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1.1.6 Vom statischen zum dynamischen Modell von Mehrsprachigkeit

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Mehrsprachigkeit setzt den Gebrauch und somit die Beherrschung mehrerer Sprachen voraus. Aktuelle Erkenntnisse psycholinguistischer Forschung zur Mehrsprachigkeit weisen darauf hin, dass die folgenden Annahmen, die zum Beispiel im Rahmen strukturalistischer oder nativistischer Ansätze zur Beschreibung von Sprachkompetenz vertreten werden, nicht haltbar sind. Im Folgenden werden die überholten Annahmen wiedergegeben und im Anschluss kritisch reflektiert.

1 Sprachverarbeitung erfolgt modular: Sie wird von einer Anzahl kognitiver Module durchgeführt, die über eine eigene spezifische Ein- und Ausgabe (Input und Output) verfügen, die mehr oder weniger eigenständig funktioniert.

2 Sprachverarbeitung erfolgt inkrementell und es gibt kein internes FeedbackFeedback oder FeedforwardFeedforward.

3 Isolierte Elemente (Phoneme, Wörter, Sätze) werden erlernt, indem die übergreifende Linguistik und der soziale Kontext (ihr Kommunikationskontext) nicht berücksichtigt werden.

4 Die standardmäßige Sprechsituation ist der Monolog anstelle der Interaktion.

5 Die Sprachverarbeitung umfasst die Verarbeitung von unveränderlichen, statischen und abstrakten Repräsentationen.

Wegen dieser zugrundeliegenden Annahmen wurden bislang isolierte Elemente (Phoneme, Wörter, Sätze) untersucht, ohne dass der übergreifende linguistische und soziale Kontext berücksichtigt wird, dessen sie Bestandteil sind. Außerdem lag der Schwerpunkt auf Monologen anstelle von Interaktionen als standardmäßige Sprechsituation. Die Modelle sind daneben statisch und in einem stabilen Zustand, in denen Veränderungen im Laufe der Zeit keine Rolle spielen.

In den letzten Jahren haben sich jedoch neue Perspektiven auf die Kognition entwickelt, die zu einer anderen Sichtweise führten. Die wichtigste Entwicklung ist die Herausbildung einer dynamischen Perspektive auf die Kognition im Allgemeinen und auf die Sprachverarbeitung im Speziellen. Der wichtigste Grundsatz dabei lautet, dass jedes beliebige komplexe System (wie das mehrsprachige Gehirn) kontinuierlich mit seiner Umgebung interagiert und sich mit der Zeit kontinuierlich verändert. Dies führt mit sich, dass strukturalistische oder nativistische Betrachtungen von Sprachenerwerb nicht mehr haltbar sind. Van Gelder und Port beschreiben, wie sich eine dynamische Perspektive auf die Kognition von einer traditionelleren Sichtweise unterscheidet und abgrenzt:

The cognitive system is not a discrete sequential manipulator of static representational structures: rather, it is a structure of mutually and simultaneously influencing change. Its processes do not take place in the arbitrary, discrete time of computer steps: rather, they unfold in the real time of ongoing change in the environment, the body, and the nervous system. The cognitive system does not interact with other aspects of the world by passing messages and commands: rather, it continuously coevolves with them. (van Gelder & Port 1995: 3)

Zur Annahme der Stabilität von Repräsentationen in traditionellen Modellen, wurde bislang kaum geforscht. De Bot und Lowie (2010) berichten von einem Experiment, in dem eine einfache Benennungsaufgabe für hochfrequente Wörter gestellt wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass es sehr selten Übereinstimmungen zwischen den unterschiedlichen Sitzungen mit demselben Probanden beziehungsweise derselben Probandin und zwischen weiteren Probanden und Probandinnen gab. Anders ausgedrückt: Auf ein Wort, auf das in einer Sitzung schnell reagiert wurde, konnte in einer anderen Sitzung oder von einem anderen Probanden beziehungsweise einer anderen Probandin langsam reagiert werden. Das deutet auf eine Variation hin, die im Wortschatz vorgegeben ist und die aus der Interaktion und der Umstrukturierung von Elementen in Netzwerken resultiert. Elman (1995: 207) formuliert dies wie folgt:

We might choose to think of the internal state that the network is in when it processes a word as representing that word (in context), but it is more accurate to think of that state as the result of processing the word rather than as a representation of the word itself.

Zusätzliche Belege für die Veränderlichkeit von Wörtern und ihrer Bedeutung stammen aus einer Ereigniskorrelierten-Hirnpotenziale-Studie von Nieuwland und Van Berkum (2006) (vergleiche Lerneinheit 1.3 im Band »Sprachenlernen und Kognition«), die Daten für Sätze wie Die Erdnuss war verliebt mit Die Erdnuss war salzig verglichen. Diese Art der Abweichung führt normalerweise zu N400-Reaktionen, die, vereinfacht gesagt, beschreiben, wie leicht eine Information verarbeitet wird. Kommt es zu Komplikationen bei der Verarbeitung, beispielsweise aufgrund semantisch widersprüchlicher Informationen, ist der N400 Wert größer als bei semantisch unauffälligen Reizen. Im weiteren Verlauf der Studie erzählten sie den Probanden die Geschichte von einer Erdnuss, die sich verliebt. Nachdem sie diese Geschichte angehört hatten, verschwanden die N400-Effekte, was zeigt, dass die grundlegenden semantischen Aspekte von Wörtern durch Informationsvermittlung verändert werden können.

Traditionelle Modelle setzen Sprachkompetenz als inhärent, stabil und statisch voraus. Man könnte sagen, dass Zeit bei diesen Modellen keine Rolle spielt. Zeit vergeht während der Verarbeitung im System unter sehr strengen Vorgaben dazu, welche Elemente in einem bestimmten Moment in der Zeit zur Verfügung stehen sollten. Im Produktionsmodell bei Levelt (1999, siehe auch Lerneinheit 4.1 im Band »Sprachenlernen und Kognition«) werden zum Beispiel Konstruktionen durch die Aktivierung einer gewissen Anzahl an Vorgängen gebildet, so wie der Abgleich von Ergänzungen mit Verben (Subjekt und Objekt für transitive Verben und indirekte Objekte). Die Aktivierung der Wortform, die in den Slot einer Konstruktion passt, muss genau rechtzeitig stattfinden. Wenn ein Wort zu spät ankommt, bleibt der Slot leer und der Satz muss neu konstruiert werden. Zeit spielt dort bei den Repräsentationen und den Prozessen keine Rolle, da diese statisch sind, wenn sie einmal gebildet wurden. Wörter werden mehr oder weniger wie Bücher in einer Bibliothek wahrgenommen, sie werden herausgenommen und eingefügt. Wie wir später sehen werden, funktioniert diese Metapher einer Bibliothek bei einer dynamischen Auffassung von Sprache nicht. Wie die Theorie dynamischer Systeme (dynamic system theory) (siehe Lerneinheit 4.1) zeigt, ist die Auffassung von Sprachkompetenz als komplexes adaptives System dem Beschreibungsgegenstand angemessener (vergleiche die Diskussion bei Lowie & Verspoor 2011).

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