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DIE KLANGLICHEN EXTREME DES MAERZMUSIK-FESTIVALS

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Alex Ross

Der österreichische Komponist Peter Ablinger sitzt auf einem Stuhl auf der Bühne einer leeren Konzerthalle und beginnt, die Zeit anzusagen. „Beim dritten Schlag wird es genau zwanzig Uhr sein“, sagt er und hält sich damit an die heilige Formel der BBC-Zeitansage. Dabei begleitet er sich selbst mit einem einfachen c-Moll-Akkord auf dem Keyboard. Nachdem er zwanzig Minuten so weitergemacht hat, überlässt Ablinger die Bühne der jungen deutschen Schauspielerin Salome Manyak, die ihre Ansagen zu einem atmosphärisch piepsenden Soundtrack des finnischen Experimentalmusikers Olli Aarni macht. Dieses Ritual dauert fast zweiundsiebzig Stunden, wobei ein ständig wechselndes Team aus Künstler*innen, Kurator*innen, Komponist*innen, Sänger*innen und DJs die Zeit auf Deutsch, Englisch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Türkisch, Arabisch, Farsi, Oromo, Mandarin sowie zwölf weiteren Sprachen ansagen. Eine wechselnde Auswahl aufgezeichneter, zumeist elektronischer Tracks sorgt dabei für die Begleitung. Die meisten der Rezitator*innen bewahren ein sprödes, kühles Auftreten, obgleich ihre Websites etwas Stürmischeres erwarten lassen. Der schwedische Tänzer und Kostümbildner Björn Ivan Ekemark zum Beispiel lässt in keinster Weise erahnen, dass er auch unter dem Namen Ivanka Tramp auftritt und eine „klebrige und viszerale Kuchen-Sitz-Performance-Gruppe“ namens analkollaps leitet.

Wir sind natürlich in Berlin, und zwar beim Finale von MaerzMusik, einem jährlichen Bacchanal klanglicher Extreme unter der Schirmherrschaft der Berliner Festspiele. Die diesjährige Ausgabe wurde ausschließlich online gestreamt, wodurch man sie im bequemen Alltagsumfeld des amerikanischen Zuhauses rezipieren konnte. Wie in Europa üblich, gab es eine imposante, wenngleich vage Leitidee: „Zeitfragen“. Der Schwerpunkt des Programms lag auf Erfahrungen, die über konventionelle Zeitrahmen hinauswuchern und das Bewusstsein überfluten. Das eindrücklichste Beispiel hierfür lieferte Éliane Radigues Trilogie de la Mort (1988–1993), eine dreistündige Klanglandschaft aus düster-hypnotischem Elektrogedröhne, das sich wie ein unentzifferbares, der Zeit entrücktes Monument anfühlte.

Doch MaerzMusik hatte mehr zu bieten als die Flucht aus ästhetischen Normen. Bei einem solch hochkarätigen und auskömmlich finanzierten Festival wie diesem wird die Zeit zu einer politischen Frage: Wer kommt zu Wort und wie lange? Auch im europäischen Kulturraum wird die lange Zeit unbestrittene Dominanz der weißen, männlichen Perspektive hinterfragt – fast ebenso stark wie in Amerika. Und so hat das von Kurator Berno Odo Polzer geleitete Festival MaerzMusik sich deutlich von den üblichen Verdächtigen abgewendet. Stattdessen war der afroamerikanische Komponist und Wissenschaftler George E. Lewis eingeladen, ein Konzert zu organisieren, das Schwarzen Komponist*innen gewidmet ist. Mehrere Veranstaltungen würdigten den vielseitigen ägyptisch-amerikanischen Komponisten Halim El-Dabh, der 2017 im Alter von sechsundneunzig Jahren verstarb. Zwei Berliner Experimentalgruppen, PHØNIX16 und noiserkroiser, präsentierten einen Multimedia-Abend in Zusammenarbeit mit dem Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos, einem bolivianischen Ensemble, das traditionelle Instrumente aus den Anden in neue Kontexte überführt.

Der stets überragende Lewis, der an der Columbia University lehrt und derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin ist, hat die deutsche Neue Musik mit der Frage der Race konfrontiert. Vor einigen Jahren stellte er Statistiken zusammen, aus denen hervorging, dass bei den ehrwürdigen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik in sieben Jahrzehnten nur zwei Schwarze Komponist*innen vertreten waren – das entspricht 0,04 Prozent aller ausgewählten Kompositionen. Lewis hat daraufhin nicht nur für eine größere quantitative Vielfalt plädiert, sondern auch für eine andere Vision der Musikkultur selbst – nämlich die einer „kreolisierten“ Welt, in der Geschichten und Identitäten frei zirkulieren. Das Wort „kreolisch“ wird gemeinhin oft verwendet, um die „Vermischung“ verschiedener Races zu kennzeichnen, bezeichnet für Lewis aber – ebenso wie für postkoloniale Theoretiker*innen, die den Begriff übernommen haben – ein viel umfassenderes Zusammenfließen unterschiedlicher Sprachen und Werte.

Der junge Schweizer Komponist und Schlagzeuger Jessie Cox, der bei Lewis an der Columbia University studiert, veranschaulicht, wie eine solche Mix-Zukunft aussehen und klingen könnte. Cox wuchs in der mehrheitlich deutschsprachigen Schweizer Stadt Biel auf, seine Familie hat Wurzeln in Trinidad und Tobago. Schon früh lernte er Djembe und lateinamerikanische Rhythmen und widmete sich später einem gründlichen Studium der modernen Komposition. Bei MaerzMusik trat er im Rahmen der Hommage an El-Dabh am Schlagzeug auf und präsentierte mit Gitarrist Nicola Hein und Sheng-Spieler Wu Wei das teilweise improvisierte Stück Sound is Where Drums Meet. Cox trat auch in einem Programm des Ensemble Modern mit dem Titel Afro-Modernism in Contemporary Music auf, das auch Werke von Hannah Kendall, Alvin Singleton, Daniel Kidane, Andile Khumalo und Tania León vorstellte.

Am deutlichsten offenbarte sich die Idee einer kreolisierten Musik in Sound Is Where Drums Meet, in dem tief verwurzelte Welttraditionen implizit miteinander verschmolzen (die Sheng, ein chinesisches Instrument mit durchschlagender Zunge, eine Art Mundorgel, ist mindestens dreitausend Jahre alt). Das Stück war jedoch keineswegs eine ethno-musikwissenschaftliche Übung; vielmehr bedienten sich die Interpret*innen einer experimentellen Lingua franca, die von zarten Klangfarben bis hin zu furiosen Anfällen im kollektiven Pandämonium reichte und mich in manchen Momenten an Duos von Max Roach und Cecil Taylor erinnerte. Nicht weniger beeindruckend war Existence lies In-Between, Cox’ Beitrag zum Ensemble-Modern-Programm. Dabei handelt es sich um eine vollständig notierte Partitur, die den Interpret*innen dennoch Freiheiten lässt. So wird beispielsweise die Bassklarinette manchmal aufgefordert, „wild, frei, jazzig“ in der Art von Marshall Allen, dem langjährigen Saxofonisten des Sun Ra Arkestra, zu spielen. Cox’ Stil könnte man als dynamischen Pointillismus bezeichnen, bei dem hingehauchte Instrumentalgeräusche in klagende Glissandi übergehen, um im Ansturm rasender Figurationen zu kulminieren.

Dennoch schienen beide Stücke in getrennten Welten zu verweilen: das eine in der experimentellen Zone, das andere im Konzertsaal. Online hat Cox bereits Projekte durchgeführt, die solche Unterscheidungen aufheben, indem sie ihre eigenen, virtuellen Akustikräume erschaffen. So präsentierte er kurz nach seinem Besuch in Berlin in Zusammenarbeit mit dem ISSUE Project Room eine 90-minütige Arbeit namens The Sound of Listening, die das Publikum zum Besuch diverser „Räume“ einlädt, in denen sich verschiedene musikalische Aktivitäten abspielen. Dabei herrscht eine nachdenkliche Stimmung, die frei schweifenden Gedanken viel Raum gibt: Das Eröffnungssolo der Bassistin Kathryn Schulmeister etwa wirkt wie eine rastlos suchende Meditation. Weitaus hektischer wirkt Breathing, eine Art Video-Arie, die Cox im November für die „Songbook“-Reihe der Long Beach Opera aufnahm. Der Schwarze Bassbariton Derrell Acon singt dabei mit vor Schmerz und Wut gebrochener Stimme, während er durch Stadt- und Waldlandschaften wandert. Am Ende atmet er aus, während Vogelgezwitscher die Tonspur füllt – eine idyllische Wendung, die ihn ebenso zu erstaunen scheint wie die Zuschauer*innen.

Inmitten der allgemeinen Tendenz zur Ad-libitum-Ekstase bei MaerzMusik – die Veranstaltung mit dem Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos schwoll zu einem beeindruckend apokalyptischen Getöse an – bot die Uraufführung von Jürg Freys Streichquartett Nr. 4 eine Oase der konzentrierten Stille. Frey, der aus Aarau in der Schweiz stammt – etwa fünfundvierzig Meilen von Cox’ Heimatstadt Biel entfernt –, schreibt Kammermusik, die dort anzuknüpfen scheint, wo Schostakowitsch aufgehört hat: in einem Bereich, in dem die romantischen Harmonien zu schönen, halbverschütteten Ruinen verkommen sind. Das Streichquartett Nr. 4 ist besonders aufgrund seiner Coda bemerkenswert, in der ein weiches, tiefes Cis mehr als hundert Mal wie eine gedämpfte Uhr auf dem Cello gezupft wird, während Geigen und Bratsche nach geisterhaften Akkorden greifen.

Das epische Finale des Festivals, die Zeitansage, bot ganz eigene umnebelnde Freuden. Mit dem Titel TIMEPIECE knüpfte es an Ablingers Werk TIM Song von 2012 an. In der ersten Stunde trat Lewis selbst als Rezitator auf; einige Stunden später begleitete das Quatuor Bozzini die Rezitator*innen mit Michael Oesterles Consolations, das der Stimmung nach Freys Quartett nicht unähnlich ist. Weit nach Mitternacht übernahm dann die irische Komponistin und Performerin Jennifer Walshe die Sendung und sorgte, ganz nach ihrer Gewohnheit, für Verwirrung. Sie stellte auf die Dublin-Zeit um, die seit 1916 nicht mehr gilt, und wich mit Ansagen wie „Beim dritten Glockenschlag wird es arsch Uhr sein“ vom Drehbuch ab. Vor allem aber war es faszinierend, die Uhrzeit in so vielen Sprachen zu hören – eine Vielfalt, die von der Weltoffenheit Berlins zeugt. Dem deutschen Philosophen Johann Gottfried Herder zufolge sollten die verschiedenen Kulturen der Welt auf ihre Eigenheiten stolz sein und gleichzeitig nach einer höheren Wahrheit in der gemeinsamen Menschlichkeit suchen. Für ungefähr einen Tag schien diese Utopie Wirklichkeit zu werden, denn die Menschen vieler Nationen waren sich zumindest in einem Punkt einig: der Zeit.

Alex Ross ist Musikkritiker und schreibt seit 1996 für The New Yorker. Der Beitrag „The Sonic Extremes of the MaerzMusik Festival“ (Die klanglichen Extreme des MaerzMusik-Festivals) ist zuerst am 19. April 2021 unter dem Titel „The Noise of Time“ (Der Lärm der Zeit) in der Printausgabe von The New Yorker erschienen.

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