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Vorwort

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Die phänomenologische Erforschung der Schizophrenie hat in den letzten zwei Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Zahlreiche neuere theoretische und empirische Arbeiten haben basale Störungen des Selbsterlebens als ein charakteristisches Merkmal oder sogar als den Kern der Erkrankung identifiziert. Sie liefern gute Evidenz dafür, dass die genaue Beschreibung dieser Selbststörungen auch zur Früherkennung und -behandlung der Erkrankung genutzt werden kann, d. h. in Phasen, in denen die charakteristischen produktiven Symptome wie Wahn oder Halluzinationen noch nicht hervorgetreten sind. Von Betroffenen werden Selbststörungen zunächst als subtiles Gefühl der Entfremdung, der inneren Leere oder als Verlust der eigenen Natürlichkeit erlebt. In akut-psychotischen Zuständen können sie sich bis zu einer existenziell bedrohlichen »Ich-Auflösung« steigern. Phänomenologisch orientierte Psychopathologen verorten den Ursprung der schizophrenen Selbststörungen in einer mangelnden Verkörperung des Selbsterlebens (disembodiment). Dementsprechend lassen sich bei Menschen mit Schizophrenie meist Störungen des Körper- und Bewegungserlebens erheben, die mit Interaktionsschwierigkeiten sowie einem hohen Leidensdruck einhergehen. Dieses alternative Verständnis der basalen schizophrenen Symptomatik ist nicht nur für die Früherkennung wertvoll; es eignet sich besonders dazu, körperorientierten Therapieverfahren, die z. B. bei bislang therapieresistenten Negativsymptomen Wirkung zeigen, eine konzeptuelle Basis zu geben.

Mit der Entwicklung einer strukturierten Erhebung von Erlebnisveränderungen bei Betroffenen haben Josef Parnas, Louis Sass und ihre Teams maßgeblich zu den beschriebenen Fortschritten beigetragen: Die zwei phänomenologischen Interviews Examination of Anomalous Self Experience (EASE) und Examination of Anomalous World Experience (EAWE) sind semistrukturierte Tiefeninterviews zu verschiedenen Bereichen des Selbst- und Welterlebens, die eine Erfassung feiner Veränderungen der Erfahrung sowie eine eingehende Untersuchung der basalen Symptomatik von Betroffenen mit Schizophrenie erlauben. Die heute übliche manualisierte Diagnostik nach ICD-10 und DSM-5 erfährt dadurch eine wesentliche Erweiterung und Bereicherung, enthält sie doch kaum Items zum Selbsterleben, zu subtilen Veränderungen des Wahrnehmens und Handelns oder zu den existenziellen Erfahrungen der Betroffenen. Die phänomenologische Psychiatrie sieht aber gerade in solchen, oft nur rand- oder vorbewussten Veränderungen die eigentliche Grundlage der Erkrankung.

Um die Exploration und Erfassung dieser essenziellen Erlebnisdimension auch in deutschsprachigen Kontexten zu ermöglichen, stellen wir im vorliegenden Band die beiden Interviews erstmals in vollständiger deutscher Übersetzung vor. Die Übersetzungen wurden von der Forschungssektion »Phänomenologische Psychopathologie und Psychotherapie« an der psychiatrischen Universitätsklinik der Universität Heidelberg erarbeitet. Für ein besseres Verständnis phänomenologischer Konzepte und Entwicklungen stellen wir die Interviews in einen historischen Kontext. Darüber hinaus sollen phänomenologische Befunde aus der eigenen Arbeit als Beispiele für die Forschung mit den Instrumenten dienen. Im Rahmen der Forschungsarbeit an der Sektion ist zudem ein Interviewleitfaden mit Beispielfragen zu den einzelnen Items des EASE-Interviews entstanden, der die Vorbereitung und Durchführung des Interviews erleichtern kann.

Um eine nicht-stigmatisierende Sprache im Deutschen aufrechtzuerhalten, mussten wir an einigen Stellen vom Originaltext abweichen. Dies ist mit Fußnoten im Text markiert. Hinsichtlich der Vereinbarkeit geschlechtergerechter Sprache mit einem ungestörten Lesefluss haben wir uns nach einiger Diskussion im Herausgeberteam für einen Kompromiss entschieden. Wo es die Übersetzung ermöglichte, haben wir geschlechtsneutrale Begriffe gewählt. In den anderen Fällen alternieren männliche und weibliche Personenbezeichnungen von Seite zu Seite. Personenbezeichnungen im Plural haben wir im generischen Maskulinum belassen, um die Lesbarkeit der ohnehin komplexen Texte nicht zu erschweren.

Unser abschließender Dank gilt Ruprecht Poensgen und Anita Brutler vom Kohlhammer Verlag für die bewährte gute Zusammenarbeit bei der Vorbereitung des Bandes. Weiter danken wir Daniel Vespermann, Damian Peikert und Jannik Kuhn für die sorgfältige Redaktion des Manuskripts. Nicht zuletzt danken wir den vielen Betroffenen, die ihre Erfahrungen in zahlreichen Interviews und Studien mit uns geteilt haben.

Wir hoffen nun, dass der Band für alle in der Schizophrenie-Forschung Tätigen ebenso wie für alle, die eine intensivere therapeutische Arbeit mit Betroffenen phänomenologisch begründen möchten, eine wertvolle Unterstützung darstellen wird.

Heidelberg/Amsterdam, im November 2021

Lily Martin, Sanneke de Haan, Max Ludwig und Thomas Fuchs

Selbst- und Welterleben in der Schizophrenie

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