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36 PUNKTE ZUM MASSLOSEN SCHAFFEN UNSERER WERKE

Signa Köstler

Liebe Kolleg*innen,

ich wurde gebeten, heute und hier einen Impuls zu geben. Ich habe die ehrenwerte Aufgabe, Mut zur Maßlosigkeit einzuflößen.

Ich muss mich in Zeiten wie diesen an Schriftsteller*innen wie Georges Bataille klammern und erkennen, dass (ich zitiere) „unser bestimmendes Moment der Überfluss ist, die Überfülle an Energie, und unser Ausgangspunkt ist die Sonne, die nichts als Verschwendung ist“.

In meiner Vorstellung fordert die Kunst an sich eine Grenzenlosigkeit.

Gegenüber dieser Forderung fühle ich mich gering, denn das Grenzenlose hat keinen Meister und seine Arbeit ist nie vollendet.

Es ist gänzlich unbequem, das Unmögliche zu begehren, aber das Mögliche erbleicht im Vergleich.

Das maßlose Schaffen ist eine ungesunde Besessenheit, egal, unter welchen Bedingungen, und ja, unsere Leidenschaften beuten uns aus und werden uns schließlich fressen, aber sind sie nicht das schönere Raubtier als die Biester, die uns sonst erbeuten?

Also 36 Punkte zum maßlosen Schaffen unserer Werke:

1.Wir müssen unsere Werke an der äußersten Front aufbauen. Die Grenzen sind zu verletzen.

2.Wir müssen mit Verlusten rechnen, denn schädliche Elemente dürfen nicht verbannt werden. Wer am Messer leckt, zerschneidet sich die Zunge.

3.Unser Blick muss bis über den Überblick hinaus reichen, um sich dort zu verlieren. Wir haben keinen Anspruch darauf, unser Werk vollends zu kennen.

4.Wir schaffen mit vollstem Ernst. Auch wenn es lächerlich erscheint.

5.Wir müssen uns weder erklären noch rechtfertigen. Wir müssen auch gar nicht dazu imstande sein.

6.Wir dürfen uns pathetisch im schlechten Geschmack suhlen, denn was das heißt, weiß eh keiner.

7.Wir sind verpflichtet und verdammt zum maßlosen Schaffen. Keine Ruhe, keine Vollkommenheit, keine Erlösung … Weiter.

8.Das Werk muss um jeden Preis geschaffen und durchgeführt werden. Ohne Verspätung und ohne Beschränkung.

9.Wenn die Zeit knapp wird und Verstärkung fehlt, müssen wir Medikamente nehmen.

10.Wir müssen alle Aspekte des Werks in seiner Produktion und Präsentation kennen und unseren Einfluss gelten lassen. Unseren Produzenten müssen wir drohen, wenn sie uns beschränken. Unsere Dramaturgen müssen wir würgen, wenn sie uns durchkreuzen.

11.Wir bauen ein Modell, 1:1, akribisch bis ins letzte Detail. Mit Küche, Klo und Schlafzimmer.

12.Wir stecken unser Bühnenbild in Brand, wenn es notwendig ist.

13.Wir archivieren alle unsere Spuren und schießen Millionen Fotografien.

14.Wir schreiben die Geschichte wie ein Gen, denn sie hat sich zu entfalten. Unvorhersehbar und ohne Drehbuch.

15.Die Fiktion ist unzerbrechlich und endet nie. Die Realität ist sowieso ein Irrtum.

16.Immer müssen 53 Handlungen gleichzeitig geschehen. Zwar miteinander verbunden, aber nicht auf einmal wahrzunehmen.

17.Weil die Kunst ein Ausnahmezustand ist, verlangen wir volle, unbedingte Konzentration und stetige Wachsamkeit vom Publikum.

18.Unser Anliegen ist mit dem Alltag des Publikums unvereinbar. Es fordert gänzlich seine Freude und überlässt sie der Langeweile und dem Unbehagen.

19.Das Publikum wird die Treppen auf und ab gejagt, und in einen Raum nach dem anderen. Denn wer den Weg verliert, lernt ihn kennen.

20.Wir müssen beim Publikum betteln und drängen, um seine Haare, Nägel und Körperflüssigkeiten zu erlangen. Auch diese sind zu archivieren.

21.Wir müssen das Publikum beschenken und ernähren. Wir müssen in seine Gläser spucken. Wir lassen sie auch wetten, aber wir behalten den Gewinn.

22.Wir müssen das Publikum berühren, und manchmal auch schlagen.

23.Das Publikum muss in unseren Werken schlafen. Ihr Schlaf muss überwacht werden.

24.Wir müssen das Publikum (das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum das Publikum) zu Hause und bei ihrer Arbeit aufsuchen.

25.Wir schulden dem Publikum das Maßlose.

26.Wir müssen bis zur Erschöpfung spielen. Tage, Wochen, Monate ohne Pause. Jeder Augenblick zählt in der fanatischen Verzweiflung des Werks.

27.Schmerz, Müdigkeit, Harndrang, Hunger und Durst sind uneingeschränkt dem Werk zu widmen.

28.Wir müssen in unseren Werken kollabieren, dort, wo uns jeder sieht.

29.Wir müssen uns schämen und unsere Scham preisgeben, bis zum Himmel stinken und kotzen einfach so.

30.Wir sind völlig indiskret.

31.Nur ungern entschuldigen wir uns.

32.Wir lügen wilder als die Pferde rennen können.

33.Wir müssen uns die Knochen brechen, die Zähne ausschlagen, die Augen verätzen, die Haut verbrennen, die Finger zerquetschen, die Genitalien elektrifizieren. Wir müssen uns vergiften und den Verstand verlieren.

34.Wir müssen unsere Mitspieler lieben und unbedingt vertrauen.

35.Wir müssen geduldig sein.

36.Wenn wir uns vom Werk zurückziehen, sind wir erschöpft, desorientiert, frigid, hustend und alternd.

Signa Köstler ist Performerin und Mitgründerin der Performancegruppe SIGNA. „36 Punkte zum maßlosen Schaffen unserer Werke“ war ihre Eröffnungsrede am 19. Mai 2012 beim Künstler*innengipfel des Theatertreffens.

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