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VII
ОглавлениеSolche Spuren können, so scheint es, durchaus zu einer denkbaren Wirklichkeit Josquins führen, die von jenen Wirklichkeiten, die nach seinem Tod entstanden sind, tendenziell weit entfernt sind. Akzeptiert man dies, dann würde allerdings das Reflexionsniveau, mit dem der Komponist auf die Umbrüche der Zeit um 1500 produktiv reagiert, zum entscheidenden Merkmal seiner kompositorischen Tätigkeit. Das schließt den ästhetischen Eigenwert, die ›Süße‹, nicht aus, sondern dient im Gegenteil dazu, diese sogar ausdrücklich hervorzuheben. In dieser Eigenart, also der Selbstverständigung über und durch Musik, steht er in einer Reihe, die im 15. Jahrhundert vielleicht mit Ciconia begann und dann, im Werk von Dufay und Ockeghem, erstmals systematische Züge erkennen lässt. Nur anders als zuvor gab es für Josquin eine Geschichte, auf die er sich bereits ausdrücklich beziehen konnte, und eine solche, in die er, wie in Macchiavellis »occasione«, eingreifen wollte.32 Die wenigen Zeugnisse legen immerhin den Verdacht nahe, dass er dabei, wie Macchiavellis Principe, entschiedenen Vorsatz, erhebliches Selbstbewusstsein und umsichtige Nachdenklichkeit habe walten lassen.
Die Frage, ob und in welcher Weise es von solchen Mustern Wege in die spätere Josquin-Rezeption geben könnte, ist an dieser Stelle nicht zu beantworten. Immerhin scheinen frühe Josquin-Verehrer wie Glarean oder Luther durchaus noch sensibel für derartige Problemlagen gewesen zu sein. Irgendwann ist dann aber daraus die Bewunderung (oder, wie bei Mattheson, Verachtung) für das bloße Handwerk des »Contrapunktisten« geworden. Anlässlich des 500. Todestages des Komponisten sollte hier lediglich versucht werden, die manifeste historische Distanz wenigstens für einen Moment zu überbrücken – um ermessen zu können, was die Zeitgenossen möglicherweise an seiner Musik beeindruckt hat oder haben könnte. Das muss sich nicht mit späteren Wahrnehmungen decken, denn die Wirklichkeiten Josquins sind nach 1521 unübersichtlich vielfältig und damit inhomogen geworden. Die mit diesem Prozess verbundene Dynamik lässt sich allerdings in einem emphatischen Sinne als neuzeitlich beschreiben. Ob Josquin sich dessen bewusst war, lässt sich nicht beurteilen. Es ist aber nicht unmöglich, dass es so war. Das umfangreiche Musikkapitel, das der Benediktiner Teofilo Folengo (1491–1517) 1521 der wesentlich erweiterten Fassung seines pikarischen Romans Baldus einfügte, mündet in eine umfangreiche Apologie Josquins, möglicherweise bereits unter dem Eindruck seines Todes. Folengo, zu dieser Zeit in Brescia, nennt zwar eine Reihe von Komponisten, aber erst durch Josquin habe sich der Himmel geöffnet, deswegen sei er der Vater der Musik. Und zum Beleg führt er gleich eine ganze Reihe von konkreten Kompositionen an, auch und gerade aus den Messenbüchern.33 Sein Urteil war folglich noch an eine sehr detaillierte und daher beispielhaft belegte Wahrnehmung geknüpft.
1 Stéphen de la Madeleine, »La vieillesse de Guillaume Dufay«, in: Revue et Gazette Musicale de Paris 3 (1836), S. 453–460. — 2 Anon. (Der Erzählende), »Das Alter Guillaume Dufay’s. Zerdolmetscht von dem Erzählenden«, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 39 (1837) (01.02.), Sp. 73–75, hier Sp. 74. — 3 Franz Xaver Haberl, »Wilhelm du Fay. Monographische Studie über dessen Leben und Werke«, in: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 1 (1885), S. 307–530, hier S. 429. — 4 François-Joseph Fétis, »Notice historique sur la vie et les ouvrages de Josquin Des Pres«, in: Revue Musicale 8 (1834), S. 241–243, 260–262 und 265–267. — 5 Stéphen de la Madeleine, »Les Psaumes de Josquin«, in: Revue et Gazette Musicale de Paris 4 (1837), S. 109–113 und S. 129–134; dazu auch James Haar, »The ›Conte Musical‹ and Early Music«, in: Philippe Vendrix (Hrsg.), La Renaissance et sa musique au XIXe siècle, O. O. [Paris] 2004 (= Éptiome Musical), S. 185–202, hier S. 198 f.; zudem John Neubauer, The Persistance of Voice. Instrumental Music and Romantic Orality, Leiden – Boston 2017 (= National Cultivation of Culture 14), S. 102 f. — 6 Art. »Josquin Desprez«, in: Hermann Mendel/August Reissmann, Musikalisches Conversations-Lexikon 5, 1880, S. 478 f., hier S. 478. — 7 Johann Mattheson, Critica Musica […]. Pars IV. Neuntes Stück, Hamburg: Auct. 1722, S. 350. — 8 Dazu v. a. Michael Meyer, Zwischen Kanon und Geschichte. Josquin im Deutschland des 16. Jahrhunderts, Turnhout 2016 (= Épitome Musical). — 9 Vgl. dazu die detaillierte Zusammenstellung bei Carlo Fiore, »Josquin before 1919. Sources for a Reception History«, in: Albert Clement/Eric Jas (Hrsg.), Josquin and the Sublime. Proceedings of the International Josquin Symposium at Roosevelt Academy, Middleburg, 12–15 July 2009, Turnhout 2011 (= Épitome Musical), S. 215–240, hier S. 226 ff. — 10 Wolfgang Caspar Printz, Historische Beschreibung der Edelen Sing= und Kling=Kunst/ in welcher Deroselben Ursprung und Erfindung/ Fortgang/ Verbesserung/ unterschiedlicher Gebrauch/ wunderbare Würckungen/ mancherley Finde/ und zugleich berühmteste Ausüber von Anfang der Welt biß auff unsere Zeit in möglichster Kürze erzehlet und vorgestellet werden […], Dresden: Mieths 1690, S. 115. — 11 Zum Bild David Fallows, Josquin, Turnhout 2009 (= Épitome Musicale), S. 247. — 12 Petrus Opmeer, Opus Chronographicum Orbis Universi […], Antwerpen: Verdussius 1611, S. 163 (»Quem secutus Hermannus Contractus, eam gloriam inter Phonasos promeruit, eam gloriam inter Symphonetas Iodocus Pratensis«). — 13 Zu Lasso wird ausdrücklich vermerkt, dass er nach Josquin an zweiter Stelle stehe: »successisset secundum locum à Iodoco Pratensis inter Symphonetas« (Opmeer, Opus Chronographicum [Anm. 12], S. 516). — 14 Opmeer, Opus Chronographicum (Anm. 12), S. 163 und 440. — 15 Dazu Meyer, Zwischen Kanon und Geschichte (Anm. 8), S. 16 ff. — 16 Gerardus Avidius, »Musae Iovis«, in: Franciscus Swertius, Athenae Belgicae sive nomenclator infer. Germaniae scriptorum […], Antwerpen: Tungris 1628, S. 496; die Süßigkeit der Musik wird im Gedicht gleich zweimal erwähnt (»dulcibus sonis«, »et dulce carmen concinit«). — 17 Thomas Leinkauf, Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600), Bd. 1, Hamburg 2017, S. 503. — 18 Hier zit. nach der Ausgabe Serafino d’Aquila, Opere volgari, Fano: Soncino 1516, Bg. BIII r.; vgl. auch Ursula Tröger, Marcilio Ficinos Selbstdarstellung. Untersuchungen zu seinem Epistolarium, Berlin – Boston 2016 (= Beiträge zur Altertumskunde 352), S. 368; zum Kontext des Tugendbegriffs hier v. a. Constanze Lessing, »›Per ignorantia dell’arte si oscurano le virtudi‹. ›Virtus‹ und Virtuosität in den ›Commentarii‹ des Lorenzo Ghiberti«, in: Thomas Weigel et al. (Hrsg.), Die Virtus des Künstlers in der italienischen Renaissance, Münster 2006 (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 15), S. 55–72. — 19 Die beste Zusammenfassung der Vorgänge bei Ludwig Finscher, Art. »Josquin Desprez« (2003). In: MGG Online [letzter Zugriff: 14.03.2021]. — 20 Dazu auch Laurenz Lütteken, Musik der Renaissance. Imagination und Wirklichkeit einer kulturellen Praxis, Kassel etc. 2011, S. 124 f. — 21 Paulo Cortese, De Cardinalatu, Castrum Cortesium: Nradi 1510, hier Buch II, Bg. 73v. (die Bogenzählung der Ausgabe unterliegt offenkundigen Druckfehlern); zum Kontext auch Inga Mai Groote, »›Kernrepertoire‹ und regionale Traditionen. Die Motettenüberlieferung in einigen Handschriften um 1500 und das Gattungsverständnis«, in: Laurenz Lütteken (Hrsg.), Normierung und Pluralisierung. Struktur und Funktion der Motette um 1500, Kassel etc. 2011 (= Troja 9), S. 127–151, hier S. 130; zur Komplexität des Doctrina-Begriffs Philipp Büttgen et al., »Einleitung«, in: dies. (Hrsg.), Vera Doctrina. Zur Begriffsgeschichte der Lehre von Augustinus bis Descartes, Wiesbaden 2009 (= Wolfenbütteler Forschungen 123), S. 7–21. — 22 Dazu auch David Fallows, »Josquin’s Most Widely Distributed Secular Works«, in: Die Tonkunst 15 (2021), S. 29–33. — 23 Vgl. die Ausgabe in Josquin Des Prez, Collected Works, Bd. 29: Secular Works for Five Voices, hrsg. von Patrick Macey, Utrecht 2016, S. 56–59; zur Autorisierung und Datierung (nach 1504) vgl. den Criticial Commentary (ebd., 2017), S. 326 ff. — 24 Klaus Krüger, Grazia. Religiöse Erfahrung und ästhetische Evidenz, Göttingen 2016 (= Figura 5), S. 60 ff. — 25 Zum gesamten Zusammenhang Katelijne Schiltz, »Dido’s afscheid. Polyfone Dulces exuviae zettingen (15e-16e eeuw)«, in: Mark Delaere/Pieter Bergé (Hrsg.), Als Orpheus zingt …: De klassieke oudheid in de West-Europese muziek – Opstellen voor en door Ignace Bossuyt, S. 48–61; sowie Laurenz Lütteken, »›Dulces exuviae‹. Vergil in Mantua und das Problem der musikalischen ›Renaissance‹«, in: Andreas Kablitz/Gerhard Regn (Hrsg.), Renaissance – Episteme und Agon. Für Klaus W. Hempfer anläßlich seines 60. Geburtstages, Heidelberg 2007, S. 451–473. — 26 Hier benutzt ist die Edition in Josquin Des Prez, Collected Works, Bd. 28: Secular Works for Four Voices, hrsg. von David Fallows, Utrecht 2005, S. 27–30. — 27 Zum Grundproblem Rachel Eisendraht, Poetry in a World of Things. Aesthetics and Empiricism in Renaissance Ekphrasis, Chicago – London 2018, hier S. 24 ff. — 28 Vgl. Wolfgang Brassat/Michael Squire, »Die Gattung der Ekphrasis«, in: Wolfgang Brassat (Hrsg.), Handbuch der Rhetorik der Bildenden Künste, Berlin etc. 2017, S. 63–87, hier S. 74 ff.; grundsätzlich auch David Rosand, »Ekphrasis and the Generation of Images«, in: Arion 1/1 (1990), S. 61–105; zur komplexen Ausgangslage bei Botticelli Angela Dressen, »From Dante to Landino. Botticelli’s ›Calumny of Apelles‹ and its Sources«, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 59 (2017), S. 324–339, hier S. 325 ff. — 29 Immerhin betonte Geldenhauer in seinem Trauergedicht nicht nur, dass Josquin die Zierde der Musen sei, sondern auch der Kirche (»Templorum decus/ Musarum decus« [Anm. 16]), was vielleicht auf sein Bemühen zielt, den Bezug zur Antike zu klären. — 30 Dazu schon Rosalie L. Colie, The Resources of Kind. Genre Theory in the Renaissance, hrsg. von Barbara Kiefer Lewalski, Berkeley etc. 1973 (= Una’s Lectures 1). — 31 Dazu etwa Andreas Thier, »Rechtstheoretische Meistererzählung und die Herausforderung der Geschichte: Beobachtungen zum Werk von Thomas Vesting über den ›Buchdruck‹«, in: Der Staat 56 (2017), S. 277–291, hier S. 284 ff. — 32 Niccolò Macchiavelli, Il principe, Florenz: Giunta 1532, Bg. 56 r. — 33 Teofilo Folengo, Opus Merlini Coccai Poete Mantuani Maccaronicum […], Toscolano 1521, f. 196r.