Читать книгу Selbst- und Welterleben in der Schizophrenie - Группа авторов - Страница 15
1.2 Das basale Selbst
ОглавлениеDie phänomenologische und ontologische Natur des Selbsterlebens wird in verschiedenen Wissenschaften kontrovers diskutiert (Berrios und Marková 2003; Fuchs 2020). Es besteht kein Konsens darüber, ob so etwas wie »das Selbst« real erfahrbar ist oder eher eine theoretische Konzeption der Philosophie darstellt. Viele verstehen das Selbstempfinden als einen integralen Bestandteil des Bewusstseins (Damasio 1999; Zahavi 1999), der z. B. bei der Suche nach neuronalen Korrelaten von bewusstem Erleben zu berücksichtigen sei. Andere dagegen behaupten, dass es weder notwendig noch logisch sei, die Existenz eines Selbst anzunehmen (Metzinger 2003). Darüber hinaus bestehen divergierende Vorstellungen davon, aus welchen Komponenten sich das menschliche Selbsterleben konstituiert: James (1890/1950) unterscheidet zwischen einem materiellen, sozialen und geistigen Selbst; Neisser (1988) definiert ein ökologisches, ein interpersonelles, ein erweitertes, ein privates und ein konzeptuelles Selbst. Daneben gibt es Ausführungen zum ›autobiografischen, ›relationalen‹, ›fiktionalen‹ und ›neuronalen‹ Selbst ebenso wie zu einem ›Kernselbst‹, einem ›verkörperten‹, ›minimalen‹ oder ›basalen‹ Selbst (z. B. Damasio 1999; Strawson 1999; Zahavi 1999). Das Disparate der Konzepte ist sowohl problematisch als auch produktiv: Es erzeugt einen Reichtum an methodologischen Zugängen – sie reichen von der Introspektion und phänomenologischen Analyse über Gedankenexperimente, linguistische Analysen, empirische Experimente bis hin zu Studien von pathologischen Zuständen –, verhindert jedoch eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse und Befunde sowie die Entwicklung einer einheitlichen Theorie.
Kircher und David (2003, S. 2) definieren das Selbst als »die allgemein geteilte Erfahrung, dass wir wissen, dass wir über die Zeit hinweg die gleiche Person sind, dass wir der Autor unserer Gedanken/Handlungen sind, und dass wir uns von der Umwelt unterscheiden«. Dies umfasst das sehr grundlegende, unmittelbare und implizite Empfinden, als Person eine Ganzheit zu bilden, verschieden von anderen zu sein und über die Zeit hinweg ein kontinuierliches Zentrum der eigenen Erfahrungen darzustellen. Bezug nehmend auf neuere phänomenologische, entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Konzepte wollen wir im Folgenden zwei grundlegende Formen dieses Selbsterlebens unterscheiden: (1) das basale, präreflexive oder leibliche Selbst und (2) das erweiterte, reflexive oder personale Selbst (Damasio 1999; Gallagher 2005; Rochat 2004; Zahavi 1999).
1. Das basale Selbst ist ein inhärenter Bestandteil aller Bewusstseinsprozesse. Es ist charakterisiert durch ein implizites, präreflexives (dh. unbewusstest) und verkörpertes Selbstgewahrsein (›Ich bin ich und ich selbst mache diese Erfahrung‹), das in jeder Erfahrung mitgegeben ist, ohne dass dafür eine explizite Introspektion oder Reflexion erforderlich wäre. Einen Baum zu sehen oder zu berühren, schließt immer auch das implizite Bewusstsein des eigenen Sehens oder Spürens und des eigenen Leibes im Hintergrund ein. Darin besteht die ›Erste-Person-Perspektive‹ oder ›Ipseität‹ (Klawonn 1991; Henry 1963). In der Literatur wird auch von einem »minimalen Selbst« (minimal self) oder »Kernselbst« (core self) gesprochen (Zahavi 2011; Cermolacce et al. 2007), da das basale Selbst das Minimum an Selbstsein beschreibt, das für ein subjektives Erleben erforderlich ist. Das basale Selbsterleben lässt sich nach Fuchs (2012) weiter in das ›primäre leibliche‹, das ›ökologische‹ (auf die Umwelt bezogene) und das ›soziale‹ (auf die anderen bezogene) Selbst differenzieren.
2. Das erweiterte, personale oder reflexive Selbst ist durch eine Reihe von eng miteinander verknüpften Fähigkeiten charakterisiert: (a) durch ein höherstufiges Bewusstsein der eigenen Zustände und Erlebnisse (introspektives oder reflexives Selbstbewusstsein), (b) durch die Fähigkeit, andere als intentionale Wesen zu verstehen und ihre Perspektive nachzuvollziehen (Perspektivenübernahme) (Tomasello 2002; Fuchs 2013); (c) durch die Fähigkeit, die eigenen Erfahrungen zu kohärenten Geschichten zu verknüpfen (narrative Identität) (Carr 1986; Schechtman 1996); (d) durch ein begriffliches und biografisches Wissen von sich selbst (Selbstkonzept).
Eine Großzahl neuerer theoretischer und empirischer Forschungsarbeiten beschreibt eine Störung des basalen Selbsterlebens als charakteristisch für die schizophrene Erkrankung (Ardizzi et al. 2015; Benson et al. 2019; Fuchs 2005; Møller und Husby 2000; Parnas und Handest 2003; Parnas und Sass 2011; Thakkar et al. 2011). Vielfach werden die Veränderungen des Selbsterlebens der Betroffenen auch unter dem Begriff der Entkörperung (disembodiment) zusammengefasst und als psychopathologischer Kern oder Grundstörung der Erkrankung verstanden (Laing 1960; Fuchs 2001, 2005; Stanghellini 2004; Fuchs und Röhricht 2017). Störungen der Reflexivität oder der Perspektivenübernahme (»Theory of Mind«)sind nach dieser Konzeption eher als sekundäre Folgen der basalen Selbststörung zu verstehen. Dieser Grundstörung wollen wir im Folgenden anhand der historischen Entwicklung des Schizophreniekonzepts sowie aktueller psychopathologischer Erklärungsansätze nachgehen.