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Vorwort zur 4. Auflage
ОглавлениеEnde des vorigen Jahrhunderts fassten die Mitarbeitenden einer Abteilung des damals größten Pflegeheims1 Europas den nicht alltäglichen Entschluss, miteinander ein Buch über ihre Arbeit zu schreiben. Der Grund dafür: Sie hatten über Jahre gemeinsam die Grundlagen eines neuen, aus ihrer Sicht zukunftsweisenden Betreuungskonzepts für multimorbide Hochbetagte mit und ohne Demenz erarbeitet; das Konzept bekam den Namen Palliative Geriatrie.
Unsere Bemühungen verfolgten im Grunde ein sehr schlichtes Ziel: Wir wollten unseren Patientinnen und Patienten bis zuletzt ein möglichst gutes Leben ermöglichen. Sehr bald stellte sich heraus, dass dies nur gelingen konnte, wenn wir uns von den alten Menschen zu ihren Zielen führen ließen, statt wie zuvor weitgehend über sie zu bestimmen. Unser Weg ähnelte der Reise in ein unbekanntes Land, einer Reise, auf der an jeder Ecke etwas Unerwartetes geschehen kann. Fast jeden Tag entdeckten wir Neues, sahen Erfolge, lösten uns ein wenig mehr von alten »Selbstverständlichkeiten«. Rückblickend können wir diese »Reise« durchaus als einen Organisationsentwicklungsprozess bezeichnen, mit dem wir gemeinsam Schritt für Schritt eine neue Realität schufen. Allmählich begann sich die Atmosphäre im ganzen Haus zu verändern. Es gelang uns immer besser mit den Menschen, die wir betreuten in Beziehung zu treten. Sie standen uns jetzt näher und wir verstanden sie viel besser als zuvor. Daher fiel es uns auch leichter ihre körperlichen und seelischen Nöte rechtzeitig zu erkennen, ihnen wirklich zu helfen und zugleich die Wärme und Zuwendung zu schenken, die sie so dringend brauchten.
Motor des Wandels zum Positiven war für jede von uns die Verbesserung von Einstellung und Haltung. Das bedeutete: Respekt vor jedem Menschen, unabhängig von Alter, Gebrechlichkeit, Multimorbidität und Demenz. Es bedeutete weiter: Achtsamkeit und Offenheit für körperliche und seelische Schmerzen sowie für soziale und spirituelle Nöte und Bedürfnisse. Diese Veränderungen prägten mit der Zeit den Geist unserer Abteilung und verbesserten die Lebensbedingungen für die alten Menschen, für ihre Angehörigen und nicht zuletzt für uns selbst. Dies gelang, obwohl vieles andere – vor allem Wohnqualität und Personalstand – unverändert blieben und sehr viel zu wünschen übrig ließen.
Seither ist viel Zeit vergangen. Palliative Geriatrie – anfangs vielfach belächelt und von vielen energisch abgelehnt (»Demenzkranke sind nicht palliativbedürftig!«) – hat sich mittlerweile allgemein durchgesetzt. Das Konzept hat längst die Grenzen der Pflegeeinrichtungen überschritten und wird jetzt auch für andere berufliche Kontexte übernommen und adaptiert, z. B. für die ambulante Pflege oder die Versorgung Hochbetagter in Krankenhäusern. 2015 wurde die deutschsprachige internationale Fachgesellschaft für Palliative Geriatrie (FGPG) gegründet (www.fgpg.eu). Ihr Ziel ist die Förderung, Verbreitung, gesellschaftliche Verankerung und Weiterentwicklung der Palliativen Geriatrie. Ein entscheidender, zukunftsweisender Schritt war die Einrichtung der weltweit ersten Professur für Palliative Geriatrie an der Universität Lausanne im Jahr 2016.
Über viele Jahrhunderte wurde für beide Geschlechter im Schrifttum mit Selbstverständlichkeit ausschließlich die männliche Form verwendet. Seit der Erstauflage dieses Buches ist das Genderbewusstsein deutlich gestiegen; die eigenständige Rolle der Frau in Familie, im Beruf und in der Gesellschaft hat an Bedeutung gewonnen. Doch auch weiterhin wird in fast allen Büchern nur das generische Maskulinum verwendet. Dieses Buch weicht davon ab: Pflegeheime sind Frauenwelten – Welten, in denen überwiegend hochbetagte Frauen leben, die von jüngeren Frauen gepflegt, ärztlich behandelt, therapeutisch betreut sowie von weiblichen Angehörigen und Ehrenamtlichen besucht werden. Um diese Realität zu spiegeln, und auch um der weniger schwerfälligen Lesart willen, verzichten wir, wenn nicht ausdrücklich von einem Mann die Rede ist, auf Gendergerechtigkeit und verwenden ausschließlich die weibliche Form. Eine Diskriminierung für die Patienten, Mitarbeiter, Ehemänner und Söhne, die natürlich auch in den Heimen anzutreffen sind, ist durch diese Wortwahl bestimmt nicht beabsichtigt.
Das »Geriatriezentrum am Wienerwald« ist mittlerweile Geschichte, es wurde über einige Jahre schrittweise aufgelöst, durch kleinere, auf die Bezirke Wiens aufgeteilte Einheiten ersetzt und 2015 endgültig geschlossen. Die »Abteilung für Palliative Geriatrie« gibt es daher schon lange nicht mehr. Der Großteil der Mitarbeiterinnen, mit denen ich dieses Buch gemeinsam geschrieben habe, ist inzwischen in Pension oder knapp davor. Nur ganz wenige stehen noch mitten im Arbeitsleben. Drei Pflegekräfte und ein Arzt sind in der Zwischenzeit bereits gestorben.
Als feststand, dass unser Buch noch einmal aufgelegt wird, baten mich alle Autorinnen bis auf eine, die Überarbeitung der Texte für sie zu übernehmen. Die Ergotherapeutin Andrea Stöckl machte zu meiner Freude auch diesmal mit. Sie überarbeitete nicht nur ihre eigenen Texte, sondern brachte ihre Kompetenz auch in andere Kapitel ein und half mir vor allem bei der Bearbeitung der so wesentlichen Beiträge über die Kommunikation mit Menschen mit Demenz2. Dafür möchte ich Dir, liebe Andrea ganz herzlich danken!
»Alt, krank und verwirrt« bildet ein gewachsenes Ganzes; es hält die Pionierarbeit meines interprofessionellen Teams während eines bestimmten Zeitraumes fest. Es schildert unseren gemeinsamen Weg, einen Weg, der genau so und nicht anders verlaufen ist. Daher habe ich die Texte sehr zurückhaltend überarbeitet, und nur Unverzichtbares hinzugefügt. Einiges wurde ergänzt, einiges weggelassen, auf bedeutende Veränderungen hingewiesen und die Literatur durchgehend aktualisiert. Unsere Patientinnen waren unsere wichtigsten Lehrerinnen, ihre Geschichten vermitteln nach wie vor die aussagekräftigsten Einblicke in das Wesen der Palliativen Geriatrie. Daher habe ich sie unverändert übernommen.
Beim neuerlichen Lesen der Texte wurde mir bewusst, dass sich in der Zwischenzeit zwar manche Anschauungen geändert haben und neue Erkenntnisse dazugekommen sind, dass aber das wirklich Wesentliche gleichgeblieben ist. Es geht auch heute darum, jeden Menschen, ungeachtet seines Alters und seines körperlichen und geistigen Zustands für ein gleichwertiges und gleichwürdiges Du anzusehen, ihm mit Respekt, Wertschätzung und Mitgefühl zu begegnen und ihm Selbstbestimmung zuzubilligen. Ist diese Grundhaltung, gepaart mit der unverzichtbaren fachlichen Kompetenz, vorhanden, ergeben sich die nächsten Schritte fast von selbst.
Ich hoffe, dass dieses Buch seine Leserinnen ermutigt, sich nicht von oft unzureichenden Rahmenbedingungen abschrecken zu lassen. Niemand kann Wunder wirken, aber jede Einzelne kann durch Zuwendung, Mitgefühl, zur richtigen Zeit eingesetzte fachliche Kompetenz und nicht zuletzt durch ein wenig Kreativität dazu beitragen, dass Patientinnen – heute sprechen wir meistens von Bewohnerinnen – bis zuletzt ein gutes Leben haben.
Marina Kojer | November 2021 |
1 In den 13 Abteilungen dieses Pflegekrankenhauses »Geriatriezentrum am Wienerwald« (GZW) wurden damals mehr als 2.400 multimorbide Hochbetagte behandelt, gepflegt und betreut.
2 Andrea Stöckl ist nicht nur Ergotherapeutin, sondern seit vielen Jahren auch Validationslehrerin nach Naomi Feil.