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Josquin ist wohl der erste Komponist der Musikgeschichte, der seit seinen Lebzeiten über eine durchgängige, ununterbrochene Rezeptionsgeschichte verfügt. Das betrifft nicht allein die komplexe und vielschichtige Wahrnehmung im 16. Jahrhundert,8 sondern reicht weit darüber hinaus. Auch im Schrifttum des 17. und 18. Jahrhunderts war der Musiker auf eine ganz erstaunliche Weise präsent.9 Es scheint jedoch so, dass sich im Laufe des 17. Jahrhunderts diese Wahrnehmung auf wenige Stereotypen beschränkt hat, für die Glareans Dodekachordon ebenso einen Bezugspunkt bildete wie, wenigstens im reformatorischen Kontext, Luthers Josquin-Apologie. Als Wolfgang Caspar Printz den Komponisten, der sich »unsterblichen Ruhm/ durch seine Musicalische Wissenschafft/ und fürtrefliche Composition erworben« habe, noch 1690 rühmte, berief er sich ausdrücklich auf Luther, zweifellos dürfte eine Quelle aber zugleich Glarean gewesen sein.10 Ob er dabei wenigstens die bei Glarean abgedruckten Beispiele tatsächlich noch kannte, ist aber eher unwahrscheinlich.

Irgendwann scheint also das topische Lob für Josquin nicht mehr mit einer genaueren Kenntnis von wenigstens einigen seiner Werke verbunden gewesen zu sein, ein Sachverhalt, der sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich wieder verändert hat – und dann zum neuen Stereotyp des ›Contrapunktisten‹ führte. Eine gewisse Scharnierstelle in diesem Prozess bildete wohl das Werk des Historiografen und Agenten der katholischen Reform Petrus Opmeer (1526–1594). Sein Projekt einer Weltgeschichte, das unvollendet blieb und vom katholischen Theologen Laurentius Beyerlinck (1578–1627) fertiggestellt wurde, erschien erst 1611 und gehört v. a. deswegen zur ›kanonischen‹ Josquin-Literatur, weil der Komponist dort, als einziger der erwähnten Musiker, einen eigenen Eintrag erhielt. Dieser wurde zudem mit einem Porträt versehen, das, obwohl eindeutig apokryph, zumindest in der Neuzeit eine bemerkenswerte Verbreitung gefunden hat, eben weil es das einzige Bildnis ist, das sich überhaupt explizit mit Josquin in Zusammenhang bringen lässt.11 Weitaus interessanter ist jedoch der universalhistorische Kontext, in den der Komponist bei Opmeer gestellt wird. In einem kurzen Musikkapitel erläutert der Verfasser nämlich, dass Hermannus Contractus für den einstimmigen Choral (»inter Phonascos«) dasselbe sei wie Josquin für die mehrstimmige Musik (»inter Symphonetas«).12 Es heißt bei Opmeer, dass sein eigenes Jahrhundert (»nostrum seculum«) zwar herausragende »Symphonetas« aufweise (genannt werden u. a. Lasso,13 Clemens non Papa, Morales oder Obrecht), doch sei Josquin eben der Begründer der Mehrstimmigkeit und damit zweifellos der Wichtigste, er sei daher der »Archisymphoneta«.14 Bei Opmeer stehen sich demnach Ein- und Mehrstimmigkeit gegenüber, beide verfügen über zentrale, geradezu mythische Gründerfiguren, weswegen Hermannus Contractus und Josquin auch die einzigen sind, die in seinem Buch mit dem Ehrentitel des »Musicus praestantissimus« (des unübertrefflichen Musikgelehrten) bedacht wurden.

Bei einer solchen Konstruktion bedurfte es einer genauen Vorstellung der damit verbundenen Musik gar nicht mehr. ›Der‹ Choral und ›die‹ Mehrstimmigkeit ließen sich auf archetypische Gestalten zurückführen, auf ›Erfinder‹. Josquin war damit zu einer bloßen Chiffre geworden – für die mehrstimmige Musik an sich. In Opmeers Verkürzung löst sich damit eine ganz erstaunliche Gemengelage von Wahrnehmungsmustern des 16. Jahrhunderts, einsetzend mit Josquins Tod, gleichsam auf. Michael Meyer hat diese Wahrnehmungsmuster mit den Schlagworten von Kanonisierung, Heroisierung, Rhetorisierung und Historisierung zu systematisieren versucht.15 In der Figur des »Archisymphoneta« waren diese Muster ebenso synthetisiert wie aufgehoben.

Da die von Meyer beschriebenen Prozesse allenfalls in Josquins letzten Lebensjahren, massiv aber erst nach seinem Tod einsetzten, stellt sich die Frage, ob sich unter diesem Geflecht unterschiedlichster Wirklichkeiten auch eine historische Schicht verbirgt, die man, in notdürftiger Terminologie, als die Wirklichkeit Josquins bezeichnen könnte. Es geht, banal nur auf der Oberfläche, um die Frage, ob und wie man eigentlich zur Wahrnehmung des Komponisten ›davor‹ zurückgelangen könnte. Es scheint schon auf den ersten Blick so, dass die Wirklichkeit Josquins vergleichsweise weit entfernt von den nachträglichen Inanspruchnahmen war, auch von den zahlreichen philologischen Problemen, die sich damit verbinden und welche die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Komponisten bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts prägen. So sehr also die Frage nach dem ›authentischen‹ Josquin in den Vordergrund rückte, so unnahbar wurde die Figur selbst.

MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Josquin des Prez

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