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2.5 Palliative Geriatrie bedeutet Lebensqualität bis zuletzt

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Gemeinsam mit unseren Mitarbeiterinnen aller Berufsgruppen arbeiteten wir über Jahre konsequent daran, den Grundstein zu einer Palliativen Geriatrie zu legen. Wir versuchten zu lernen, die Welt mit den Augen sehr alter Menschen zu sehen und ihre wesentlichen Probleme und Ansprüche zu erkennen. Das meiste bleibt freilich noch zu tun – das gilt bis heute. Abbildung 2.1 zeigt auf was es alles braucht, um Palliative Geriatrie in stationären Einrichtungen zu verwirklichen. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.


Haltung ist das Rückgrat der Palliative Care. Sie ist die wichtigste Voraussetzung einer gelingenden palliativen Betreuung. Jeder einzelnen unserer Patientinnen gebührt Respekt und Wertschätzung, unabhängig von Alter, Gebrechlichkeit und Schwäche, Hilflosigkeit und Demenz. Jede Patientin hat Anspruch darauf, als Person anerkannt, in ihren Bedürfnissen wahrgenommen und in ihrer Einzigartigkeit akzeptiert zu werden. Die Haltung von Palliative Care ermöglicht es uns, unsere Antennen auszufahren und wahrzunehmen, wie es dem Menschen vor uns geht, uns zu ihm »hinzufühlen« und ihm mitfühlend zu begegnen. Elisabeth Conradi (2014) umschreibt diese Einstellung sehr treffend als »achtsame Zuwendung«. Fehlt sie, dann fehlt unserem Tun »die Seele«, aus der das tiefe, innere Verständnis für die Not eines anderen erwächst.

Die Kunst der einfühlsamen Kommunikation mit zumeist schwer kontaktierbaren Hochbetagten bildet die Basis der Palliativen Geriatrie. Alles Fachwissen muss vergeblich bleiben, solange wir selbst wesentlichen Anliegen unserer Patientinnen ahnungs- und verständnislos gegenüberstehen, solange wir nicht in der Lage sind, ihnen in ihre Welt zu folgen oder ihnen unsere Gedanken begreiflich zu machen. Einer der Grundpfeiler der Palliativen Geriatrie ist der Respekt vor dem Willen jedes alten Menschen. Wann immer möglich, sollten Lösungen gemeinsam mit der Betroffenen gefunden werden und nur in Ausnahmefällen (z. B. wenn die Patientin nicht mehr ansprechbar und ihr mutmaßlicher Wille nicht bekannt ist) über ihren Kopf hinweg erfolgen. Dieses Prinzip muss für alte Patientinnen ebenso gelten wie für jüngere. Es kann daher nicht angehen, in der stationären Altenpflege von vornherein bereits mindestens 70 % der Patientinnen (d. h. alle Demenzkranken) ganz aus Entscheidungsprozessen auszuklammern!

Gute Kommunikation ist nicht nur die Vorbedingung einer gelingenden Beziehungskultur zwischen uns und unseren Patientinnen. Sie bestimmt auch den Kontakt mit deren Angehörigen und nahen Bezugspersonen und nicht zuletzt die Zusammenarbeit im Team. Erst wenn die Kommunikation auf allen drei Ebenen funktioniert, sind die menschlichen Voraussetzungen der palliativen Arbeit in der Geriatrie erfüllt.

Seit wir uns intensiv mit dem Thema Kommunikation auseinandersetzten, ist uns bewusst geworden, wie groß die Anzahl der ethischen Entscheidungen ist, mit denen wir Tag für Tag konfrontiert sind ( Kap. 6 und Kap. 6.2): Es handelt sich bei weitem nicht nur um Entscheidungen für Sterbende, die uns ihren Willen nicht mehr mitteilen können. Jede Entscheidung gemeinsam mit körperlich und/oder geistig Hilflosen zu jeder Zeit ihres Lebens ist eine ethische Entscheidung ( Kap. 5). Wie weit darf – soll – muss man in ihrer Hirnleistung reduzierten Menschen Entscheidungen über ihr weiteres Leben überlassen? Wann überschreiten wir die unsichtbare Grenze, jenseits derer wir eine Patientin, die die Konsequenzen ihrer Handlung nicht mehr abschätzen kann, leichtsinnig oder kaltblütig ihrer vermeintlichen Autonomie ausliefern? Nur die gelingende Kommunikation mit Patientinnen, mit Angehörigen und im Team kann uns helfen, den Einzelnen gerecht zu werden. Nur durch gute Kommunikation kann es im konkreten Fall gelingen, ihre Urteilsfähigkeit im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt richtig einzuschätzen und gemeinsam mit ihr in ihrem Sinne zu entscheiden.

»Was der Mensch tun darf, ist keine Frage naturwissenschaftlicher Überlegung, sondern eine Frage der Ethik. Ethik heißt im Grunde‚ der Wirklichkeit gerecht werden« (Spaemann 1999). Die Wirklichkeit, auf die Robert Spaemann sich hier bezieht, kann nur die Wirklichkeit des betroffenen Individuums sein.

Kompetente Behandlung von Schmerzen und quälenden Beschwerden stellt einen Eckpfeiler der Palliativen Geriatrie dar. Unabhängig vom Alter der Patientin und der Art der Erkrankung, ist die Schmerzlinderung das dringendste Anliegen jeder Schmerzgeplagten. Auch dafür muss primär das Kommunikationsproblem gelöst werden. Die verwendeten Medikamente und Methoden selbst unterscheiden sich dann nur mehr im Detail von den für andere Altersgruppen gebräuchlichen.

Der zweite Eckpfeiler der Palliativen Geriatrie ist die palliative geriatrische Pflege.

Ihre Grundsätze lauten:

• Jede Patientin ist einmalig und einzigartig,

• ihr Vertrauen muss erarbeitet werden,

• die Patientin und ihre nächsten Angehörigen sind eine Einheit.

Diese Grundsätze bilden gleichzeitig unsere, von allen Berufsgruppen akzeptierte, gemeinsame Philosophie. Stets in die palliative Pflege integriert ist auch die Aktivierende Pflege. Ihre wichtigste Aufgabe ist es – wenn möglich gemeinsam mit Physio- und Ergotherapeutinnen –, die Bürde der Hilflosigkeit und Unselbstständigkeit für unsere Patientinnen so klein wie möglich zu halten.

Ergo- und Physiotherapie sind aktive Lebenshilfe und daher in der Palliative Care unverzichtbar. Sie ermöglichen auch Schwerstkranken und Behinderten, ihr Leben zu meistern und Dinge, die ihnen Freude machen, doch noch zu tun.

Fachliche Kompetenz im Umgang mit schwierigen, demenziell erkrankten und verwirrten alten Menschen ist nicht bloß eine Frage der Erfahrung, sondern auch eine des Könnens. Ein offenes Herz und ehrliche Zuwendung können nur die Voraussetzungen dafür schaffen und so den Boden für die fundierte Ausbildung in Kommunikation mit demenzkranken Menschen vorbereiten. Für uns wurde die Validation nach Naomi Feil zur unersetzlichen Hilfe.

Die enge Verbindung mit einer Patientin muss auch nicht abreißen, wenn ihr Bewusstsein in Todesnähe getrübt ist. Zu einem Zeitpunkt, an dem alle anderen Kommunikationsmethoden bereits versagen, gelingt es oft durch Basale Stimulation die Sterbende doch noch zu erreichen und den lebendigen Kontakt zu ihr aufrechtzuerhalten.

Eva Fuchswans, damals ärztliche Leiterin der 8. Med. Abteilung im GZW, ist die Begründerin der tierunterstützten Therapie in Österreich. Diese Therapieform wurde an ihrer Abteilung über Jahre mit großem Erfolg eingesetzt und laufend weiterentwickelt. Mit ihrer Hilfe lassen sich gesundheitliche Fortschritte rascher erzielen (z. B. Rehabilitation nach Schlaganfall), sie hilft mit, Patientinnen aus ihrer Isolierung zu reißen und ihre Lebensfreude wiederzuerwecken. Wir haben den Gedanken dankbar aufgegriffen, Lebenswillen und Lebensqualität unserer Patientinnen durch den Kontakt mit Tieren zu steigern. Über Jahre wurde der Schäferhund Lord zur großen Freude unserer Patientinnen erfolgreich als Co-Therapeut in der Physiotherapie eingesetzt.

Unterstützung der Angehörigen und Zusammenarbeit mit ihnen hat in der Langzeitpflege einen wesentlich höheren Stellenwert als in der Akutmedizin. Unsere Patientinnen bleiben sehr lange bei uns, und ihre Bezugspersonen verbringen häufig viel Zeit auf der Station. Vielfach sind auch die Angehörigen selbst schon sehr alt, nur mehr einen kleinen Schritt von der eigenen Pflegebedürftigkeit entfernt und daher ebenfalls auf unsere Geduld und Zuwendung angewiesen. Wir beantworten ihre Fragen, zeigen Verständnis für ihre Sorgen und Nöte (Schmidl 2021) für die Trauer, die ihr Leben begleitet, wenn sie sehen, dass die Demenz des geliebten Menschen immer weiter fortschreitet. Wir unterstützen sie, wenn sie sich hilflos fühlen, vor allem aber dann, wenn das Lebensende der Betreuten näher rückt. Für unsere Patientinnen sind Angehörige die einzige Verbindung zu »früher« und »zu Hause«, zum »Draußen«. Für uns werden sie zu wertvollen Partnerinnen und Verbündeten, zu hoch willkommenen Informantinnen über die Biografie des alten Menschen, zu unersetzlichen »Dolmetscherinnen«, wenn wir nicht imstande sind, Bedürfnisse und Absichten zu verstehen. Als Gegenleistung informieren wir die Angehörigen gerne über alle wesentlichen Vorgänge und beziehen sie in alle wichtigen Entscheidungen mit ein. Der Kontakt mit den Angehörigen beginnt bereits bei der Aufnahme und reißt oft auch nach dem Tod einer Patientin nicht ganz ab.

Der Verlust wesentlicher Sinnesreize ist sicher eine der Hauptursachen dafür, dass der Pflegeheim-Alltag für viele zu einer endlosen Kette einförmig-grauer Tage verrinnt und die Patientinnen in diesem freudlosen Einerlei ihre noch vorhandenen Fähigkeiten viel zu rasch einbüßen. Vor der Jahrtausendwende war es in Österreich allgemein üblich, dass Mitarbeiterinnen von Pflegeheimen die gleiche Dienstkleidung trugen wie in den Krankenhäusern. Die Idee zur Einführung bunter Dienstkleidung an unserer Abteilung verdankten wir dem neuen Stationsteam, das im Herbst 1999 mit seinen Patientinnen bei uns einzog. Das Team brachte sein Projekt »Multicolor« als Einstandsgeschenk mit. Einige Jahre zuvor hatten Stationsärztin Andrea Martinek und Stationspfleger Franz Hammer die Erlaubnis für ihr Team erkämpft, die eintönigen Bekleidungsvorschriften zu durchbrechen und bei der Arbeit bunte Kleidungsstücke zu tragen. Das Ergebnis war verblüffend: Die Patientinnen nahmen wieder mehr am Leben teil; einige alte Damen, die vorher bereits verstummt waren, begannen sogar wieder zu sprechen. Der »dienstliche« Abstand zwischen Betreuerinnen und Betreuten wurde merkbar kleiner, die Beziehungen zwischen ihnen herzlicher und persönlicher. Das Tragen bunter T-Shirts wurde zwar bald allgemein erlaubt, konnte sich aber leider nur zögerlich durchsetzen: Die T-Shirts mussten von den Mitarbeiterinnen selbst gekauft und (aus hygienischen Gründen) von ihnen selbst am Arbeitsplatz gewaschen und gebügelt werden. Vor diesem Aufwand schreckten viele zurück. Es fehlten auch noch neue, praktikable Lösungen für all das, was man ständig bei sich haben muss: Wo bringe ich Brille, Kugelschreiber, Stethoskop, Notizblock, Schlüssel und Taschentuch unter, wenn ich keine Manteltaschen habe? Darüber hinaus war das berufliche Selbstbild vieler Mitarbeiterinnen eng an ihre Berufsuniform geknüpft (»ich bin Ärztin«, »ich bin diplomierte Pflegeperson«). Es bedeutete einen wesentlichen Lernschritt zu erkennen, dass es nur auf den Menschen und nicht auf seine Berufsuniform ankommt.

Hilflose alte Menschen können die Station nicht mehr ohne fremde Hilfe verlassen. Für viele von ihnen geht damit die Verbindung zur Natur für immer verloren. Sie wissen nicht, ob Sommer oder Winter ist, sie sehen die Bäume bestenfalls durch das Fenster und haben vergessen, wie frisches Gras riecht. Oft werden sie von einem Tag auf den anderen gänzlich von der Natur abgeschnitten.

1998 begann mein Kollege Fritz Neuhauser dafür zu kämpfen, unseren Patientinnen den Zugang zur Natur offen zu halten. Mit der Zeit entstanden die Pläne zu einem Garten für alte, behinderte Menschen. Die Pläne wurden von der Direktion des GZW unterstützt. Im Spätherbst 2000 begann die gartenarchitektonische Umgestaltung des Areals hinter unserem Pavillon. Im Sommer 2001 konnten wir die neu geschaffene Anlage erstmals unseren Patientinnen zur Verfügung stellen. Die Freude war groß!

Unser Leben wäre kaum lebenswert, fänden sich nicht immer wieder kleine Glanzlichter, die die Tage erhellen. Der Alltag im Pflegeheim ist in der Regel arm an solchen Freuden. Wir versuchten – vor allem in der Betreuung der Demenzkranken – gegen dieses Manko anzukämpfen. Die Stationsleitung Ursula Gutenthaler plante gemeinsam mit ihrem Team so oft wie möglich Aktivitäten und kleine Feste ein, die das Einerlei des Pflegeheimalltags unterbrachen, die Patientinnen zu sozialen Interaktionen ermutigten und ihre Lebensfreude wachhielten.

Alt, krank und verwirrt

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