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1.3.3 Karl Jaspers und Christian Scharfetter – das Konzept der Ich-Störungen
ОглавлениеEtwa gleichzeitig mit Berze schlug Karl Jaspers in seiner »Allgemeinen Psychopathologie« (1913) erstmals eine nähere Bestimmung des »Ichbewusstseins« nach vier formalen Merkmalen vor: (1) Aktivität, (2) Einheit, (3) Identität des Ich und (4) Ichbewusstsein im Gegensatz zum Außen (Jaspers 1973, S. 101 ff.).
1. Als »Aktivität des Ich« verstand Jaspers eine alle Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken und Gefühle begleitende Tönung »des ›mein‹, des ›ich‹, des ›persönlichen‹, des eigenen Tuns«, die er auch als »Personalisation« bezeichnete (Jaspers 1973, S. 101). Störungen der Personalisation bestimmte er dementsprechend als »Depersonalisationserscheinungen« (Jaspers 1973).
2. Die beim Gesunden vorhandene »Einheit des Ich« könne im Sinne der Ich-Spaltung und Ich-Verdoppelung gestört sein, wobei Betroffene mit zunehmender Distanzierung vom eigenen Erleben ihre eigene Wahrnehmung, ihr eigenes Denken und Handeln wie von Außen beobachteten.
3. Die »Identität des Ich« verstand Jaspers (1973, S. 103) als das Bewusstsein, »in der Zeitfolge identisch derselbe zu sein«. Er bezog sich damit auf die häufige Erfahrung von Menschen mit Schizophrenie, in der Psychose eine andere Person geworden zu sein.
4. Als »Ichbewußtsein im Gegensatz zum Außen« bezeichnete Jaspers die Demarkation von Ich und Nicht-Ich. Ihre Beeinträchtigung führe zu Verschmelzungen der Betroffenen mit Objekten oder Personen der Umwelt (Transitivismus nach Bleuler) oder zu Phänomenen der Gedankenausbreitung (1973, S. 106).
Von diesen formalen Merkmalen des Ichbewusstseins grenzte Jaspers das »Persönlichkeitsbewußtsein« als inhaltlich ausgestaltete, auch in ihrer psychologischen Genese verstehbare Dimension ab. Er benannte Veränderungen der Persönlichkeit und nicht integrierte Triebregungen in der Pubertät, aber auch die Labilität des Persönlichkeitsbewusstseins bei Patienten mit Schizophrenie, die sich z. B. als bestimmte historische Personen erleben können (Jaspers 1946, S. 106 f.). Schließlich definierte Jaspers noch die »abgespaltenen Personifikationen«, die Betroffenen als eigenständige Anteile der eigenen Persönlichkeit innerlich oder in Halluzinationen gegenübertreten (Jaspers 1946, S. 107 f.).
Jaspers’ Klassifikation hatte nachhaltigen Einfluss, insbesondere auf das Konzept der Ich-Störungen, denen bereits im Lehrbuch der Psychiatrie von Oswald Bumke (1932) ein maßgeblicher Status für die Diagnose der Schizophrenie beigemessen wurde. Kurt Schneider verwies in seiner 1950 erstmals erschienenen »Klinischen Psychopathologie« auf Jaspers’ Kriterien, stellte aber fest, dass in der klinischen Praxis de facto nur der Aktivitätssinn gestört sei (Schneider 1950/1959). Da der Begriff der Aktivität jedoch kaum auf Gefühle und spontane Gedanken angewandt werden könne, ersetzte er das Aktivitätsgefühl durch den Begriff der »Meinhaftigkeit«. Störungen der Meinhaftigkeit wurden nun gleichbedeutend mit den schizophrenen Ich-Störungen bzw. Erlebnissen der Fremdbeeinflussung. In der letzten Ausgabe von 1992 fasste Schneider Gedankeneingebung, -entzug, -übertragung und alle Phänomene »gemachter« Gefühle, Empfindungen und Handlungen unter dem Begriff der Ich-Störungen zusammen und charakterisierte sie als eine abnorme Durchlässigkeit der Grenze zwischen Ich und Umwelt. In seinem bis heute wirksamen System nahmen die Ich-Störungen den Status von Symptomen ersten Ranges für die Diagnose der Schizophrenie ein, während subtilere, prodromale Störungen des basalen Selbsterlebens unberücksichtigt blieben.
In jüngerer Zeit schlug der Psychopathologe Christian Scharfetter eine durch »deskriptive, phänomenologische, existenzanalytische und psychoanalytisch-psychodynamische« Ansätze modifizierte Klassifikation des Selbsterlebens nach Jaspers vor (Scharfetter 1995, S. 71 ff.). Danach setze sich das Ich-Bewusstsein aus fünf basalen Dimensionen zusammen: (1) Vitalität, (2) Aktivität, (3) Kontinuität, (4) Demarkation und (5) Identität.
1. Die »Ich-Vitalität« stellt die Gewissheit der eigenen Lebendigkeit dar. Ihre Störung manifestiert sich im Gefühl des Absterbens bzw. in einem darin begründeten hypochondrischen Wahn, in der Angst vor dem Weltuntergang oder dem Nicht-mehr-Sein.
2. »Ich-Aktivität« ist das Erleben der Selbstbestimmung des eigenen Erlebens, Denkens und Handelns. Ihre Beeinträchtigung geht mit dem Erleben von Fremdbeeinflussung oder -steuerung des Fühlens, Denkens oder Handelns einher und kann in einen Beeinflussungswahn münden. Auch eine Beeinträchtigung der Intentionalität des Denkens, Gedankenabreißen oder -entzug, Echopraxie, Echolalie oder Stereotypien erklärte Scharfetter durch eine mangelnde Ich-Aktivität.
3. »Ich-Konsistenz« oder -Kontinuität bezeichnet die Zugehörigkeit wechselnder Zustände und unterschiedlicher Selbstanteile zu einem einheitlichen Selbsterleben. Störungen der Ich-Konsistenz führen zur Desintegration von Selbstanteilen oder Selbstfunktionen, wie etwa bei der Entfremdung von Leibempfindungen (Coenästhesien), von Gedanken (Stimmenhören) oder Handlungen (Willensbeeinflussung), bis hin zur Persönlichkeitsverdoppelung oder -auflösung.
4. Die »Ich-Demarkation« entspricht der Ich-Umwelt-Abgrenzung bei Jaspers und Schneider. Ihre Beeinträchtigung äußert sich in Appersonierung oder Transitivismus, Gedankenausbreitung sowie, in Reaktion darauf, in eigenweltlichem Rückzug als Schutz vor dem drohenden Selbstverlust.
5. Die »Ich-Identität« schließlich stellt die Gewissheit der eigenen personalen, leiblichen, sexuellen und biografischen Identität dar. Ihr drohender Verlust manifestiert sich in Angst vor oder der Wahrnehmung von physiognomischen und Gestaltveränderungen (Spiegelphänomen),Geschlechtswechsel, Veränderung der Herkunftsidentität (Abstammungswahn) oder Verwandlung in ein anderes Wesen.
Scharfetter kommt der Verdienst zu, die noch primär auf die Diagnostik bezogenen Störungen des Selbsterlebens in der Schizophrenie bei Jaspers und Schneider um existenzielle Aspekte erweitert und sie zum Teil einer Psychopathologie gemacht zu haben, die die persönliche Wirklichkeit der Betroffenen berücksichtigte und daraus therapeutische Schritte ableitete. Seine Ich-Psychopathologie lässt auch viele Überschneidungen mit der Psychopathologie des Selbsterlebens erkennen, auf der das EASE- und das EAWE-Interview aufbauen. Allerdings unterscheidet seine Einteilung nicht klar zwischen den gravierenden Selbststörungen – vor allem den wahnhaften Ich-Störungen – in der akuten Psychose und den subtileren Störungen des basalen Selbsterlebens, wie sie für die neuere phänomenologische Psychopathologie der Schizophrenie in erster Linie relevant wurden. Diese tiefer liegende Ebene der Erkrankung erschließt sich erst phänomenologischen Ansätzen, wie sie in erster Linie von Eugène Minkowski und Wolfgang Blankenburg entwickelt wurden.