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1.4 Die Renaissance der Phänomenologie
ОглавлениеDie beschriebenen Arbeiten verhalfen den Selbststörungen zu einem zwar soliden, jedoch lange Zeit randständigen Platz im pathogenetischen Verständnis der Schizophrenie. Dass Beschreibungen schizophrener Selbststörungen in der psychiatrischen Fachwelt bis vor Kurzem eine Nischenexistenz führten, lag zum einen an den lange fehlenden englischen Übersetzungen der Arbeiten, zum anderen an dem oft hohen Abstraktionsgrad der philosophisch fundierten Texte. Sie erschienen weit entfernt vom raschen klinischen Alltag und deshalb wenig anwendbar. Von 1960–1985 gab es kaum englischsprachige Schriften, die sich mit der Phänomenologie der Schizophrenie befassten. Sowohl Mayer-Gross mit seinem »Textbook of Psychiatry« (1954) als auch Fish mit »Schizophrenia« (Hamilton und Fish 1984) versuchten phänomenologische Konzepte in die englischsprachige Psychiatrie einzuführen, allerdings mit wenig Erfolg.
Erst Sass (1992, 1994), Schwartz und Wiggins (1987), Cutting, Dunne und Shepherd (1987, 1989) sowie Bovet und Parnas (1993) griffen die phänomenologische Tradition systematisch wieder auf und verhalfen ihr zu einer Renaissance in der internationalen Psychiatrie (Sass et al. 2011). Seit 2000 erschienene englischsprachige Publikationen zur schizophrenen Erkrankung beschäftigten sich mit dem Selbsterleben (Sass und Parnas 2003), Zeiterleben (Fuchs 2005), der Wahrnehmung (Nelson und Sass 2008; Schwartz et al. 2005), dem Wahn und der Wahnstimmung (Parnas und Sass 2001; Fuchs 2020), Störungen des Common Sense (Stanghellini 2001, 2004; Stanghellini und Ballerini 2007), Affekt und Emotion (Ratcliffe 2008), Negativsymptomen (Sass 2003) sowie Persönlichkeit und Autonomie (Sass 2011). Daraus erwuchsen auch empirische Studien, welche die Störungen des Selbsterlebens als einen Kern- und Differenzierungsfaktor der frühen Schizophrenie zu kennzeichnen suchen (Møller und Husby 2000; Parnas et al. 2003; Parnas et al. 2005).
Ein wesentliches Motiv für die Renaissance der Phänomenologie stellte nicht zuletzt eine zunehmende Desillusionierung hinsichtlich der manualisierten, operationalisierten Diagnosesysteme dar, die mit dem DSM III (1980) in die Psychiatrie Einzug hielten (Sass et al. 2001). Schlüsselfiguren der nordamerikanischen und europäischen Psychiatrie beklagten in der Folge einen fehlenden Fortschritt in der Erforschung und Behandlung der Schizophrenie (Andreasen 2007). Grund sei der Verlust von Validität infolge einer Überbewertung der Reliabilitätder Diagnostik, einhergehend mit dem Verlust der reichen psychopathologischen, häufig phänomenologischen Tradition der europäischen Psychiatrie (Andreasen 2007).
Eine gewisse Ernüchterung ist auch hinsichtlich neurozentrischer und reduktionistischer Ansätze in der Psychiatrie festzustellen. Trotz intensiver Forschung in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten vermochten die Neurowissenschaften kaum diagnostisch oder therapeutisch relevante Ergebnisse für die Psychiatrie zu liefern (Fuchs 2017). Zur gleichen Zeit entwickelte sich mit den Konzepten der »Embodied« und »Enactive Cognitive Science« eine alternative Sicht auf Gehirn und Psyche, die die Verkörperung geistiger Funktionen und ihre Einbettung in die Umwelt als unabdingbar für ihr adäquates Verständnis betrachtet; damit gab sie auch der phänomenologischen Erforschung der subjektiven Erfahrung von Leiblichkeit und Intersubjektivität neuen Auftrieb (Varela et al. 1991; Gallagher 2005; Gallagher und Zahavi 2008; Thompson 2007; Fuchs 2008, 2018).