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Neue Räume
ОглавлениеDenn die klassischen Veranstaltungsformen wie Ausstellung, Kongress, Konzert oder Aufführung sind direkt mit baulichen Infrastrukturen verbunden, die mit dem Format den Werken oft auch die jeweils nötigen Voraussetzungen garantieren – keine Ausstellung ohne Klimaanlage, kein Konzert ohne Saal und Bühne, keine Aufführung ohne Gewerke. Formate schaffen also in erster Linie Räume – sie organisieren das Sicht- und Hörbarwerden der einzelnen Arbeit und definieren das in einer spezifischen Weise. Die Kreation eines spezifischen, über Jahre wiederholten Konzertformats wie „The Long Now“ schafft zum Beispiel einen 30 Stunden währenden Flow von unterschiedlichsten Kompositionen, der mittelalterliche Werke in die Nachbarschaft von Minimal Music und Ambient-Stücken bringt, zugleich aber auch eine liberalisierte Aufführungspraxis schafft – mit Musiker*innen, die sich bisweilen inmitten des Publikums aufhalten, das seinerseits ständig kommen und gehen kann. Man schläft in der riesigen Turbinenhalle des Veranstaltungsortes Kraftwerk Berlin auf den gleichen Feldbetten ein, auf denen man zuvor mit Freund*innen saß, etwas gegessen oder angehört hat – all das zusammen ergibt die Signatur des Formats. Wobei ein Event nur zum Format werden kann, wenn es sich wiederholt, ohne immer das Gleiche zu sein – die Musikauswahl wiederholt sich ja nie, auch nicht die das Konzert begleitende Ausstellung und Filmreihe. Ein Großteil der Besucher*innen kommt bei „The Long Now“ nicht für einzelne Stücke, sondern für diese Erfahrung einer Vergleichgültigung von Zeit, das Erlebnis der freundlichen Nachbarschaft verschiedener Stile und Menschen. Das Format überragt hier in gewisser Weise das einzelne Werk in der Wirkung auf das Publikum. Das ist genau jener Aspekt, den manche zeitgenössischen Künstler*innen auch als Konkurrenz von Werk und Format beschreiben, als eine neue Übermacht des Formats, oder zumindest eine starke Präsenz, die zu wenig reflektiert wird.
Ein großer Teil unserer Arbeit bei den Berliner Festspielen bestand in den letzten zehn Jahren im Experimentieren mit diesen institutionell verbürgten Konventionen. Künstler*innen, aber auch Programmmacher*innen veränderten das Ritual des Konzerts, der Aufführung oder Ausstellung selbst als Format. Oft entstanden neben den sich selbst entgrenzenden Werken auch ganz neue Formate, die eine eigene Autor*innenschaft besaßen. Ein Werk wie das Nationaltheater Reinickendorf von Vegard Vinge und Ida Müller ist nicht nur ein Stück oder eine Serie von Stücken, sondern eine inszenierte Welt, die Ausstellung, Konzert und Aufführung vereint und ihrerseits von Künstler*innen bespielt wurde, die dafür eingeladen wurden und in einem kuratierten Gesamtkonzept erschienen. Viele Arbeiten von Rimini Protokoll dagegen sind Formate, die theoretisch durch andere Akteur*innen wiederholbar und neu interpretierbar wären.
Die Tendenz, dass die Attraktivität von Veranstaltungen heute oft von Formaten ausgeht, die in ihrer Wirkung die Werke überstrahlen, ist meiner Erfahrung nach die eigentliche Verschiebung im Kunstsystem der letzten 20 oder 25 Jahre. Die Tendenz vom Werk zum Format ist eine, die andere Gewichtungen schafft und die primäre Welt der Werke gelegentlich in den Schatten stellt. Wirklich gute Formate, die nicht nur eine These verfolgen, sondern auch ihr angemessene Wahrnehmungssituationen schaffen, sind Glücksfälle – in ihnen kristallisieren sich Erlebniswelten aus, die spezifische Werkaspekte in Atmosphären übersetzen und für sie neue Verortungen schaffen. Sie erzeugen die Unruhe der Erfahrung von etwas Neuem und von oft ungeahnten Verbindungen zu anderen Feldern der Kunst, der Nichtkunst, anderen Milieus und Generationen. Sich mit Formaten zu beschäftigen, heißt, Rahmungen zu lesen, eine Metaerzählung zu genießen, unabhängig vom Geschmack am einzelnen Werk. Man kann dies als Vorteil dieser Verschiebung vom Werk zum Format empfinden, aber auch als Gefahr. Auf diese Verschiebung zu achten, ist noch eine relativ junge Beschäftigung. Traditionell wird vor allem auf Werke geachtet. Doch nun wächst sowohl auf der Werkebene, also dem singulären Ereignis, als auch auf der Veranstaltungsebene ein kuratorischer Gestus heran, der diese intentionalen Sammelbecken diverser Werke hervorbringt, die als übergeordnete Fassung selbst eine Erzählung bilden.
Formate, insbesondere operative Formate, die für bestimmte Themen oder Aufgabenstellungen erfunden wurden, haben sich im traditionellen Feld der Begegnung zwischen Kunstwerk, Institution und Publikum als eigene Entitäten etabliert. Auch im Bereich der Unternehmensentwicklung oder Pädagogik sind an die Stelle der klassischen Mitarbeiter*innenschulung diverse operative Formate getreten. Formate sind keineswegs Modeerscheinungen einer deregulierten Kunstszene, deren Werke immer interdisziplinärer, internationaler, intermedialer werden und nach neuen Rahmungen verlangen, sondern eine generelle Tendenz des digitalen Zeitalters. Klassische Formate, also die Formate der klassischen Institutionen, sind Sendeformate mit einem linearen Charakter – sie senden von „oben“ und sind in ihrer Struktur festgelegt, das heißt verbindlich für Werke, die in Institutionen nach Sichtbarkeit streben. Dieses Privileg der Formatierung ist inzwischen weniger zwingend mit diesen Institutionen verbunden. So, wie es neben den traditionellen Häusern immer mehr Orte und Strukturen gibt, in denen Formate leichter aus den Bedürfnissen der Werke abgeleitet werden können, hat sich auch eine alternative Kulturszene herausgebildet, die längst ebenfalls „Hochkultur“ produziert, nur nach anderen Spielregeln und Ressourcen.
Eine Ausstellung von Pierre Huyghe schafft zum Beispiel eine schwebende Erfahrung von Kunst, die sich durch die unterschiedlichsten Medien und Orte hindurchbewegt und oft größere Organismen bildet, als klassische Formate sie aufnehmen können. Gerard Mortier hat als Opernspezialist und Festivaldirektor dafür Anfang der 2000er-Jahre, als er die Ruhrtriennale gründete, den bereits erwähnten Begriff der „Kreation“ geprägt – die Beschreibung der Zusammenführung von Romanen mit Räumen und Kompositionen, die ein eigenes, neues Werk hervorgebracht haben, das unwiederholbar durch andere Künstler*innen blieb, weil diese Kreation keine Interpretation war, sondern Schöpfung – was oft schwer zu trennen ist. Während sich im frankophonen Theater der Begriff der „création“ weitgehend durchgesetzt hat, ist sein deutschsprachiges Pendant heute nur selten auf Spielplänen zu lesen. Häufiger stößt man auf die „Stückentwicklung“, die eine vergleichbare Abhängigkeit von Werk und Akteur*innen in der Werkgenese beschreibt, die Wiederholbarkeit durch andere Interpret*innen aber vielleicht weniger kategorisch ausschließt und häufig impliziert, dass das enstandene Werk dem Sprechtheater zuzuordnen ist. Kreationen bzw. créations wie Alain Platels Wolf interpretierten nicht mehr einzelne Werke Mozarts, sondern in der Collage verschiedenster seiner Arbeiten Mozart selbst. In Gerard Mortiers Programm entstanden Formate wie „Century of Song“ oder „Die Wiedererrichtung des Himmels“, die mehrjährige Kreationen auf der Ebene eines anderen Framings von Musik oder Literatur waren und neue Berührungsräume zwischen Literatur und Nicht-Literatur, Malerei oder Politik schufen, um einer Idee, einer Fragestellung bis in ihre feinsten und überraschendsten Verästelungen zu folgen.
Formate sind Inszenierungen von Zusammenhängen, die weniger spezifische Inhalte als Verbindungen aufführen. Festivals sind wahrscheinlich die größten und auch flexibelsten „Maschinen“ für die Zusammenkunft diverser Werkformen. Der moderne Begriff des Kuratierens zielt tatsächlich stärker auf die Inszenierung und das Spiel mit Formaten ab als auf die Arbeit am oder mit dem einzelnen Werk. Dramaturg*innen interessiert im Berufszusammenhang das singuläre Stück, Kurator*innen die Erzählung, die es im Zusammenspiel mit anderen Stücken und vor allem anderen Räumen und Akteur*innen bilden kann. Festivaldirektor*innen orientieren sich hingegen oft an den Eigenbedürfnissen der ihnen übergebenen Festivalmarke – sie haben ein Budget und einen Zeitplan, einen Ort und eine Zielgruppe, und in der Regel sind diese Parameter über viele Jahre oder Jahrzehnte stabil. Die kuratorische Arbeit bricht diese Eigenbedürfnisse der Marke aufgrund der Begegnung mit den Werken und den Schmerzthemen der Gesellschaft immer wieder auf, und Kurator*innen arbeiten daher oft operativer als Direktor*innen – sie formulieren zugespitzte Behauptungen und rahmen sie in einer Struktur, die sie über weite Teile den Werken verdanken. Diese Strukturerfindung ist das Format.