Читать книгу MUSIK-KONZEPTE Sonderband - Josquin des Prez - Группа авторов - Страница 26
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ОглавлениеDie Entstehung und Ausdifferenzierung der musikalischen Gattungen im 15. Jahrhundert hat die Musikgeschichte nicht nur anhaltend geprägt, sondern eine solche im eigentlichen Sinne (also von anhaltender, konkreter Erinnerung) erst möglich gemacht. Um 1500 hatte sich die Situation insofern verändert, als die Normengeflechte der Gattungen bereits weitreichend definiert waren – jeder einzelne Beitrag also notwendig als Auseinandersetzung mit diesen Normen und ihren Traditionen gelten musste. Dabei waren diese Normen nicht (oder nur sehr vage) Gegenstand expliziter Festlegungen, sondern stets Resultate der Kompositionen selbst, also der Gattungsbeiträge und ihrer Beziehungen untereinander.30 Es scheint, als habe Josquin um 1500 unmittelbar auf diese Wirklichkeit reagiert, in einer Reihe von Experimenten. Dazu zählt der Ausbau der liturgischen Stabat-Mater-Sequenz, also einer eigentlich ›kleinen‹ liturgischen Gattung (was hieß: strophisch, alternatim und eher dreistimmig), zu einer großangelegten Motette, die ihrerseits – in der Verwendung eines französischen Tenors – Gattungsgrenzen überschreitet, nämlich zur Chanson. Ein ähnlicher Status gilt für Scaramella va alla guerra, wo es nicht um Grenzüberschreitungen geht, sondern darum, die Gattungsgrenzen wie in einem ›sfumato‹ vollständig zu verwischen – nicht jedoch, um sie auszulöschen, sondern um ihrer auf andere Weise bewusst zu werden.
Gerade an diesem Punkt, also der experimentellen Ausreizung, ist aber auch das Gegenteil zu beobachten, der demonstrative Wille, den Gattungsgedanken normativ zu definieren. Wenn Cortesi 1510 Josquin als Messenkomponisten rühmte, gab es dafür bereits eine bemerkenswerte Grundlage. Denn der venezianische Drucker Ottaviano Petrucci hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Bücher mit Messen nur von Josquin herausgebracht, die 1502 und 1505 erschienen waren, gezählt wurden – und offenbar kommerziell so erfolgreich blieben, dass es zu Nachdrucken und 1514 sogar zur Herausgabe eines dritten Buches kam. Die Zahl der publizierten Messen war damit keineswegs besonders groß, die handschriftliche Überlieferung bei anderen Komponisten wie Pierre de La Rue oder Isaac blieb deutlich gewichtiger. Aber sie war, geschuldet der publizistischen Offensive, offenbar gesteigert wirksam (womit es primär nicht um Verbreitung, sondern um autoritative Normsetzungen geht).
Die genauen Hintergründe der Publikationen von Petrucci werden wohl unklar bleiben müssen. Aber sie sind sinnvollerweise nur anzunehmen unter der direkten Beteiligung des Komponisten, der die Inhalte des Unternehmens gesteuert und aller Wahrscheinlichkeit von seiner Verwirklichung auch kommerziell profitiert haben dürfte. Durch die Verbreitung der Drucke war nicht nur eine unmittelbare Rezeptionssteuerung möglich, sondern die vorsätzliche Trennung vom Autor. Das aus anderen Zusammenhängen bekannte Spannungsgeflecht von Normierung, Systematisierung und Subjektivierung, die den frühen Druck auszeichnen, war damit auch in der Musik spürbar.31Denn Josquin konnte die Distribution seiner Messbücher nicht planen, aber er dürfte dies auch nicht gewollt haben. Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, dass hier eine Art von kompositorischem Musterbuch einer Gattung beabsichtigt war, im Spannungsfeld von Normerzwingung, Subjektivität und rezeptiver Anonymität. Solche kanonisierenden Prozesse sind auch vor der Druckpraxis bekannt, so war Dufay in seinen späten Jahren um die Zusammenstellung seiner Werke bemüht. Doch durch den Druck richteten sie sich intentional auf eine ›anonyme‹ Öffentlichkeit, die nicht einmal notwendig an die Existenz eines professionellen Musikensembles, also einer Kapelle gebunden war.
Ob von vornherein eine Serie von Messbüchern geplant war, lässt sich nicht sicher sagen, erscheint aber keineswegs unwahrscheinlich. Das riesenhafte Projekt vereint eine denkbar große Vielfalt von Möglichkeiten, dies aber offenkundig in normierender Absicht. Nach einem Jahrhundert intensiver, in den Werken ausgetragener Gattungsüberlegungen wäre dies dann der Versuch eines Komponisten, so etwas wie die Deutungshoheit zu erringen. Das war augenscheinlich verbunden mit der Absicht, das Gattungsdenken dabei, anders als in den Experimenten, nicht bloß zu reflektieren, sondern kompositorisch zu sanktionieren. Ob dieser Vorgang normativ stabilisierend gemeint war, also tatsächlich im Sinne ›stilistischer‹ Musterbücher (als die sie dann verstanden wurden), oder projektiv stimulierend, also als Anregung, lässt sich kaum entscheiden. Die divergierende Fülle der Möglichkeiten verweist eher auf die zweite Variante. Entscheidend ist allerdings der Umstand, dass Josquin Gattungsnormen im Gattungszusammenhang ausloten wollte, in einem Kontext, der sich aristotelisch bestimmen lässt. Das immerhin würde dem Publikationsort Venedig, wo die Aristoteles-Rezeption auch um 1500 eine bestimmende Rolle spielte, zusätzliches Gewicht verleihen. Ob Josquin mit der venezianischen Gattungsdiskussion um 1500 vertraut war, lässt sich nicht einmal vermuten. Doch immerhin verraten die Messenbücher seinen Willen, die liturgische Gattung jenseits ihres liturgischen Kontextes kompositorisch auszuloten und beispielhaft vorzuführen – als Vergleich verschiedener Lösungen eines einzigen Urhebers, im Sinne von Quintilians ›antinomia‹, in der einzelne Entscheidungen zwar für sich gültig, in ihrer Gesamtheit aber widersprüchlich sein können. In seinen Messbüchern hat Josquin ein solches Verfahren erstmals demonstrativ nach außen getragen, willentlich über einen längeren Zeitraum. Das komparative Argument, das Gian di Artiganova in Ferrara geltend gemacht hat, war damit in ein einziges Œuvre – und am Ende sogar nur ein Segment darin – übertragen worden.