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2.2 Sind Hochbetagte tatsächlich Palliativpatientinnen?
Оглавление• Hochbetagte haben unheilbare, chronisch fortschreitende Erkrankungen z. B. Herzinsuffizienz (Herzschwäche), Niereninsuffizienz (Nierenversagen), Demenz, Atemwegserkrankungen, Diabetes, Osteoporose und fortgeschrittene Durchblutungsstörungen. In der Regel leiden sie nicht nur an einer, sondern an mehreren dieser Erkrankungen gleichzeitig (Multimorbidität), wobei häufig ein bestimmtes Krankheitsbild stärker im Vordergrund steht und daher besonders beachtet werden muss.
• Die meisten von ihnen haben chronische Schmerzen und/oder andere quälende Beschwerden wie Atemnot, Übelkeit, Erbrechen, Angst, akute Verwirrtheit, Hautjucken oder Stuhlschwierigkeiten. Sie leiden aber auch an anderen altersbedingten quälenden Zuständen wie Tremor, Schluckbeschwerden, vermehrtem Speichelfluss, zunehmender Schwerhörigkeit und Sehschwäche.
• Alle leiden an »total pain«, d. h. neben den körperlichen Schmerzen belasten sie auch seelische (»ich bin nichts mehr wert«), soziale (»ich habe nur mehr liebe Menschen auf dem Friedhof«) und spirituelle (»mein Leben hat keinen Sinn mehr«) Schmerzen.
• Aus Alters- und Krankheitsgründen ist ihre Lebenserwartung mehr oder weniger eng begrenzt. In den letzten Jahren werden die Betroffenen zunehmend älter, kränker, mit weit fortgeschrittener Demenz und immer kürzerer Lebenserwartung aufgenommen.
• Maßnahmen, die Heilung oder auch nur wesentliche Besserung zum Ziel haben, kommen sehr häufig nicht mehr infrage: Die Eigendynamik der seit Jahren bestehenden Erkrankung lässt keine wesentliche Besserung mehr zu, Regenerationskraft und Lebenswille reichen nicht aus. Die erforderliche Behandlung hätte verheerende Folgen für andere, gleichzeitig bestehende Erkrankungen, der alte Mensch ist den Belastungen der Therapie (z. B. Operation, Chemotherapie) nicht mehr gewachsen. Kurative Maßnahmen sind auch dann nicht mehr sinnvoll, wenn die Lebenserwartung zu kurz ist und die Strapazen der Therapie die Patientin in der kurzen verbleibenden Lebensspanne nur unnötig belasten würden.
• Sehr alte Menschen sehen in vielen Fällen den Tod nicht mehr als Feind an. Sie fürchten sich vor der Ungewissheit des Lebens, das noch vor ihnen liegt oft mehr als vor dem Sterben und wünschen vor allem, dass die Zeit, die noch bleibt, eine gute Zeit sein möge. Das primäre Anliegen unserer Behandlung, Betreuung und Begleitung muss daher stets die Erhaltung oder Verbesserung der Lebensqualität sein.
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Hochbetagten in vielen Fällen am besten damit geholfen ist, Beschwerden, die ihr Leben schwer erträglich machen, zu lindern und dafür zu sorgen, dass sie bis zuletzt ein möglichst gutes Leben haben.
Hochbetagte brauchen Palliative Care – aber sie brauchen nicht nur Palliative Care!
Es wäre demnach ein verhängnisvoller Irrtum zu glauben, dass unsere Patientinnen ausschließlich an Krankheiten und Symptomen leiden, für die kurative Maßnahmen nicht mehr infrage kommen! Wir dürfen uns niemals vorschnell und unkritisch damit begnügen, Symptome zuzudecken, solange andere Therapieoptionen sinnvoll und möglich sind. Dies hieße einem therapeutischen Nihilismus das Wort reden, der den baldigen »sanften« Tod alter Menschen als einzig mögliche Lösung begreift. Damit wären fachlicher Inkompetenz, mangelnder Sorgfalt und unethischem Verhalten Tür und Tor geöffnet. Womöglich würde unter dem Mantel der Humanität wieder von »lebensunwertem Leben« gesprochen. Eine sorgsame Analyse der Ausgangslage muss daher in jedem Fall die selbstverständliche Voraussetzung für jede Entscheidung sein. Solange wir nicht wissen (können), nach welcher Seite sich die Waagschale des Lebens neigt, ist es die Pflicht von Ärztinnen und Pflegenden, alles dazuzutun, um ein Weiterleben zu ermöglichen. Immer wieder entdecken wir bei einer schwachen und hinfälligen Patientin doch noch unerwartete Kraftquellen, die – bei entsprechend fachkundiger Hilfe – noch entscheidende gesundheitliche Verbesserungen zulassen. Um zu gewährleisten, dass vor allem diejenigen, die die Patientin am besten kennen, ihre Kompetenz in Entscheidungsprozesse einbringen können, muss es möglich sein, die in Krankenanstalten übliche hierarchische Struktur zumindest für diese Situationen außer Kraft zu setzen ( Kap. 8.2).