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1.3.5 Wolfgang Blankenburg – der »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit«

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Auch der Psychiater und Philosoph Wolfgang Blankenburg bemühte sich »um die Freilegung dessen, was bei Schizophrenen im Grunde ihres Menschseins ›gestört‹ ist« (Blankenburg 1971, S. 4). Er verstand es als eine der wichtigsten Aufgaben der phänomenologischen Psychopathologie, »nach Abwandlungen des In-der-Welt-Seins gerade auch da zu fahnden, wo kein Wahn, wo keine abnormen ›Inhalte‹ im engeren Sinne vorliegen« (Blankenburg 1971, S. 2). Im Rahmen seines Habilitationsprojekts »Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit« (Blankenburg 1971) interviewte Blankenburg über 400 Patienten mit Schizophrenie, die zwischen 1955 und 1967 in der psychiatrischen Universitätsklinik Freiburg aufgenommen wurden, und wählte diejenigen aus, die »einer deutlichen Wahrnehmung ihres Verändertseins Ausdruck geben« konnten (Blankenburg 1971, S. 26). Mit einzelnen Patienten konnte Blankenburg auch schon vor dem ersten Ausbruch der Produktivsymptomatik sprechen. Bei ihnen erkannte er einen hohen Leidensdruck, den er – wie andere vor ihm – als Prodromalsymptomatik zusammenzufassen versuchte:

»Das Charakteristische liegt darin, daß sie einerseits in ihrer Einbettung in die Gesamtlebensgeschichte als relativ neurosennah […] imponieren. Auf der anderen Seite erweckt die Symptomatik in ihrer starren Monotonie und Unverrücklichkeit zugleich den Eindruck einer elementaren Defizienz« (Blankenburg 1971, S. 50).

Seine Interviews führten Blankenburg zu der Einsicht, der psychopathologische Kern der symptomarmen, hebephrenen Schizophrenie sei ein Mangel an »Selbststand«, ein Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit oder des sogenannten »Common Sense«:

»Der »Mangel an ›Halt‹, an Selbststand kann geradezu als ein konstitutives Moment für den hebephrenen Wesenswandel angesprochen werden. […] Solche Patienten fühlen sich fortwährend auf eine unerklärliche Weise ›allein‹ gelassen, auf sich selber gestellt […] Auch wenn keinerlei Anforderungen an sie herangetragen werden, erleben sie sich ständig in einer ganz bestimmten Weise überfordert. Das Auf-sich-Selbst-Gestelltsein, die Spontaneität, von sich aus zu urteilen, von sich aus etwas zu tun, ja überhaupt nur zu sein, können sie nicht leisten« (Blankenburg 1971, S. 95f.).

Das »Sichselbersein« müssen die Patienten, so Blankenburg, mit einem ungeheuren Kraftaufwand eigens bewerkstelligen. Bei allem, was sie tun, fehle das entscheidende Gefühl des eigenen Selbst als Begründungsinstanz. Die Ausführungen Blankenburgs beinhalten die implizite Unterscheidung zwischen einer präreflexiven, basalen Ebene des Selbst und einem narrativen, bewussten Ich, wie er von modernen Phänomenologen ( Kap. 1.1) sowie den Autoren des EASE-Interviews vorausgesetzt wird. Um die beschriebene Ich-Schwäche von Selbstwertproblemen oder Mangel an Selbstvertrauen abzugrenzen, wie sie von Personen mit Neurosen oder Persönlichkeitsstörungen bekannt sind, unterschied Blankenburg zwischen einem »natürlichen«, »empirischen« und »transzendentalen« Selbst:

»Auch da, wo ich von mir selbst nicht viel halte, wo ich mich als ein relativ insuffizientes oder minderwertiges Subjekt entwerfe, kann dieser Entwurf doch in sich als solcher stabil und fundiert sein. Die Verunsicherung des Entwerfens ist etwas anderes als die Unsicherheit, die in einen bestimmten Selbstentwurf hineingehört. Das heißt, sie ist etwas anderes als Selbstunsicherheit in dem gewöhnlichen psychologischen Sinn des Wortes« (Blankenburg 1971, S. 100).

Die »natürliche Selbstverständlichkeit« hat nach Blankenburg zugleich »Hintergrund- und Grundlagencharakter«, sie ist »basal« (Blankenburg 1971, S. 62). Basal zum einen, weil sie sich »von dem Boden des gewöhnlichen, alltäglichen Bewusstseins nicht abhebt und deshalb meist übersehen wird; zum anderen, weil sie – mit diesem Boden identisch – als Basis die Alltäglichkeit des menschlichen In-der-Welt-Seins trägt« (Blankenburg 1971, S. 62). Blankenburg verknüpfte den Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit mit dem überlappenden Konzept des Verlustes des »Common sense«, der das implizite (Handlungs-)Wissen davon umfasst, was »sich gehört«, »sich schickt«, und was allgemein als selbstverständlich gilt. Der Begriff beschreibt die stillschweigend vorausgesetzten Spielregeln, die unser alltägliches Zusammenleben bestimmen (siehe auch Blankenburg 1969, S. 144 ff.).

Die tiefe Verunsicherung der Betroffenen führt laut Blankenburg häufig dazu, dass sie sich auf jede Aussprache oder Begegnung mit einem Menschen innerlich vorbereiten müssen. Jede einzelne Situation müssen sie vorausentwerfen:

»Diese Fragen, die den Gesunden im praktischen Leben kaum behelligen, füllen bei Kranken […] zeitweise das Bewußtsein so sehr, daß sie darüber weder zu den Dingen noch zu sich selbst noch zu den anderen Menschen finden. Sie sind ständig mit der Herstellung jener Basis beschäftigt, die der Gesunde bedenkenlos voraussetzt, um sich von dort aus den Anforderungen des konkreten Lebens zuzuwenden« (Blankenburg 1971, S. 82).

Als Folge des tiefgreifenden Verlusts von Selbstverständlichkeit und Common sense bewegen sich Betroffene fortwährend in der Alternative zwischen schablonenhafter Übernahme von Umgangsformen (z. B. floskelhafte Wendungen) und autistischem Rückzug (in extremen Zustandsbildern zwischen Echopraxie oder Echolalie einerseits, Negativismus oder Stupor andererseits). Selbstverständlichkeiten des Alltags wandeln sich zu Fragwürdigkeiten. Offensichtlich wirkt sich der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit auch auf die Intersubjektivität im Kontakt mit anderen aus. Dies zeige sich z. B. im Unvermögen, den Blick der anderen auszuhalten. Betroffene können die Rivalität zwischen Blicken und Erblicktwerden, Vergegenständlichen und Vergegenständlicht- (d. h. »Fixiert«-)Werden nicht aufheben:

»Beim Gesunden findet sich statt der starren Alternative ein feines Oszillieren zwischen den beiden Polen der Selbstbehauptung und Selbsthingabe. In einer für das Bewußtsein unterschwellig bleibenden Form bildet dieser Vorgang die Grundlage für die Wahrnehmung des Anderen, in gröberer Form für die reale Begegnung mit ihm, sei sie nun freundlicher oder feindlicher Art. Die wechselseitige Bezogenheit der Pole ist dabei nie ganz durchbrochen. Das bedeutet: die Alternativstruktur ist stets mehr oder weniger aufgehoben, erst unter psychopathologischen Bedingungen tritt sie als solche hervor« (Blankenburg 1971, S. 109).

Eine »Tendenz zur Aufspaltung der Erfahrung in Alternativen« ist nach Blankenburg bei Menschen mit Schizophrenie auf vielen Ebenen erkennbar: Sie erleben sich als zerrissen zwischen Desautomatisierung und totalem Automatismus in den Bewegungen, zwischen schablonenhafter Übernahme von Haltungen oder Rollen und autistischem Rückzug in Beziehungen. Oft führe diese Verselbständigung der Alternativen innerhalb der mitmenschlichen Begegnung zum Wahn, da aus dem Vertrauensschwund Misstrauen werde und der Wahn die einzige Möglichkeit sei, mit der Übermächtigung durch das Fremde fertigzuwerden: Der andere werde in seiner Vereinnahmung zum Verfolger, Hypnotiseur, Vergewaltiger oder geheimen Geliebten.

Blankenburg beschreibt neben dem Verlust von »natürlicher Selbstverständlichkeit« sowie der damit verbundenen Hyperreflexivität zahlreiche Veränderungen des basalen, präreflexiven Selbsterlebens, die später auch in die Items der EASE Eingang fanden. Dazu gehören die Ambivalenz, das verminderte basale Selbsterleben (Verlust des Selbststands), das mimetische Erleben, die Selbstvergewisserung im Spiegelbild, der Verlust der Initiative, das Missverhältnis zwischen intendiertem und tatsächlichem Ausdruck, transitivistische Phänomene und Phänomene der existenziellen Reorientierung.

Selbst- und Welterleben in der Schizophrenie

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