheter. Als ich damit fertig bin, überfällt mich der quälende Gedanke: Habe ich wirklich geholfen oder war am Ende alles, was ich getan habe, falsch? Was ist richtig?

Viele Jahre später …

Von dem Augenblick an, in dem ich das Zimmer betrete, halten mich die Augen der hochbetagten Frau fest. Sie sitzt im Lehnstuhl. Ihr Gesicht ist von Schmerz und Erschöpfung gezeichnet. Sie ist 94 Jahre alt. Ich gehe zu ihr, sie blickt flehend, mit erhobenen Händen zu mir auf: »Frau Doktor, haben Sie Erbarmen mit mir, lassen Sie mich wieder ins Bett gehen!« Ich schäme mich. Die Pflegerin erklärt: »Frau Primaria, wir haben sie wirklich erst vor einer halben Stunde herausgesetzt. Wenigstens anderthalb Stunden muss sie sitzen bleiben, das viele Liegen tut ihr nicht gut.« Ich bitte darum, dass sie ins Bett gebracht wird.

Ich will eine sehr alte, schwerkranke Patientin zu einer Untersuchung schicken. Die Stationsleitung legt ihre Hand auf meinen Arm und schaut mich bittend an: »Wird sich durch das Untersuchungsergebnis etwas ändern? Können wir ihr den Transport, die Angst und das Warten nicht ersparen?« Ich spüre tief innen, dass sie Recht hat und verzichte auf die Untersuchung. Später weiß ich nicht mehr, ob ich damit das Richtige getan habe.

Visite. Ich betrete eines der großen Zimmer, in dem mehrere Patientinnen leben. Drei schwerkranke Patientinnen liegen im Bett, die restlichen fünf sitzen auf ihren Stühlen. Alle wirken traurig, einsam. Niemand spricht, niemand schaut auf. Ich setze mich zu einer Patientin und spreche sie an. Ihr müder Blick streift mich kurz, bleibt nicht hängen, sie versinkt wieder in ihrer Einsamkeit.

Mir fallen ein paar Zeilen aus dem Gedicht »Der Panther« von Rainer Maria Rilke ein:

Sein Blick ist vom Vorübergehen der Stäbe

so müd geworden, dass er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

und hinter tausend Stäben keine Welt.

Immer wieder denke ich nach: Wir wollen doch alle (zumindest fast alle) helfen – aber tun wir es wirklich? Freilich gibt es auch »liebe«, »pflegeleichte« Patientinnen, die uns anstrahlen, plaudern und uns ihrer Dankbarkeit und Zufriedenheit versichern. (Erst viel später finde ich heraus, dass viele von ihnen gar nicht so »lieb« sind, sondern gelernt haben, wie man sich zu verhalten hat, damit es einem im Pflegeheim halbwegs gut geht!) Aber was ist mit den vielen anderen? Sind sie, wie ich immer wieder höre, »undankbar«, »lästig«, »aggressiv« und »machen uns alles zu Fleiß«? Viele Jahre später gab Michaela Zsifkovics, Stationsleitung auf einer unserer Frauenstationen, in meiner Gegenwart einer Mitarbeiterin, die anklagend zu ihr kam, die Antwort, nach der ich damals noch vergeblich gesucht hatte: »Schau dir die hilflose und verzweifelte alte Frau doch einmal mit offenen Augen an! Wie kann sie dir etwas zu Fleiß machen?« Ich verstand einmal mehr, dass wir alle erst lernen müssen zu schauen.

Unheilbar kranke, behinderte und demenzbetroffene Hochbetagte, die ihre Ansprüche nicht mehr selbst geltend machen können, finden in den derzeitigen Betreuungseinrichtungen keine ihren besonderen Bedürfnissen entsprechende Infrastruktur vor. Mit Methoden, die sich für jüngere, weitgehend autonome Kranke eignen, lässt sich die subjektive Lebensqualität unserer Patientinnen sehr oft nicht entscheidend verbessern. Ihr Zustand erfordert, insbesondere wenn das Lebensende näher rückt, andere Denkmodelle und Zielsetzungen im Hinblick auf Diagnose, Therapie, Kommunikation, Tageseinteilung und Angehörigenbetreuung. Bisher wurden weder befriedigende Strukturen dafür geschaffen noch die am Krankenbett Tätigen so ausgebildet, dass sie über die nötige Kompetenz verfügen. Der immense und sicher weiterhin anwachsende Bedarf nach solchen Modellen wird uns immer deutlicher, je länger und intensiver wir uns mit dem Thema auseinandersetzen.

Im Laufe der Zeit wurde mir immer klarer: Wir werden unsere Arbeit nur dann als sinnvoll und erfüllend erleben, wenn sie den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen, die wir betreuen, gerecht wird. Solange wir uns damit begnügen, uns allgemein gängige Berufsziele zu stecken (ordentliche Pflege, moderne medizinische Behandlung, Mobilisation um jeden Preis), wird uns das große Unbehagen nie verlassen, wir werden weiter jeden Tag frustriert nach Hause gehen. Das Individuum selbst mit seinen ganz besonderen, einmaligen und einzigartigen Nöten, Wünschen und Bedürfnissen muss unser Auftraggeber sein. Seine Lebensqualität ist das einzig sinnvolle Maß für unsere Leistung. Es geht also nicht primär um »Ziele der Institution« oder um das, was heute in der Geriatrie à la mode ist – es geht in erster Linie immer um Leben und Sterben von Individuen! Wenn wir Helferinnen sein wollen, muss es unsere vornehmste Aufgabe sein, die Menschen, die wir betreuen zu verstehen, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen, ihr Vertrauen zu erwerben und ihren Ansprüchen gerecht zu werden. Erst dann werden wir unsere fachliche Kompetenz so einsetzen können, dass ihnen damit tatsächlich geholfen ist. Professionalität darf gerade in der Geriatrie nicht dort enden, wo Heilung oder wesentliche Besserung nicht mehr möglich sind. Unser Auftrag gilt auch dann, ja, er gilt dann mehr denn je! Je kränker und hilfloser unsere Patientinnen werden, desto mehr brauchen sie uns. Nicht der Mensch, den wir nach kurzer Behandlungszeit gesund und vergnügt nach Hause entlassen, braucht die fachkundigsten Helferinnen, die besten und einfühlsamsten Ärztinnen und Pflegepersonen. Es sind die Leidenden am Ende ihres Weges, die sich selbst nicht mehr helfen können und zu schwach sind, um nach Hilfe zu schreien, die uns am dringendsten brauchen. Sie sind voll und ganz auf Menschlichkeit und Können ihrer Betreuerinnen angewiesen. Heute wissen wir längst, dass Pflegende und Ärztinnen noch sehr viel tun können, wenn der Tod näher rückt. Zur Zeit der 1. Auflage dieses Buches waren solche Gedanken im Pflegeheim fast schon revolutionär und lösten bei sehr vielen – selbst bei etlichen Kolleginnen – nur ein befremdetes Kopfschütteln aus.

Schließlich zeigte sich für mich, nach einer langen, von Enttäuschung, Zweifeln, Unsicherheit und Traurigkeit geprägten Zeit, das Licht am Ende des Tunnels. Ich fand meinen persönlichen Weg: Ich hörte auf, mich »anders« oder gar »besser« zu fühlen als die Menschen, die ich betreute. Stattdessen öffnete ich mein Herz ganz weit und ließ mich vom Leid meiner Patientinnen, vom Leid »der Menschen auf der anderen Seite«, anrühren. Ich nahm jetzt immer deutlicher wahr, dass jede von ihnen ein »Ich« besitzt, genauso wie ich selbst. Immer häufiger stellte ich mir, wenn ich an einem Bett stand, die Frage: »Wie würde ich mich fühlen, wenn ich an ihrer Stelle wäre?« Ich musste auch lernen, meinen Schmerz und meine Hilflosigkeit zuzulassen, wenn ich nicht helfen konnte. Ich musste lernen, auch das nicht zu übersehen, zu beschönigen oder wegzuschieben, was sich im Augenblick nicht verändern ließ. Diese neue Einstellung führte mich ohne viele Umwege zu den eigentlichen Bedürfnissen meiner Patientinnen. Damit war mein Weg zur Schmerztherapie und in die Palliative Care vorgezeichnet (Kojer 2007). Ich bin ihn viele Jahre gegangen und stehe in vieler Beziehung noch immer am Anfang.

Bald stieß ich auf eine Barriere, die ich zwar bereits zu Anfang gesehen hatte, die aber während meiner Orientierungsphase in den Hintergrund getreten war: Auch wenn ich selbst überzeugt war, den richtigen Weg gefunden zu haben – ich konnte doch nur in Einzelfällen helfen. Verändern konnte ich allein nichts. Bravourleistungen oder Solodarbietungen kompetenter und engagierter Ärztinnen und Pflegenden reichen allein niemals aus, um Menschen am Lebensende zu helfen. Es gibt in der Medizin wenige Tummelplätze für Solistinnen; Palliative Care ist jedenfalls bestimmt keiner von ihnen. Für Behandlung, Betreuung und Begleitung Schwerkranker und Sterbender ist eine tragfähige Betreuungskette aller Helfenden unverzichtbar. Jedes Teammitglied muss ein wertvolles Glied dieser Betreuungskette sein und an seiner Stelle dazu beitragen, dass diese auch unter Belastung nicht reißt. Ich finde daher das Wort »Palliativmedizin« irreführend und bin überzeugt davon, dass der umfassendere Begriff Palliative Care das Wesentliche – die unverzichtbare Leistung eines ganzen Teams – viel genauer umreißt.

Aber auch wenn die am Krankenbett Tätigen ein gemeinsames Verständnis im Sinne der Palliative Care erreicht haben, müssen noch immer die Institution und ihre Träger dafür gewonnen werden, ehe die Weichen tatsächlich umgestellt werden können.

Theoretische Erkenntnisse sind eine schöne Sache, aber sie machen den, der sie hat, nicht für lange froh! Wie sollte ich meine fast 150 multiprofessionellen Mitarbeiterinnen für meine Vorstellungen begeistern?

Als ich 1989 die Leitung der 1. Medizinischen Abteilung im Geriatriezentrum am Wienerwald (GZW) übernahm, erwartete mich dort Susanne Pirker, die sehr ähnlich dachte wie ich und als langjährige Oberärztin bereits einiges bewegt hatte. Von nun an versuchten wir gemeinsam, andere auf unseren Weg mitzunehmen. Konnte uns das überhaupt glücken? Und wenn ja, würde die Institution jemals bereit sein, Rücksicht auf Menschen zu nehmen, mit denen »kein Staat zu machen ist«? Würde sie bereit sein, beträchtliche (vor allem personelle) Ressourcen in diese »unattraktive« Zielgruppe zu investieren?

Zu diesem Zeitpunkt kam uns das Glück zu Hilfe: 1993 wurde die Idee geboren, im Rahmen des GZW ein Hospiz für Krebspatientinnen ab dem 19. Lebensjahr zu eröffnen. Im Zuge der immer konkreter werdenden Planungen stellte sich heraus, dass eine solche Initiative in einer Pflegeeinrichtung der Gemeinde Wien nur dann politisch korrekt ist, wenn zugleich auch etwas für die Betreuung schwerkranker und sterbender geriatrischer Patientinnen getan wird. 1995 begann der vom Gemeinderat der Stadt Wien beschlossene, für zwei Jahre anberaumte »Modellversuch Sterbebegleitung« (Kojer 1997), in dessen Rahmen das Hospiz seinen Probebetrieb aufnahm. Gleichzeitig sollte auch »etwas geschehen«, um Behandlung, Pflege und Begleitung am Lebensende alter Menschen zu verbessern. Das GZW begann als erstes Pflegeheim, sich ernsthaft Gedanken über die Qualität des Sterbens seiner Patientinnen zu machen.

Mir wurde von der Direktion die Leitung des gesamten Modellversuchs übertragen. Am meisten Kopfzerbrechen machte mir dabei die Entwicklung brauchbarer Strategien für den geriatrischen Bereich. Erwähnenswerte Ressourcen waren dafür nicht vorgesehen. War von »oben« nicht mehr als ein »geriatrisches Feigenblatt« geplant? In den Mitgliedern der kleinen, aus verschiedenen Berufsgruppen zusammensetzten Projektgruppe fanden Susanne Pirker und ich Gleichgesinnte, die ebenso wie wir fest entschlossen waren, Tabus anzugreifen und alte, verkrustete Strukturen infrage zu stellen. In den zwei Jahren gelang es uns tatsächlich, Weichen zu stellen und Veränderungen in Gang zu setzen, die seither nie mehr ganz zum Stillstand gekommen sind.

Eine der Initiativen des Modellversuchs bestand in der Etablierung von drei »Modellstationen«. Die drei Teams wurden eigens geschult und während des gesamten Zeitraums psychologisch unterstützt. Unser Ziel war zu überprüfen, ob diese Maßnahmen auch ohne Strukturänderungen (weder mehr Personal noch weniger Patientinnen pro Zimmer) die Qualität der Betreuung nachweislich verbessern würden. Eine Station meiner Abteilung bewarb sich darum mitzumachen. Unter der Leitung von Susanne Pirker und Michaela Zsifkovics entdeckte das Team in dieser Zeit seine Liebe zu schwerkranken und sterbenden alten Menschen. Nach Beendigung des Modellversuchs entwickelte sich die Station selbstständig und gezielt in die eingeschlagene Richtung weiter; die »Modellstation« ging in das Projekt »Sterbebegleitung = Lebensbegleitung« über. Susanne Pirker und ich waren nicht mehr allein mit unseren Vorstellungen: Zumindest auf eine unserer sechs Stationen war der Funke übergesprungen.

Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts hat sich die Geriatrie in Österreich rasch weiterentwickelt. Das GZW übernahm dabei auf vielen Gebieten eine dankenswerte Vorreiterrolle; die Sorge um die letzte Lebensphase alter Menschen trat dabei leider wieder etwas in den Hintergrund. Unter dem Motto »Wir sind keine Endstation!« wurden neue Konzepte erarbeitet, die entscheidend dazu beitrugen, die Türen des Pflegeheims für viele Menschen noch einmal zu öffnen: Patientinnen, die früher für immer in der Institution geblieben wären, konnten dank gezielter, kompetenter Hilfe und Förderung doch wieder nach Hause gehen. Für die Mehrzahl unserer Patientinnen, für die vielen schwerkranken, von fortgeschrittener Demenz betroffenen, schwer pflegebedürftigen Menschen, für die es keine Alternative gibt, die weiterhin bis zu ihrem Tod bei uns blieben, änderte sich durch die attraktiven Konzepte allerdings wenig. Auch die der Geriatrie nun etwas reichlicher zuströmenden Ressourcen flossen an ihnen, den auch weiterhin ungeliebten Stiefkindern der Wohlfahrtsgesellschaft, vorbei. Sie blieben politisch uninteressant, mit ihnen ließ sich das Ansehen der Geriatrie nicht verbessern. Da sich die Öffentlichkeit von ihnen abwandte, blieben auch die Medien stumm. Das Lebensende alter Menschen blieb ein weißer Fleck auf der Landkarte menschlichen Lebens. Wie die Corona-Krise ab 2019 deutlich machte, ist das leider heute noch vielfach genauso.

Unsere Abteilung war eine Langzeitabteilung. Von unseren Patientinnen gehörten bestenfalls vereinzelte zu den »Hoffnungsträgern«. Dennoch bedeutete es für meine Mitarbeiterinnen eine gewaltige Entscheidung, sich ausschließlich in den Dienst jener alten Menschen zu stellen, deren Zustand nicht mehr wesentlich verbessert werden kann und die »nur mehr auf das Sterben warten«. Noch immer empfinden sehr viele am Krankenbett Tätige das Sterben als Niederlage oder als Regiefehler, der – wenn er sich auch leider oft nicht vermeiden lässt – eigentlich nicht vorkommen sollte. Sterbende Patientinnen wurden über lange Zeit nur als Belastung empfunden. »Hoffentlich stirbt sie nicht bei mir«, war ein Stoßseufzer, den ich ungezählte Male gehört habe.

Allmählich gelang es Susanne Pirker und mir gemeinsam, festgefahrene Gewohnheiten in einer Strategie der kleinen Schritte infrage zu stellen. Der Umgangston an der Abteilung begann sich zu verändern, er wurde verständnis- und liebevoller. Schmerztherapie und die Begleitung Sterbender gewannen fast unmerklich auf allen Stationen an Bedeutung. Wünsche und Bedürfnisse unserer Patientinnen wurden zu zentralen Anliegen, die Zusammenarbeit mit den Angehörigen bekam allmählich einen höheren Stellenwert. Viele Mitarbeiterinnen schienen geradezu auf diese Veränderungen gewartet zu haben und begannen sich rasch und voll Freude eigenständig in diese Richtung zu entfalten.


Ende 1997 entschieden sich die Mitarbeiterinnen aller Stationen und aller Berufsgruppen dafür, schwerstkranke, zum Großteil demenzkranke Hochbetagte nach den Grundsätzen und Erkenntnissen der Palliative Care bis zu ihrem Tod zu betreuen, ihre Wünsche und Bedürfnisse kennen zu lernen und sich zu bemühen, diese so gut es geht zu erfüllen. Unser gemeinsamer Entschluss markiert die Geburtsstunde der Palliativen Geriatrie. Von nun an setzte ein Circulus virtuosus ein, eine nach oben führende Spirale, in der jeweils eines dazu beitrug, das andere besser zu machen. Es gelang, einzelne Mitarbeiterinnen und später auch ganze Teams zielführend auszubilden. Interesse und Freude an der Arbeit stiegen. Immer mehr Mitarbeiterinnen entwickelten ihre eigenen, weiterführenden Ideen. Seit 1999 erarbeiteten Martina Schmidl und Ursula Gutenthaler gemeinsam mit ihrem Team unter großem Einsatz und mit hohem Engagement ein palliatives Betreuungskonzept für hochbetagte Menschen mit fortgeschrittener Demenz. Das Konzept fand bald nationale und internationale Beachtung ( Kap. 10, Kap. 11, Kap. 19).

Natürlich blieben auch Rückschläge nicht aus. Wir hatten nie die Möglichkeit, uns unsere Mitarbeiterinnen auszusuchen, wir bekamen sie zugewiesen. Unsere Arbeitsschwerpunkte konnten nicht allen gefallen und bildeten bestimmt auch nicht für alle den geeignetsten Weg.

Das Team einer unserer Stationen stellte im Laufe der Zeit fest, dass es eigentlich lieber etwas anderes gemacht hätte. Dank der hohen Kooperationsbereitschaft der Direktion konnte die Station zur allseitigen Zufriedenheit an eine andere Abteilung übersiedeln und einer Station Platz machen, die sich zu uns gewünscht hatte und bereit war, sich mit unseren Zielen zu identifizieren. Es kam auf allen Stationen vor, dass sich Schwestern und Pfleger von uns weg meldeten. Mindestens ebenso viele an anderen Abteilungen Beschäftigte interessierten sich für unsere Arbeitsweise und wollten bei uns mitarbeiten. Im Großen und Ganzen verlief die Entwicklung so, wie wir es uns wünschten. Es ging nicht gerade schnell und ich wurde manchmal recht ungeduldig, aber wenn ich dann zurückblickte, erkannte ich, dass wir bereits einen weiten Weg zurückgelegt hatten. Mit der Zeit wurde unsere Arbeit nicht nur im GZW, sondern in weiten Kreisen im In- und Ausland anerkannt. 1999 gründeten wir – in der Hoffnung, Geld für Fortbildung, wissenschaftliches Arbeiten und kleinere »Luxus«-Investitionen für unsere Patientinnen zu gewinnen – den »Verein der Freunde der Palliativen Geriatrie«. Geld aufzutreiben ist nicht leicht, aber es gelang uns in den Folgejahren doch, wesentliche Fortbildungsveranstaltungen für Mitarbeiterinnen, die vom GZW nicht übernommen werden konnten, zu finanzieren. Im Jahr 2000 wurde unsere Leistung vom Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV)3 öffentlich anerkannt: Die Abteilung wurde in »Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie« umbenannt. Im gleichen Jahr begann die Umgestaltung der Grünfläche hinter dem Pavillon zu einem Therapiegarten. Seit dem Sommer 2001 stand der Garten unseren Patientinnen zur Verfügung. Dass dieses aufwendige Projekt gelang, ist das große Verdienst von Fritz Neuhauser, der dafür lange Zeit mit großem Einsatz gekämpft hatte. Ebenfalls im Jahr 2001 begann die »Jungpensionistin« Susanne Pirker damit, ehrenamtliche Mitarbeiterinnen zu rekrutieren, zu schulen und zu organisieren. Es waren nicht sehr viele, doch wir sahen bald deutlich, dass ihre Arbeit Früchte trägt (Pirker und Pirker 2021) und hofften zurecht darauf, dass das kleine Häuflein mit der Zeit anwachsen würde.

Um die Jahrtausendwende gelang es letztlich unsere Ziele klar zu definieren und in einer Zielplanung festgehalten:

Bestmögliche Lebensqualität bis zuletzt durch

• Schmerzlinderung

• Ganzheitliche Behandlung, Betreuung und Begleitung:

– Linderung quälender körperlicher Beschwerden

– Linderung seelischer sozialer und spiritueller Nöte

– Palliative Pflege

• Kompetenz der Mitarbeiterinnen in Ethik

– Respektvoller Umgang mit jeder Patientin, unabhängig von ihrem Alter, ihrem körperlichen und geistigen Zustand

– Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Patientinnen

• Kompetenz in Kommunikation

– Optimierung der Kommunikation mit demenzkranken Patientinnen

– Vermeidung des schrittweisen Rückzugs Demenzkranker in ein Stadium des Vegetierens durch Validation

– Optimierung des Kontakts mit Schwerstkranken und Sterbenden durch Basale Stimulation

• Größtmögliche Selbstständigkeit bis zuletzt durch

– reaktivierende Pflege

– Physiotherapie

– Ergotherapie

stets nur in Übereinstimmung mit den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen.

• Vermeidung von sensorischer Deprivation:

– Mehr Farbe ins Leben – Schrittweise Einführung bunter Dienstkleidung.

– Privatkleidung für alle nicht bettlägerigen Patientinnen. Das ist heute selbstverständlich, aber noch am Ende des 20. Jahrhunderts bestand die »Pflegeheimtracht« oftmals aus Nachthemd und Schlafrock.

• Aufrechterhalten der lebendigen Verbindung zur Natur bis zuletzt.

– Bettlägerige Patientinnen werden so oft wie möglich in den Garten gebracht.

– Gartentherapie: Ergo- und Physiotherapie finden fallweise im Garten statt. Hochbeete für Patientinnen, die Gartenarbeit lieben.

Auseinandersetzung mit ethischen Fragen

• ethische »Alltagsentscheidungen«

• ethische Fragen am Lebensende.

Lebenswertes Leben bis zuletzt

Mehr Raum für die Wünsche und Bedürfnisse jeder Einzelnen, das heißt »Nicht nur am Leben sein, sondern ein Leben haben« (Erich Loewy).

Leben und Sterben in Würde

Wir sind überzeugt, dass Würde jeder – auch der (durch schwere Krankheit oder Demenz) nicht mehr handlungsfähigen – Person in ungeteilter Weise zukommt, weil sie ein Mensch ist.

Physisches, psychisches, spirituelles und soziales Wohlbefinden für alle Patientinnen

Intensive Angehörigenbetreuung und -begleitung

Wir betrachten auch die nächsten Angehörigen unserer Patientinnen von der Aufnahme ihrer Lieben bis nach deren Tod als Adressatinnen von Palliative Care. Das bedeutet: Laufende Gesprächskontakte, Vermittlung relevanter Informationen, Einbeziehung in Entscheidungen, Einladungen zu Stationsfesten, Anbieten von Unterstützung in der Begleitung Sterbender und beim Abschied von Verstorbenen, Einladung zu Nachgesprächen.

Bedürfnisgerechtes Wohnen:

• Stationssanierungen sollen Raum für individuelle Gestaltung, Intimsphäre und Gemeinsamkeit schaffen, aber auch für die Begleitung Sterbender durch Angehörige und Teammitglieder.

• Multifunktionsraum für besondere Bedürfnisse von Patientinnen und deren Angehörigen, z. B. Gespräche mit Ärztin oder Stationsleitung, Vorausplanung, Testamentserrichtung, Familientherapie, intime Gespräche zwischen Patientin und Angehörigen, Zweisamkeit von Partnerinnen …

• Verabschiedungsraum von Verstorbenen.

3 Seit 2020 Wiener Gesundheitsverbund (WiGev).

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