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2.1.3 Konvergenz und Divergenz im Kulturkontakt

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Kulturkontakt steht bekanntlich im Spannungsfeld von Ablehnung und Skepsis auf der einen Seite und Glorifizierung und Romantisierung auf der anderen. Auf der skeptischen Seite des Feldes ergibt sich gelegentlich der Verdacht, Kulturkontakt könne Interferenzen in den beteiligten sprachlichen und kulturellen Systemen erzeugen, die sich in unterschiedlichen hybriden Erscheinungen ausdrücken. Das Verdachtsspektrum reicht von der Angst vor Konturenverlust aller oder eines der beteiligten Systeme (doppelte Halbsprachigkeit beziehungsweise doppelte Halbkulturalität) über die Angst vor Identitätsverlust der beteiligten Personen und die Angst vor Beliebigkeit und Auflösung von Kulturen bis hin zu der Angst vor pathologischen Erscheinungen und geistigen Verwirrungen, wie sie in segregierenden und totalitären Systemen propagiert werden (Rassenwahn, Apartheit, ethnic cleansing).

Auf der anderen Seite des Spannungsfeldes stehen dagegen Multikulturalismus- und Toleranzkonzepte, die sich als gesellschaftliches Ideal einer One World-Philosophie verstehen. Diese Konzepte basieren auf einem idealisierten Verständnis von der Machbarkeit eines multikulturellen Nebeneinanders, das sich unter anderem in der Zielsetzung Globalisierung und den daraus resultierenden bildungspolitischen (Lehr-)Zielsetzungen ausdrückt (world citizens, global village). Dieses idealisierte Verständnis funktioniert leicht auf folkloristisch-kulinarischer Ebene, scheitert aber in der übrigen Lebenspraxis meist am mangelnden Diskurs über den Austausch der Kulturen. Die Folge sind kulturelle Spannungen – unter und auf der Oberfläche – sowie gesellschaftspolitische Fehleinschätzungen der Abwehrreaktionen. Es stellt sich also die Frage, inwieweit sich die kulturellen Differenzen durch Maßnahmen der interkulturellen Vermittlung überwinden oder vereinbaren lassen, beziehungsweise inwieweit Differenzen bestätigt, gepflegt oder betont werden müssen, damit Gesellschaften funktionieren. Zwei Paradigmen bieten sich dafür an: einerseits Konvergenz der Kulturen herzustellen (KonvergenzhypotheseKonvergenzhypothese), andererseits Divergenz zwischen ihnen bestehen zu lassen (DivergenzhypotheseDivergenzhypothese). In der gesellschaftspolitischen Praxis markieren diese beiden Paradigmen jedoch nur scheinbar gegenläufige Strömungen: Konvergente Kommunikations- und Handlungssysteme sind eine elementare Grundlage für die Umsetzung wirtschaftlicher und politischer Interessen, erfordern aber gleichzeitig – zur Wahrung des sozialen Friedens – Freiräume für die Toleranz des Fremden. Damit wird die Divergenzbetonung über den Toleranzbegriff zu einem konstitutiven Teil von Konvergenzverfahren. In dieser Funktion läuft sie aber Gefahr, multikulturelles Beiwerk mit Wohlfühlcharakter zu bleiben (heritage cultures, heritage languages, multiethnic workforce, diversity, Folklore). Das dominant folkloristische Verständnis interkultureller Begegnungen in Veranstaltungen von öffentlichen Institutionen und Kulturverbänden, bei Preisverleihungen und in der Werbung (vor allem die Darstellung kultureller Vielfalt durch Metaphern der Farbigkeit in Essen, Tanz, Aussehen und Kleidung) belegt diese Gefahr genauso wie der oberflächliche Eingang, den interkulturelle Lehrziele im Geist der Globalisierung und Integration in Lehrpläne und die Sprachenpolitik vieler industrialisierter Länder gefunden haben. Mit der Globalisierung wird das Lehrziel und Toleranzkriterium interkulturelle Kompetenz daher auch zu einem nach innen gerichteten Mittel der Integration in eine Gesellschaft, die sich interethnische Spannungen weder ökonomisch noch aus Gründen internationaler Öffentlichkeit leisten kann (diversity management).

Die zuvor beschriebene Spannungslage lässt sich mit den dargestellten Konvergenz- und Divergenzverfahren – wie gezeigt – temporär verdrängen, aber nicht nachhaltig bewältigen. Solange die „Therapie“ der Spannungen aber nicht die Wurzeln einschließt, wird sie kaum über symptomorientierte Erfolge hinausreichen. Taylor (1992) fordert aus diesem Grund einen entideologisierten, offenen und direkten Umgang mit fremden Kulturen, der die Realitäten der begrenzten Erkenntnisfähigkeiten akzeptiert – und konstruktiv nutzt.

We only need a sense of our own limited part in the whole human story to accept the presumption. It is only arrogance, or some analogous moral failing, that can deprive us of this. But what the presumption requires of us is not peremptory and inauthentic judgments of equal value, but a willingness to be open to comparative cultural study of the kind that must displace our horizons in the resulting fusions. What it requires above all is an admission that we are very far away from that ultimate horizon from which the relative worth of different cultures might be evident. This would mean breaking with an illusion that still holds many ‘multiculturalists’ – as well as their most bitter opponents – in its grip. (Taylor 1992: 73; für die deutsche Übersetzung siehe Taylor 1997)

Die Abkehr von illusorischen Konvergenz- und Divergenzmaßnahmen ergibt sich für Taylor aus der Komplexität der erforderlichen Normenveränderungen, die aus der Aufgabe der Vereinbarung nicht mehr kontrollierbarer Uneindeutigkeiten, Brüche und Grenzüberschreitungen resultieren, die die Multikulturalität moderner Gesellschaften und die Globalisierung charakterisieren. Für die Transformation der Normen verweisen sie im Sinne interkulturell-hermeneutischer Ansätze auf die Erkenntnispotenziale der Horizonterweiterung und auf das organische Wachstum des Horizontes im Laufe der Erkenntnisgewinnung. Dass eine direkte Auseinandersetzung mit kultureller Diversität notwendig ist, stellt eine allgemeine Entwicklung zu einem kritischen Multi- und Interkulturalismusdiskurs dar, angefangen bei der postmodernen Aufhebung und Auflösung kommunikativer Idealisierungen (vergleiche Deleuze 2000; Foucault 1976; Derrida 1972) bis hin zu den durch Lyotard (1979) ausgelösten Reflexionen gesellschaftlicher Pluralisierungen in der Soziologie und den vielfältigen Parallelen im amerikanischen postkolonialen Multikulturalismusdiskurs.

We learn to move in a broader horizon, within which what we have formerly taken for granted as the background to valuation can be situated as one possibility alongside the different background of the formerly unfamiliar culture. The ‘fusion of horizons’ operates through our developing new vocabularies of comparison, by means of which we can articulate these contrasts. So that if and when we ultimately find substantive support for our initial presumption, it is on the basis of an understanding of what constitutes worth that we couldn’t possibly have had at the beginning. We have reached the judgement partly through transforming our standards. (Taylor 1992: 67; für die deutsche Übersetzung siehe Taylor 1997)

Die durch Pluralismus ermöglichte Horizontverschmelzung, die Sie bereits in der Lerneinheit 1.3 in diesem Band kennengelernt haben, besteht demnach nicht in der Assimilation im Sinne einer Überschreibung, Verwässerung oder Eliminierung verschiedener Horizonte, sondern in der hermeneutischen Produktivität ihrer – allerdings aufzulösenden – Distanz. Im Prozess der Horizontverschmelzung bilden sich gebrochene oder zumindest modifizierte, wechselnde Positionen des Eigenen und des Fremden, also auch modifizierte Positionen der Wahrnehmung des Eigenen durch das Fremde und des durch das Eigene wahrgenommenen Fremden, die gesellschaftlichen Normen, individuellen Dispositionen und der Interaktion aus beiden geschuldet sind. Auf Grundlage welcher kognitiven Mechanismen und Prozesse diese Produktivität erreichbar ist, ist damit jedoch noch nicht geklärt. Institutionelle Dokumente erläutern bisher wenig, wie das verarbeitende Individuum diese verschiedenen Positionen nebeneinander organisieren kann und soll. Das aber ist die eigentliche und schwierige Aufgabe im Kulturkontakt.

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