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1.3.1 Emil Kraepelin und Eugen Bleuler – Dementia Praecox und Schizophrenie
ОглавлениеDie Frage nach der Grundstörung in der Schizophrenie beginnt mit deren erstmaliger Konzeption bei Emil Kraepelin. Er unterteilte die endogenen Psychosen 1896 in zwei Gruppen: einerseits die phasisch verlaufenden Psychosen mit vorherrschender affektiver Symptomatik, die er als »manisch-depressives Irresein« bezeichnete (Kraepelin 1899, S. 160); andererseits die Psychosen mit paranoid-halluzinatorischen, katatonen oder desorganisierten Syndromen und progressiv-chronischem Verlauf, für die er den Begriff »Dementia praecox« wählte2. Neben der psychotischen Symptomatik beschrieb Kraepelin verschiedene prodromale Anzeichen, die der Produktivsymptomatik vorausgingen:
»Oft gehen schon lange Zeit Erscheinungen von ›Nervenschwäche‹ voraus. Die Kranken werden still, gedrückt, teilnahmslos, ängstlich, dabei reizbar und widerspenstig, klagen über […] Erschwerung des Denkens, Mattigkeit, verlieren Schlaf und Esslust, ziehen sich von ihrer Umgebung zurück, wollen ins Kloster gehen, hören auf zu arbeiten, bleiben viel im Bett liegen. Dieser Zustand der unbestimmten Vorboten kann kürzere oder längere Zeit andauern« (Kraepelin 1899, S. 160).
Die eigentliche Psychose verstand er als eine Manifestation psychischer Funktionsstörungen, der »Grundstörungen der seelischen und geistigen Leistungen«. Sie führten zu einem Verlust der »inneren Einheitlichkeit von Verstandes-, Gemüts- und Willensleistungen«. Eine Abschwächung des Wollens und eine »Zersplitterung des Bewußtseins« sei die Folge, sodass das psychische Leben einem »Orchester ohne Dirigenten« gleiche (Kraepelin 1913, S. 668–747). Kraepelin hob darüber hinaus immer wieder die »Schädigung des Gemütslebens« hervor und sprach von einer gemütlichen Stumpfheit und Gleichgültigkeit, grundlosem Lachen, einem Verlust des Mitleids, Schwinden des Feingefühls und paradoxen Gefühlen (Kraepelin 1913, S. 668). Zusammengefasst äußerte sich die »Dementia praecox« für Kraepelin in kognitiv-dynamischen Beeinträchtigungen nach Art eines persistierenden Grundsyndroms (Kraepelin 1913, S. 177). Paranoid-halluzinatorische, katatone und hebephrene Symptome stellten nur vorübergehende Überlagerungen dieses Grundsyndroms dar. Kraepelin blieb in der Ausdifferenzierung dieser Grundstörung jedoch sehr unbestimmt. Darüber hinaus fand der Frühverlauf der Dementia praecox trotz seiner eindeutigen Erwähnung insgesamt wenig Beachtung.
In Abgrenzung zu Kraepelin prägte der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler 1911 den Begriff der »Schizophrenie« bzw. der »Gruppe der Schizophrenien«. Bleuler verstand die »Aufspaltung des Geistes« (griech. schizo = ich spalte, phren = Geist) als Kernmerkmal der Erkrankung – nicht etwa ihren Verlauf und Ausgang. Zur besagten Aufspaltung gehörten laut Bleuler hauptsächlich eine mangelhafte Einheit des Denkens, Fühlens und Wollens: Das Ich der Betroffenen durchlebe »die vielfältigsten Veränderungen«, die durch die Dissoziation psychischer Vorgänge gekennzeichnet seien und z. B. zu einer »Spaltung der Persönlichkeit« sowie einem Verlust der Gerichtetheit des Denkens führten (Bleuler 1911, S. 58, 143). Er beschrieb zudem bereits Anomalien des Selbsterlebens, z. B. einen Verlust der »Transparenz« des Bewusstseins oder den »Transitivismus« als Verlust der Ich-Grenzen (Bleuler 1911). Später formulierte Bleuler sein Konzept der Grundstörung, die vor allem in einer »Assoziationsstörung« zu sehen sei. Seine Grund- oder Primärsymptome wurden später als die »3 As« zusammengefasst:
1. Störung der Assoziation (Bleuler 1911, S. 10), wie Gedankenabbrechen, -drängen, -sperren, paralogische Verknüpfungen oder Ideenarmut;
2. Störung der Affekte (Bleuler 1911, S. 31) wie Gemütsverödung, Gleichgültigkeit, Stimmungen der Depression, Angst, Wut oder Manie, Fehlen einheitlicher Gefühlsäußerungen und Labilität der Affekte;
3. Autismus: Die »Loslösung von der Wirklichkeit mit dem relativen oder absoluten Überwiegen des Binnenlebens nennen wir Autismus« (Bleuler 1911, S. 52).
Die Auseinandersetzung des Erkrankten mit diesem kognitiv-affektiven Grundsyndrom führt nach Bleuler zu den sogenannten akzessorischen oder Sekundärsymptomen der Schizophrenie, d. h. zu Halluzinationen, Wahnideen, Katatonie oder funktionellen Störungen von Gedächtnis und Sprache (Bleuler 1911), die er für grundsätzlich reversibel hielt.
Bleuler schrieb der Schizophrenie keinen zwingend negativen Verlauf zu und legte deshalb ein besonderes Augenmerk auf den Frühverlauf der Erkrankung. Für die schleichend auftretenden und wenig charakteristischen Frühstadien, die auch lebenslang auf einem Niveau unterhalb der akuten Psychose verbleiben könnten, wählte er den Begriff der »latenten Schizophrenie«. Sie ist heute unter der Bezeichnung »schizotype Störung« (F21) in der ICD-10 als eine der schizophrenen Spektrumsstörungen berücksichtigt und kann sowohl im familiären Umfeld von Menschen mit Schizophrenie als auch im individuellen Vorfeld der akuten Psychose vorkommen. Auch Bleuler beschrieb schon 1911 einige Merkmale des schizophrenen Prodroms:
»Gelingt es, eine gute Anamnese zu erheben, findet man vor dem Ausbruch der Psychose meist Änderungen im gewohnten Wesen: Die späteren Kranken werden empfindsamer und zurückgezogener, geben persönliche Beziehungen und Interessen auf, beschäftigen sich mit abstrakten Wissenschaften, die ihnen früher fernlagen, entwickeln verschrobene hypochondrische Ideen und versagen mehr und mehr in ihrer Arbeit und familiären Aufgaben. Sie zeigen mannigfache Symptome, wie sie bei Neurosen vorkommen« (Bleuler 1911, S. 447–448).