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3. Kirche und profane Gesellschaft

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Allgemein präsent war in der Minorität die Befürchtung einer generellen atmosphärischen Verschärfung der kirchenpolitischen Situation in vielen Staaten. Näher ausgeführt wurde dies am 17. Mai von Greith für die Schweiz. Angesichts der bevorstehenden Revision der Bundesverfassung in zentralistischem Sinne und der ohnehin aufgestauten Emotionen würde hier die Unfehlbarkeitsdefinition wie ein Funken im Pulverfass wirken.51 Sein Walliser Kollege de Preux tat diese Befürchtungen eine Woche später als gegenstandslos ab: die Unfehlbarkeitsdefinition würde den Kirchengegnern keinen wirklichen Grund für kirchenfeindliche Maßnahmen bieten, allenfalls einen willkommenen Vorwand; dies heiße jedoch, dass sie, wenn dieser sich ihnen nicht darbietet, den nächsten anderen wählen würden.52 Greith erwiderte am 1. Juli: de Preux habe im Wallis zwar im Ganzen eine ruhige Situation, wenn auch hier, wie er ihm in einer nur für einen Schweizer verständlichen Anspielung klarmachte, manchmal Bären aus den Höhlen am Fuße der Berge (Bären = Berner, Agitatoren aus dem protestantischen Kanton Bern) unter den Schafen wüteten.53 Aber der Wallis sei nicht die Schweiz, wo überall sonst eine explosive Situation herrsche, die zu äußerster Vorsicht mahne.

Bezeichnend ist hier für die Argumentation der Majorität: die eventuellen kirchenfeindlichen Maßnahmen werden personalisiert, auf bewusste Pläne und Strategien reduziert; aus dieser Sicht wird mit Recht argumentiert, dass ein nüchtern denkender Politiker von der Unfehlbarkeit nichts zu fürchten hat und diese allenfalls nur Vorwand sein kann. Was fehlt, ist der Blick für das Atmosphärische, für den Sog öffentlicher Stimmungen, mit denen dann auch Regierungen, die nicht von vornherein kirchenfeindlich waren, zu rechnen hatten, oder die von Politikern, die primär andere Ziele verfolgten, wie zum Beispiel Bismarck, in ihr Kalkül einbezogen wurden. Diese Sicht für das Atmosphärische war bei der Minorität stärker ausgeprägt.

Im Übrigen lautete ein Hauptargument der Majorität, der Staat habe von der Unfehlbarkeitsdefinition nichts zu fürchten, müsste ihr vielmehr dankbar sein: denn im Papsttum und seiner Unfehlbarkeit werde das Autoritätsprinzip verkündet, in dem letzten Endes auch das Heil der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Rettung liege. So verkündete Gastaldi (Saluzzo) am 11. Juni:

„Jede Autorität ist heute überall in Mißkredit geraten; jede Autorität steht in unserer Zeit im Schußfeld, nicht nur die königliche, sondern auch die väterliche. Bewahren wir daher die erste Autorität, welche die Kraft hat, jede andere Autorität zu bewahren, nämlich die Autorität des Papstes, und so werden wir für das Wohl der Kirche sorgen“54.

Demgegenüber wenden Schwarzenberg und Ketteler ein, das Autoritätsprinzip sei nicht gleich Absolutismus; der Absolutismus habe vielmehr in logischer Konsequenz zum Umschlag in der Revolution geführt. „Sehen wir zu, daß wir nicht ähnliche Erfahrungen in der heiligen Kirche machen müssen!“55. Und inmitten zunehmender Unmutsäußerungen seitens der Majorität verkündete Ketteler am Schluss seiner Rede vom 23. Mai:

„Gewiß klagt alle Welt, daß jede, sowohl weltliche als auch geistliche Autorität in unseren Tagen mit Füßen getreten wird. Alle Menschen guten Willens wünschen, daß wir die Autorität verteidigen und voll herausstellen. Aber die Welt ist auch von einer anderen allgemeinen Überzeugung bestimmt, nämlich dem Abscheu vor jeder Form des Absolutismus, aus welchem so viele Übel für die Menschheit entsprungen sind: denn der Absolutismus korrumpiert und erniedrigt den Menschen. Verkünden Sie also, ehrwürdige Väter, verkünden Sie der ganzen Welt, daß die Autorität der Kirche […] Fundament jeder Autorität ist! Aber zeigen Sie zugleich, daß es in der Kirche keine willkürliche, gesetzlose und absolutistische Gewalt gibt […], daß es in ihr nur einen Herrn und absoluten Monarchen gibt: Jesus Christus, der die Kirche mit seinem eigenen Blut erworben hat! Nur wer Beides leistet, sorgt richtig für das Wohl der Kirche und die Autorität des Heiligen Stuhles.“56

Der Vergleich mit dem Absolutismus traf eine empfindliche Stelle. Sich rundheraus zu ihm zu bekennen, sei es auch nur für den kirchlichen Bereich, dazu war kaum jemand von der Majorität bereit; dazu war das Wort und die Sache viel zu sehr negativ belastet. Im Allgemeinen leugneten die Redner der Majorität den Absolutismus, insofern damit Willkür und Auslieferung an die Subjektivität eines Einzelnen gemeint sei. Denn der Papst sei an die Offenbarung gebunden; der Vergleich mit absoluter Fürstenmacht ziehe nicht, da die Fürsten keine Verheißung hätten. Die unfehlbare Wahrheitsgarantie sei gerade der subjektiven Willkür entgegengesetzt.57 Ferré von Casale gesteht freilich andererseits zu, dass in rein verfassungsrechtlicher Hinsicht die päpstliche Vollmacht absolutistisch sei, insofern Gewaltenteilung und rechtliche Begrenzung durch eine andere Instanz ausgeschlossen sei.58

Dass die Kraft der Kirche in einer Welt, die sich vom Absolutismus abwende und parlamentarischen Formen zuwende, gerade in ihrer konziliar-synodalen Struktur liege, wird am 2. Juni besonders von Stroßmayer betont: die Kirche habe durch ihre Konzilien der Welt einmal ein Beispiel gemeinsamer Beratung gegeben. In der heutigen Demokratisierung und Parlamentarisierung liege wiederum ein Zeichen der Zeit für die Kirche, hier den Völkern positive Führung zu bieten, und dies umso mehr, als die modernen Verkehrsmöglichkeiten konziliare Beratung in viel größerem Ausmaß ermöglichten, als dies in der Vergangenheit möglich war.59 Ähnlich argumentiert drei Wochen später Losanna von Biella: Die Gegner schieben die katholische Kirche in die absolutistische Ecke, identifizieren sie mit der schwärzesten Reaktion; schlagen wir sie stattdessen, wie schon Augustinus sagt, mit ihren eigenen Waffen, indem wir das genuin katholische Prinzip des Konzils und des Konsenses betonen!60

Was das Verhältnis von Kirche und Staat betrifft, so gibt es einmal die Erwartung einer Trendwende: die Unfehlbarkeitsdefinition als Heilmittel für die kranke Welt, indem sie das Autoritätsprinzip betont, das die Welt heute brauche. So am 16. Juli, zwei Tage vor der feierlichen Definition, Gasser von Brixen:

„Es läßt sich nicht leugnen, daß es mit der menschlichen Gesellschaft bereits so weit gekommen ist, daß die letzten Fundamente menschlicher Gemeinschaftsordnung ins Wanken gekommen sind. Für diesen miserablen Zustand der menschlichen Gesellschaft gibt es kein anderes Heilmittel als durch die Kirche Gottes, in welcher eine von Gott gestiftete und unfehlbare Autorität existiert […]. Damit Aller Augen auf diesen Felsen Petri gerichtet werden, den die Pforten der Hölle nicht überwinden können, dazu glaube ich, hat es Gott gewollt, daß in diesen Tagen die Unfehlbarkeit des Papstes dem Vatikanischen Konzil vorgelegt worden ist.“61

Neben dieser Erwartung einer „Trendwende“ im Sinne der Wiederzuwendung zum Autoritätsprinzip ist in infallibilistischen Kreisen vor allem Frankreichs eine apokalyptische Variante dieser Erwartung verbreitet, etwa bei dem Laien und Journalisten Louis Veuillot. Ihre idealtypische Form lautet etwa: Die Welt, die staatliche Ordnung, steuert auf eine Katastrophe hin, vielleicht auf eine allgemeine Revolution. Aber nach dieser Katastrophe wird die Führerschaft der Kirche wieder benötigt; nach dieser Sintflut entsteht eine neue Welt; und die Zukunftsträger, so heißt es nicht selten, seien dann nicht mehr die derzeitigen Staaten und Regierungen, sondern die Völker, welche auf der Seite der Kirche und des Papstes stehen, ja die Demokratien, die dann wieder christliche Staaten bilden. Die Unfehlbarkeit des Papstes ist gleichsam der Leitstern für diese neue Welt; sie ist das Banner, das die Kirche bereithält für die Stunde Null. So formuliert es ein französischer Autor Magendie:

„Wahrlich, in der Verkündigung der Unfehlbarkeit werden vor dem einherschreitenden Papstkönig die Berge zu Tälern werden, Schwierigkeiten, vor denen man wie vor unübersteigbaren Felsen ängstlich zurückschreckt, werden vergehen wie Dunst in der Morgensonne, und ein neues Zeitalter wird sich über die elektrisierten Nationen erheben. Aber diese Jahre der Glorie, die gegenwärtige Welt ist ihrer nicht würdig, und wir haben nur eine schwache Hoffnung ihr Zeuge zu sein“.62

Häufiger ist jedoch bei der Majorität die Perspektive verbreitet: die Welt gehe ohnehin ihre eigenen Wege. Die Kirche tue gut daran, sich auf sich selbst zurückzuziehen, auf das Zentrum ihrer eigenen Gewissheit. Sie soll vor allem Distanz vor den Staaten bewahren: denn seitdem die Staaten nicht mehr christlich sind, sondern ihre eigenen Wege gehen, gezieme es auch der Kirche, ohne Rücksicht auf die Verbindung mit dem Staat ihren eigenen Weg zu gehen. So Salas von Concepción (Chile) am 24. Mai:

„Wo sind denn in diesen traurigen Zeitumständen, in denen wir uns befinden, die wahrhaft katholischen Regierungen, dass man von ihnen in kirchlichen Dingen Ratschläge annehmen möchte? […] Wir, die wir auf ganz andere Weise die Geschäfte Gottes und der Kirche führen, wir, Nachfolger der Apostel, wir, gleichsam Söhne des Lichtes und der Propheten, wir sollen zu den Palästen unserer Cäsaren gehen, um zu erfahren, was ihren Wünschen und Erwartungen entspricht oder nicht, bevor wir etwas über den Glauben definieren?“63

Die Primatsdefinitionen erscheinen so als Akt der inneren Emanzipation der Kirche vom Staat und von der Gesellschaft. Und entsprechend gilt: Weil die bergende christliche Gesellschaft nicht mehr existiert, müssen, so führt der Kurienerzbischof Salzano am 2. Juni nicht ohne scharfsinnigen historischen Blick aus, die rein kirchlichen Autoritätsstrukturen stärker und geschlossener sein: infolge des unseligen Prinzips der Trennung von Kirche und Staat müssen die Bande der kirchlichen Hierarchie enger gezogen sein, um, von menschlichen Mitteln entblößt innerlich an Geschlossenheit zu gewinnen.64

Auch in dieser Hinsicht ist die Definition der Papstdogmen und insbesondere der päpstlichen Unfehlbarkeit im Verständnis der Majorität eine Reaktion auf das Zerbrechen der Societas christiana. Ihre bergende Selbstverständlichkeit, die auch den Glauben des Einzelnen trug, ist dahin. So lange sie noch lebendig war, konnte die Kirche mit dem Gallikanismus und der Leugnung der päpstlichen Unfehlbarkeit immerhin leben; für den einzelnen Christen bedeutete dies noch keine generelle existenzielle Unsicherheit. Die moderne Welt sei aber eine Welt des ständigen Wandels und der Ungewissheit. Um in dieser Welt sowohl Zeugnis ablegen zu können von der Offenbarung Gottes wie ihre eigene Einheit behaupten zu können, müsse die Kirche das Eindeutige, Feste, Verlässliche bezeugen, den unwandelbaren Fels in der Brandung der Zeit. Bzw.: inmitten einer Welt des ständigen Wechsels, der Revolutionen, der Diskontinuitäten, müsse die Kirche, um nicht selber von der Flut weggeschwemmt zu werden, sich auf ihr institutionelles Zentrum der Gewissheit und der Einheit konzentrieren. Sie habe vor der Welt das Andere zu bezeugen, das die Welt nicht kennt: die Gewissheit inmitten des Zweifels, die Autorität inmitten der Diskussion und des Fragens, die Tradition und Vorgegebenheit inmitten der Versuche des Menschen, selbst seine Ordnung zu gestalten. Entsprechend argumentierte der Innsbrucker Jesuit Wieser, durchaus mit historischer Perspektive, in einer Schrift gegen Döllinger: Jede geschichtlich neue Epoche, in welcher sich die Kirche aus früheren politischen, nationalen oder kulturellen Bindungen löse, sei eine neue Stunde für den Primat. Und derzeit sei dies die Lösung des früheren Verhältnisses von Kirche und Staat einerseits, das Zusammenrücken der Welt durch den modernen Verkehr anderseits. Und die innere „Abgrenzung“ von der Welt, welche die Unfehlbarkeit bewirke, sei gerade deshalb notwendig, weil die äußeren Grenzzäune der christlichen Gesellschaft fallen.65 Also auch hier: Primatsdefinition und Unfehlbarkeit als Sich-Stellen der Kirche auf sich selbst nach dem Zerbrechen der Societas christiana.

Beide Seiten werfen sich Furcht und Unglauben vor. Auch vor der Definition der Immaculata Conceptio, so der chilenische Bischof Salas von Concepción, habe man ähnliche Ängste gehabt; und damals wie heute gelte das Wort „Kleingläubige, warum habt ihr gezweifelt?“ (Mt 8,26). „Wenn die Definition einmal erlassen ist, wird die Wahrheit strahlend hervortreten, die Wolken verschwinden, der Sturm hört auf, eine große Ruhe tritt ein, und es wird Friede sein“.66 Bravard von Coutances wendet hier ein: Gebe Gott, dass diese Ruhe nicht die Friedhofsruhe (pax cadaverum) ist und dass nicht in Europa solche Schismen und Katastrophen entstehen, dass unseren Völkern der Glaube genommen wird! Aber im Übrigen wirft er gerade den Infallibilisten ungläubige Angst vor: Entspreche es denn der Würde des Konzils, auf Aufregung und Agitation sofort zu reagieren? Warum sind wir so furchtsam? „Sind wir nicht in einem Schiff, das immer von den Fluten hin und hergeworfen, dennoch niemals versinkt, und froh und triumphierend zu den ewigen Ufern rudert?“ In dem größten Sturm steuere man auch nicht direkt gegen den Wind. So würde das Konzil auch am klügsten handeln, wenn es einfach mit seinen Arbeiten fortfährt und zum Primat erst kommt, wenn er dran ist.67 In beiden Fällen ist es jeweils die Angst der Anderen, nie die eigene, die „ungläubig“ ist und aus der mangelndes Vertrauen auf den Heiligen Geist spricht.

Das Erste Vatikanische Konzil

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