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7 Spracheinstellungen
ОглавлениеDie offizielle Haltung der Minderheit gegenüber Nordschleswigdeutsch ist die einer breiten Akzeptanz. Solange die Kommunikation in Nordschleswig stattfindet, haben Nordschleswigdeutsch und Standarddeutsch einen äquivalenten Status. Innerhalb des Bildungssystems der Minderheit ist Hochdeutsch jedoch nach wie vor die unbestrittene Norm, mit dem Lehrer als Vorbild. In der Praxis wird allerdings der Sprachgebrauch der Schülerinnen und Schüler nur teilweise in Richtung der Standardnorm korrigiert. Änderungen finden nur in kommunikativen Veranstaltungen statt, bei denen Form und Inhalt im Vordergrund stehen, zum Beispiel in einer vorbereiteten Rede eines Schülers vor der Klasse. Diese billigende Politik wird befolgt, um den Schülern den Schulbesuch zu ermöglichen, positive Gefühle für die Zugehörigkeit zur Minderheit zu stabilisieren und die Zweisprachigkeit zu fördern. Der Status von Hochdeutsch ist objektiv hoch, aber Nordschleswigdeutsch konkurriert im mündlichen Gebrauch um eine ähnliche Position. Im schriftlichen Bereich ist aber Hochdeutsch die einzige Norm, und das geschriebene Deutsch der Schülerinnen und Schüler wird auf diese Norm hin korrigiert. Diese Spracheinstellungen führen zu einem Bewusstsein für die verschiedenen Funktionsbereiche der Sprachen, und je höher die Forderung nach einer funktionalen Trennung der beiden Varietäten ist, desto geringer ist die Zahl von auftretenden Sprachkontaktphänomenen wie Code-Switching – während die Sprachkontaktphänomene in der Prosodie unverändert bleiben (Pedersen 1993, 1983–2013).
Die Sprachpolitik der Minderheit
Die Sprachenpolitik der Minderheit war bis 2015 durch eine eher sanfte Linie geprägt, wie sie etwa in Leitbild und Zielsetzung zur Verwendung von Deutsch von BDN und DSSV zum Ausdruck kommt, die Wünsche in Bezug auf die Rolle der deutschen Sprache innerhalb der Minderheit und extern gegenüber der Mehrheit formuliert haben. Nach der Ratifizierung der Europäischen Charta für Regional- oder Minderheitensprachen durch Dänemark im Jahr 2000 gab es jedoch verstärkte Initiativen für eine engagiertere Sprachenpolitik, verbunden mit der Aufforderung an die Mitglieder der Minderheit, Deutsch zu sprechen. Auf dem „Deutschen Tag“ 2002, der unter dem Motto „Identität erhalten – Europa gestalten“ stand, betonte der BDN-Vorsitzende Hans Heinrich Hansen die Bedeutung der deutschen Sprache:
Zu unserem Leitbild gehört an ganz zentraler Stelle die deutsche Sprache. Sie ist unsere Identifikation nach aussen, aber auch nach innen. Heute vernachlässigten einige als falsch verstandene Anpassung das Deutsche zugunsten von Dänisch bzw. Sønderjysk. Ich schätze beides sehr und bin in beiden zu Hause, aber die Vernachlässigung der deutschen Sprache untergräbt unsere Arbeit und unsere Identität, denn die deutsche Sprache ist unser wichtigstes Erkennungszeichen. (Deutscher Volkskalender Nordschleswig 2002: 24)
Diese Rede macht den Zusammenhang zwischen Sprache und Identität sehr deutlich und bringt Hansens Auffassung zum Ausdruck, dass die nationale Identität parallel mit der Nationalsprache ist, es aber andererseits gleichgültig ist, ob es sich dabei um eine Muttersprache oder eine Zweitsprache, eine Familiensprache oder eine Minderheitensprache, die im Zuge der formalen Bildung erworben wurde, handelt. Insofern ist es eher ein sprachpluralistischer als ein sprachnationalistischer Standpunkt.
Im Jahr 2003 veröffentlichte der BDN das „Leitbild des Bundes deutscher Nordschleswiger“. Hier wird noch einmal die Bedeutung der Minderheitensprache betont. Darin heißt es:
Die deutsche Sprache ist das wichtigste Erkennungsmerkmal der deutschen Volksgruppe. […] Die deutsche Volksgruppe pflegt die deutsche Sprache und Kultur und erhält sie lebendig in ihren Institutionen – unter anderem in Schulen, Kindergärten, Büchereien, in ihrer Tageszeitung ‚Der Nordschleswiger‘ und in ihren Vereinen. (Deutscher Volkskalender Nordschleswig 2003: 22)
Bemerkenswert ist, dass dieses BDN-Leitbild aus dem Jahr 2003 und auch seine „Sprachpolitische Zielsetzung“ aus dem Jahr 2010 nichts über die Familiensprache aussagen. Offensichtlich wird akzeptiert, dass die meisten Mitglieder den dänischen Dialekt Sønderjysk zu Hause und als Familiensprache verwenden, und dass die Kinder die Minderheitensprache erst innerhalb des von der Minderheit organisierten Bildungswesens erwerben. Die Diskussion über eine Verschiebung der Familiensprache scheint aufgehört zu haben. Die Zweisprachigkeit wird in diesen sprachpolitischen Positionierungen nicht explizit erwähnt; im jüngsten Sprachförderungskonzept, das 2004 vom DSSV veröffentlicht wurde, wird die Bedeutung der deutsch-dänischen Zweisprachigkeit aber deutlich betont. Hier ist Spracherwerb Zweisprachigkeitserwerb.
Sprachpolitik 1920–2000
Die Wahrnehmung eines rückläufigen Deutschgebrauchs und die ernste Aufforderung, die Minderheitensprache in stärkerem Umfang zu nutzen, ist nichts Neues. Schon 1920 war die Einstellung zur sprachlichen Situation ähnlich. In der Zeitung Nordschleswig plädierte ein Redakteur dafür, dass Eltern mit ihren Kindern Deutsch sprechen sollten; ein Debattenteilnehmer favorisierte hingegen Sønderjysk als natürliche Alltagssprache. Zehn Jahre später sagte der Leiter der Minderheit, Johannes Schmidt-Wodder, in einem Interview in der Nordschleswigschen Zeitung, dass der Sønderjysk-Dialekt eines der Elemente sei, die die Heimatdeutschen mit dem Heimatboden verbanden und die Minderheit ihn deshalb als Muttersprache behalten solle. Andererseits sollten sie darauf abzielen, ihre Kenntnisse der deutschen Sprache zu vertiefen. Im schriftlichen Bereich war Deutsch laut Schmidt damals die einzig akzeptierte Varietät (Becker-Christensen 1990, I: 97f.).
In dieser Sprachdebatte hatten die beiden Standpunkte ein gemeinsames Ziel: das Deutsche sollte geschützt und gefördert werden. Die Befürworter des Deutschen als Familiensprache drückten die Idee einer Eins-zu-Eins-Korrespondenz zwischen der Nationalsprache als Muttersprache und der nationalen Zugehörigkeit aus. Eine deutsche Lebensweise wurde nicht als ausreichend angesehen, um die nationale Zugehörigkeit zu sichern. Die deutsche Sprache galt als Voraussetzung für den Zugang zur deutschen Kultur, zur deutschen Literatur und Geschichte, die von Deutschen in deutscher Sprache geschrieben wurde.
Für die andere Gruppe in der Sprachdebatte war Deutsch ebenfalls an die nationale Zugehörigkeit gebunden, allerdings als Zweitsprache, die in der Schule erlernt wurde. Der dänische Dialekt wurde hier nicht als Hindernis für das Fühlen, Handeln und Denken auf deutsche Weise gesehen. Nach Ansicht dieser Gruppe sollten die Kinder die deutsche Sprache durch Bildung erlernen und die deutsche Hochkultur durch Literatur und Geschichte kennen lernen. Aber die Schule war auch verpflichtet, sie dazu zu bringen, die deutsche Sprache in Wort und Schrift zu gebrauchen.
Spracheinstellungen in der Mehrheitsbevölkerung
Im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Charta waren in der regionalen Mehrheitstageszeitung JydskeVestkysten einige Leserbriefe mit negativen Aussagen zur deutschen Sprache zu lesen. Es wurden (völlig abwegige) Befürchtungen geäußert, dass die Mehrheit bei bestimmten Gelegenheiten Deutsch sprechen müsste. Dies war ein indirekter Hinweis auf die preußische Herrschaft in der Region in den Jahren 1864 bis 1920, als Deutsch die Amtssprache war, und auf die nationalsozialistische Besetzung Dänemarks während des Zweiten Weltkriegs. Eine solche negative Einstellung zur deutschen Sprache ist oft mit negativen Stereotypen von Deutschen im Allgemeinen verbunden, die in den dänischen Medien noch immer vorhanden sind (Hansen/Pedersen/Schack 2002).
Im Grenzgebiet wird die dänisch-deutsche Zweisprachigkeit jedoch aus Sicht der einsprachigen Mehrheit als Vorteil angesehen, und zwar nicht nur, weil Deutschland der Nachbarstaat ist. Auch in der Handelskommunikation und im Exportgeschäft ist Deutsch von entscheidender Bedeutung, wobei die Bundesrepublik Deutschland der wichtigste Handelspartner Dänemarks ist. Die Mehrheit benötigt die Minderheitenmitglieder für die Kommunikation auf Deutsch, zumal die Deutschkenntnisse der Mehrheit in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren drastisch zurückgegangen sind; Englisch ist inzwischen die einzige Fremdsprache, die noch von Interesse ist.
Politisch gesehen ist die Haltung der dänischen Regierung gegenüber der deutschen Minderheit und ihrer Minderheitensprache seit der Kopenhagener Erklärung positiv; die Sprachencharta hat daran nichts geändert. Bisher war die Regierung nur verpflichtet, der einseitigen Kopenhagener Erklärung zu folgen, jetzt hat sie darüber hinaus Verpflichtungen im internationalen Kontext übernommen. Der dänische Staat muss dem Europäischen Rat regelmäßig Berichte vorlegen, und der Rat verfolgt die Umsetzung der Charta.