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„ERFOLG IST IMMER EIN DESASTER“

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William Kentridge im Gespräch mit Christiane Peitz

2016 wurde eine umfangreiche Schau aus dem vielfältigen Werk des Künstlers William Kentridge erstmals in Berlin von den Berliner Festspielen präsentiert: im Martin-Gropius-Bau (12. Mai bis 21. August 2016) und im Haus der Berliner Festspiele im Rahmen des Festivals Foreign Affairs (5. bis 17. Juli 2016). Kentridge ist nicht nur bildender Künstler, sondern auch Filmemacher, Regisseur und ein großer Erzähler. Seit mittlerweile mehr als drei Jahrzehnten bewegt sich sein Schaffen durch unterschiedliche künstlerische Disziplinen.

Im Mittelpunkt seines Denkens steht die bildnerische Arbeit. Sie war Ausgangspunkt für eine große, von Wulf Herzogenrath kuratierte Ausstellung mit dem Titel „NO IT IS !“ im Martin-Gropius-Bau, mit Zeichnungen über die berühmten, Georges Méliès gewidmeten Animationsfilme von 2003 und Drawings for Projection (1989–2011) bis hin zu dem monumentalen filmischen Fries More Sweetly Play the Dance (2015) und der Rauminstallation The Refusal of Time, die 2012 erstmals auf der documenta zu sehen war. Die 45 Meter breite Filmprojektion More Sweetly Play The Dance war nicht nur im Martin-Gropius-Bau, sondern auch an der Fassade des Hauses der Berliner Festspiele zu erleben. Im Festspielhaus gab es außerdem weitere Filminstallationen des Künstlers zu sehen, und er präsentierte seine transdisziplinäre Lecture „Drawing Lessons“ auf der großen Bühne. 2012 als Vorlesungsreihe in Harvard entstanden, sind sie Reflektionen der eigenen ästhetischen Praxis, die sowohl vom Leben im Studio, von Kentridges Wertschätzung der Schatten und der Missverständnisse als auch von Kolonialgeschichte und dem politischen Umfeld zwischen Apartheid und Gegenwart erzählen. Das folgende Interview führte Christiane Peitz für Der Tagesspiegel.

Christiane Peitz:

Mr. Kentridge, Sie sagen, Ihren Erfolg verdanken Sie Ihrem Scheitern. Wie meinen Sie das?

William Kentridge:

Wahrscheinlich kann man jede Biografie so erzählen. Man ist, wer man ist, weil man mit diesem oder jenem scheiterte. Ich bin gescheitert bei meinen Versuchen, in Öl zu malen, Schauspieler zu werden, Filmemacher zu werden. Eines Tages fand ich mich im Atelier wieder, jetzt mache ich alles, malen, spielen, filmen. Ich profitiere von Dada, davon, dass diese Anti-Kunst den Raum der Kunst in alle Richtungen geöffnet hat. Mit 15 wollte ich Dirigent werden. Dann erfuhr ich aber, dass man dafür Noten lesen muss, also wurde es nichts. Jetzt inszeniere ich Opern, das ist fast wie Dirigieren, ohne Noten lesen zu können.

CP:Sie zeichnen vor der Kamera, machen ein Foto von der Zeichnung, ändern sie, machen wieder ein Foto: Wie kamen Sie zu dieser umständlichen Animationstechnik?

WK:Ich machte normale Filme mit Schauspieler*innen, in einem davon gab es eine kurze animierte Kohlezeichnung. Ein Freund von mir meinte, warum machst du nicht einen vollständigen Film nur auf diese Weise? Ich erwiderte: Bist du verrückt, weißt du, wie lange das dauert? Oft sind es sechs oder acht Monate für einen Zehn-Minuten-Film.

CP:Was geschieht auf diesen zahllosen Wegen zwischen Zeichnung und Kamera?

WK:Ich gehe weg von der Zeichnung, drehe mich um, mache zwei Fotos, gehe wieder zurück und habe jedes Mal einen frischen Blick auf das Bild. Kunst ist vielleicht genau das: dass man die Dinge immer neu sieht. Das Gehen hat etwas Repetitives. Man beginnt zu zählen, die Zeit wird zur Entfernung, zur Maßeinheit. Es ist ein sehr produktiver Raum für neue Ideen.

CP:In den Drawing Lessons erzählen Sie, wie Sie als Neunjähriger an Sommernachmittagen in Johannesburg die sich ständig verändernden Gewitterwolken beobachtet haben. Die vor dem Übermalen verwischte Kohle in Ihren Filmen erinnert daran.

WK:Alle Kinder gucken gerne in die Wolken und schauen, welche Formen sie annehmen. Und wenn man erst mal einen alten Mann oder einen Hundekopf identifiziert hat, sieht man nur noch diese eine konkrete Gestalt. Wir können nicht anders: Wir wollen der Welt Sinn verleihen.

CP:Hat Ihre Technik des Übermalens auch einen politischen Aspekt? Die Wirklichkeit – die Apartheid in Südafrika – wurde übertüncht, aber sie hinterließ Spuren?

WK:Und es gibt ständig Bewegung, etwas, was die Gesellschaft wie eine Maschine im Inneren antreibt, wie eine Maschine, und sie dazu bringt, unzufrieden zu sein, zu protestieren und die Dinge verändern zu wollen.

CP:Ihre Eltern arbeiteten als Anwälte. Sie verteidigten die Schwarzen, Opfer der Apartheid. Mit sechs entdeckten Sie auf dem Schreibtisch Ihres Vaters eine Schachtel mit Fotos von Leichen, Beweismaterial für einen Prozess. Ein Schlüsselmoment?

WK:Höchstens im Rückblick. Ich dachte, es ist eine Schachtel Schokolade, aber da waren diese Bilder von Menschen, die erschossen worden waren. Erst als ich mich fragte, warum in meinem Animationsfilm Felix in Exile solche Bilder auftauchen, fiel die Schachtel mir wieder ein. Damals war es ein Moment der Beschämung. Nicht dass ich mich persönlich geschämt hätte, es war die Scham der Welt.

CP:Würden Sie sich selber einen politischen Künstler nennen?

WK:Nur insofern, als ich ein polemisches Verhältnis zur Politik als Provisorium habe und mir ihrer Ungewissheit bewusst bin. Das Fehlen jeder politischen Botschaft in meinen Werken ist Ausdruck meiner Skepsis gegenüber jeglicher Gewissheit. Erfolg ist immer ein Desaster.

CP:Ihre Filmfiguren reden nie, es gibt Musik, Gesang, aber keinen Dialog. Misstrauen Sie der Sprache?

WK:Nein, ich kann ganz gut reden, anfangs war Jura durchaus eine Option. Aber mein Vater – er ist 93 Jahre alt und bei guter Gesundheit – war ein derart guter Anwalt, dass es keine gute Idee gewesen wäre, in seine Fußstapfen zu treten. Meine jüngere Tochter ist eine gute Anwältin geworden, die Begabung hat eine Generation übersprungen. Außerdem bin ich ein schlechter Dialogschreiber. Und vor allem gibt es nichts Komplizierteres, als Mundbewegungen zu animieren. Wiederholte Bewegung ist weit schwerer zu zeichnen als Transformation: Es ist leichter, ein Telefon in eine Katze zu verwandeln, als das Telefon umzudrehen.

CP:Sie arbeiten mit Kohle, mit Scherenschnitten, fast immer schwarzweiß. Warum kaum Farbe?

WK:Eine Frage des Temperaments. Es gibt Künstler*innen, die denken in Farbe, für mich ist Farbe eher Dekor. Ich arbeite gern mit Farbe, die schon da ist, der Farbe auf Landkarten zum Beispiel. Aber wenn ich selber Farben auf einer Palette mische, kommt immer das Gleiche heraus und nie das, was ich möchte. In meinen Operninszenierungen gibt es fantastische Farben, aber die verdanke ich den Kostümbildner*innen.

CP:Und warum schicken Sie einen in Ihren Installationen gern in dunkle Räume?

WK:Es geht nicht anders, wegen der Filmprojektionen.

CP:Nur praktische Gründe? Sie zitieren oft Platons Höhlengleichnis.

WK:Wir sind alle Kinder der Aufklärung, jedenfalls hier im Westen. Das Höhlengleichnis ist eine Art Gründungsmythos der Aufklärung. Wir müssen alle ins Licht kommen, es bedarf aber einer Autorität, die uns Gefangene aus der dunklen Höhle dorthin führt. Und weil es nur zu unserem Besten ist, kann auch Gewalt angewendet werden. Nehmen wir Libyen: Amerikaner und Briten retten die Libyer vor dem dunklen Zeitalter Gaddafis, indem sie töten und die Infrastruktur in die Luft jagen. Und dann sind wir überrascht, wenn es nicht in der Demokratie endet, sondern in einer Katastrophe. Missionierung, erzwungenes Bewusstsein, all das lässt sich auf Platon zurückführen. Was die Zukunft Südafrikas nach der Apartheid betrifft, bin ich übrigens verhalten pessimistisch.

CP:Sie ziehen alte Technologien den neuen vor, zeichnen Schreibmaschinen, alte Telefone …

WK:… aber ich benutze auch digitale Techniken, zum Ausstellungskatalog wird es eine App geben! Abgesehen davon ist es schöner, eine Schreibmaschine zu zeichnen als einen modernen Computer. Die Schwärze einer alten Schreibmaschine und die Schwärze des Kohlestifts, das passt gut zusammen. Sie hat eine klare Form, die in hunderten Varianten existiert: Ich könnte ein Jahr damit zubringen, Schreibmaschinen zu zeichnen. (Schaut auf sein Smartphone): Beim Smartphone ist die Reflexion auf der glänzenden dunklen Oberfläche künstlerisch vielleicht interessant, viel mehr aber auch nicht.

CP:Sie treten oft selber vor der Kamera auf, manchmal sogar doppelt, oder Sie zeichnen sich selbst. Warum so persönlich?

WK:Ich bin kein Schriftsteller, der es vermag, sich in die Psyche anderer hineinzuversetzen. Es geht mir aber nicht darum, Ich zu sagen, ich bin nur der Ausgangspunkt, alles andere wäre zu beliebig. Könnte ich auch Kunst machen, wie eine 30-jährige Schwarze Südafrikanerin sie kreiert? Höchstens als Pastiche, als Collage.

CP:Eine Frage der Ehrlichkeit?

WK:Nein, es ist nichts Moralisches, nur die praktische Frage des Ausgangspunkts. Das Inauthentische interessiert mich ohnehin mehr, das Ich rückt schnell in den Hintergrund. Meinen Film Felix in Exile

CP:… in dem Ihr gezeichnetes Alter Ego die Hauptrolle spielt …

WK:… habe ich deshalb begonnen, weil ich es mochte, dass die Wörter im Titel fast ein Anagramm sind. Ich hatte nicht vor, etwas über die Entfremdung oder Einsamkeit einer Person zu machen. Mir gefiel einfach das Buchstabenspiel, der Anblick der beiden Wörter untereinander.

CP:Ihre Familie stammt aus Litauen, Kentridge kommt von Kantrovich. Sie wuchsen als Nachfahre jüdisch-osteuropäischer Migrant*innen in Südafrika auf, wie hat das Ihre Arbeit geprägt?

WK:Ich bin am Rand der Gesellschaft aufgewachsen, nicht im Zentrum, mit dem Bewusstsein, dass die Geschichte turbulent verläuft und dass wir mit vielen Traditionen verbunden sind, nicht nur mit einer. Deshalb misstraue ich allen großen Theorien, bin skeptisch gegenüber Autoritäten. Ich halte die Welt für provisorisch und für absurd. Diese Respektlosigkeit entsteht fast von selber, wenn man ständig bemerkt, wie sehr sich die tatsächlich erlebte Welt von dem unterscheidet, was die Autoritäten über sie behaupten. Über die Minderwertigkeit eines Teils der südafrikanischen Bevölkerung zum Beispiel: Es ist vollkommen irrational, dass dein Schicksal von deiner Hautfarbe abhängt. Oder die Behauptung, unsere siebenjährige Dürre wäre von Frauen verursacht worden, die Miniröcke tragen und damit die Götter erzürnen. Wie gesagt, absurd!

CP:Stimmt es, dass Sie auch deutsche Vorfahren haben?

WK:Bei meiner Großmutter väterlicherseits gab es deutsche Juden aus Polen, die über Großbritannien nach Südafrika kamen. Komischerweise ist die deutsche Kultur sehr wichtig für mich geworden, ich verstehe selber nicht ganz, warum.

CP:Sie haben Hegel gelesen, kürzlich gab es in Berlin eine Ausstellung über Ihre Verbindungen zu Dürer. Als Junge hörten Sie mit Ihrem Vater Franz Schuberts Winterreise, mit Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore …

WK:… und ich habe den Faust mit der Handspring Puppet Company gemacht, später Georg Büchners Woyzeck inszeniert, Die Zauberflöte und kürzlich Alban Bergs Lulu. Die frühe Moderne, die das Soziale und das Menschliche im Blick behielt, ist mir näher als die Abstraktion und die Emanzipation der Farbe. Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Beckmann – George Grosz hat mich schon als Student interessiert. Aber ich müsste mich wohl einer Psychotherapie unterziehen, um herauszufinden, was mich damals Tausende Meilen von Deutschland entfernt an der Winterreise so faszinierte.

CP: Ihre Mutter verließ dann den Raum.

WK:Sie konnte es nicht ertragen. Sie war neun bei Kriegsbeginn, alles Deutsche war ihr verleidet. Es war die Generation, die sich nicht in der Lage sah, ein deutsches Auto zu kaufen, und erst in den Siebzigern wieder nach Deutschland reiste. In der jüdischen Community von Johannesburg war das weit verbreitet. Meine Mutter hätte nie eine Wagner-Oper besucht oder einen Liederabend.

CP:Berlin haben Sie zum ersten Mal 1981 besucht, wie war das?

WK:Wir sahen (auf Deutsch:) Die Macht des Schicksals, außerdem Brecht am Berliner Ensemble. Brecht war wichtig in Südafrika, sein Theater galt als Modell für politisches Theater mit radikalen Wurzeln. Das marxistische Gedankengut war uns vertraut. Ich sage gerne: Die beiden großen Rabbis des 19. Jahrhunderts waren Karl Marx und Sigmund Freud. Ihr Gedankengut hat mich geprägt, ohne dass ich ein Marxist oder ein Freudianer wäre.

CP:Und wie haben Sie Berlin als Stadt wahrgenommen?

WK:Der Zweite Weltkrieg war allgegenwärtig. Die Hälfte der Häuser war zerstört, die andere Hälfte voller Einschusslöcher. In Westberlin waren die Fassaden zwar repariert, aber man konnte es immer noch sehen. Das ist jetzt vollkommen anders. Ich wohne in einem Hotel unweit vom Checkpoint Charlie, der ehemalige Grenzübergang ist eine Disney World geworden, mit Trabi-Safaris, verrückt. Ich suche immer nach den Spuren der Vergangenheit, auch beim Pergamon-Altar gucke ich sofort, was ist alter Marmor, was ist ergänzt. Der schwedische Zimmermann, der den Elefanten in der Ausstellung hier gebaut hat, wollte kein deutsches Eichenholz verwenden. Ich dachte, ist das schwedischer Chauvinismus? Nein, es hat praktische Gründe, deutsche Eiche ist voller Schrapnell-Splitter.

CP:Heute noch?

WK:Die großen alten Bäume sind mit Metallsplittern aus dem Zweiten Weltkrieg gespickt, sie beschädigen das Sägeblatt, wenn man das Holz bearbeitet. Die deutsche Geschichte ist lebendig, sie steckt in den Wunden der Bäume, die nicht heilen wollen. Fast wie die Wunde von Amfortas: Noch 300 Jahre lang wird der Krieg in den Bäumen stecken.

CP:Im Martin-Gropius-Bau ist auch Ihre Rauminstallation The Refusal of Time zu sehen. Metronome, Uhren, das Zählen der Bilder bei Ihren Filmen: Was haben Sie im Lauf der Jahre über die Zeit herausgefunden?

WK:Am Ende geht es um Schicksal, weil das Leben endlich ist. Auch darum, was wir gern ungeschehen machen würden, die Dinge, die wir lieber nicht gesagt, die Mails, die wir lieber nicht verschickt hätten. Alles mündet in einem schwarzen Loch, alle Bilder, alles Leben, die Zeit selbst wird verschlungen. Der Sarg, in dem wir enden, ist das Urbild dieses schwarzen Lochs. Bleibt etwas von der Seele? Damit befasst sich die Stringtheorie, aber auch die Wissenschaftler*innen sind Poet*innen, die den Gedanken nicht ertragen, dass nichts bleibt.

(Auf Kentridges Smartphone ertönen Glockenschläge.)

CP:Da ist sie, die Zeit.

WK:Ich habe die Uhr gestellt. 45 Minuten Interview, wie vereinbart.

CP:In den Drawing Lessons schreiben Sie „Torschlusspanik“, deutsch, in Versalien.

WK:Ein tolles Wort, es gibt kein Äquivalent im Englischen. Die Panik der verpassten Gelegenheiten. Walter Benjamin sprach vom Engel der Geschichte, dem der Sturm entgegenweht, während er zurückblickt. Stellen Sie sich diesen Wind vor, wie er einem alle Türen vor der Nase zuschlägt, das ist Torschlusspanik. Ich weiß nicht, wie ich 50 Jahre ohne dieses Wort leben konnte.

William Kentridge ist bildender Künstler, Filmemacher und Regisseur. Das Gespräch mit der Journalistin Christiane Peitz „Erfolg ist immer ein Desaster“ ist zuerst am 10. Mai 2016 in Der Tagesspiegel erschienen.

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