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3 W. V. O. Quines naturalisierter Empirismus
ОглавлениеW. V. O. Quine ist einer der scharfsinnigsten Kritiker am traditionellen fundamentalistischen E. Er unterscheidet, ausgehend von der Position Humes, zwei Hinsichten, eine „begriffliche“ und eine „doktrinelle“ Hinsicht, in denen sich der traditionelle oder, wie Quine ihn nennt, der „radikale Empirismus“ mit der Beziehung von Sinneseindrücken oder Sinnesdaten zu Überzeugungen über äußere materielle Gegenstände befasst. In begrifflicher Hinsicht geht es um die Frage, ob Aussagen über die Außenwelt in Aussagen der Beobachtungssprache übersetzt werden können, ob, anders ausgedrückt, der Begriff eines materiellen Gegenstandes vollständig durch eine rein sinnliche Begrifflichkeit definiert werden kann. Die doktrinelle Hinsicht betrifft hingegen die Frage, ob unser Wissen von der Außenwelt aus Wissen ausschließlich über Sinnesdaten abgeleitet oder auf der Basis unserer Sinnesdaten epistemisch adäquat gerechtfertigt werden kann.
Was die doktrinelle Seite des radikalen E. anbelangt, so stellt Quine ganz dezidiert fest, dass wir über Humes Philosophie und ihre skeptischen Konsequenzen für eine fundamentalistische Epistemologie im Grunde nicht hinausgekommen sind. Selbst wenn Humes waghalsige phänomenalistische Gleichsetzung von Körpern mit Bündeln von Sinnesdaten erfolgreich gewesen wäre, bliebe immer noch das Problem, dass weder generelle Aussagen noch Aussagen über die Zukunft oder die Vergangenheit aus Aussagen über auf diese Weise neuartig interpretierte Körper abgeleitet werden können. Deshalb proklamiert Quine, dass sich das grandiose, durch die cartesianische Suche nach Gewissheit motivierte Projekt, unser Wissen von äußeren materiellen Gegenständen auf der Basis unserer unbezweifelbaren, unmittelbaren sinnlichen Erfahrung epistemisch zu rechtfertigen, als ein aussichtsloses Unterfangen herausgestellt hat. Die Konsequenz aus diesem Scheitern ist, dass der Fallibilismus, das Eingeständnis, dass sich eine jede unserer Überzeugungen über die Welt als falsch herausstellen könnte, an die Stelle der Suche nach Gewissheit treten muss.
Zwar sind Quine zufolge auf der begrifflichen Seite seit Humes Tagen große Fortschritte erzielt worden, aber das ambitiöse, ursprünglich von Russell formulierte Programm, die Außenwelt als eine logische Konstruktion aus Sinnesdaten zu analysieren, dessen Durchführung Carnap in Der logische Aufbau der Welt (1928) mit Hilfe der Ressourcen der modernen Logik und der Mengentheorie am nächsten gekommen ist, muss dennoch als gescheitert angesehen werden. Wie Carnap später selbst eingesehen hat, lassen sich Sätze über physische Gegenstände einfach nicht in Sätze über Sinnesdaten übersetzen oder als Sätze über Sinnesdaten rational rekonstruieren. Die Hoffnung, die Sprache der Theorie auf eine epistemisch privilegierte Sinnesdatensprache zurückzuführen, muss ein für alle Mal begraben werden.
Aussagen über die Welt können also Quine zufolge weder durch Aussagen über die sinnliche Erfahrung gerechtfertigt noch in solche Aussagen übersetzt werden. Darüber hinaus macht Quine geltend, dass die Behauptung der radikalen Empiristen, es gebe eine philosophisch interessante Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Aussagen, zwischen Aussagen, die allein aufgrund ihrer Bedeutung wahr sind, und Aussagen, die aufgrund ihrer Bedeutung und ihres empirischen Inhalts wahr sind, ein unhaltbares Dogma ist. Dies ist eines der beiden Dogmen, durch die laut Quine der traditionelle E. geprägt war. Das andere Dogma ist das Dogma des Reduktionismus, das in seiner radikalen Form auf der Übersetzbarkeit von Aussagen über die physische Welt durch Aussagen über Sinnesdaten beharrt und dessen subtilere Variante immer noch verlangt, dass mit jeder einzelnen synthetischen Aussage eindeutige Bereiche verifizierender und falsifizierender Erfahrungen verknüpft sind.
Diese beiden Dogmen und mit ihnen der radikale E. müssen Quine zufolge aufgegeben werden, weil sie der maßgeblichen Einsicht des Holismus widersprechen, dass wir die Wahrheit unserer Sätze nicht einzeln, sondern nur gemeinsam als eine Theorie an den Beobachtungen überprüfen können. Einzelne Hypothesen erzeugen nur mit Hilfe einer akzeptierten Hintergrundtheorie Voraussagen, die empirisch getestet werden können. Eine fehlgeschlagene Voraussage falsifiziert daher nicht zwingend die Hypothese, aus der sie abgeleitet wurde.
Vielmehr ist es möglich, die Hypothese dadurch zu retten, dass einige Hintergrundüberzeugungen revidiert werden. Dem zweiten, grundlegenderen der beiden Dogmen stellt Quine sein eigenes positives Bild gegenüber, dem zufolge die Einheit der empirischen Signifikanz die gesamte Wissenschaft ist. Er ist bestrebt, die empiristische Idee zu bewahren, dass unsere Aussagen über die Welt dem „Tribunal der Erfahrung“ gegenübertreten müssen, obwohl sie ihm nur als ein ganzes System gegenübertreten können.
Nicht jeder Satz einer wissenschaftlichen Theorie hat einen eigenen Fundus beobachtbarer Implikationen. Daraus folgert Quine, dass wir angesichts widerspenstiger Erfahrungen im Grunde an einem jeden Satz einer Theorie festhalten können, wenn wir nur bereit sind, die Wahrheitswerte anderer Sätze in der Theorie kompensatorisch zu revidieren. Obwohl manche seiner Formulierungen dies suggerieren mögen, ist Quine jedoch kein radikaler Holist. Die Wissenschaften, so bemerkt er, sind weder diskontinuierlich noch monolithisch. Es wird der wissenschaftlichen Praxis sicherlich gerechter, zu sagen, dass größere Bereiche einer Theorie, nicht die ganze Theorie, ihre beobachtbaren Konsequenzen implizieren. Und sein Holismus betrifft nicht alle Sätze gleichermaßen, denn die Beobachtungssätze kommen, da sie als einzelne dem Test der Beobachtung unterzogen werden, praktisch ungeschoren davon. An der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Beobachtungssätzen und theoretischen Sätzen hält Quine, trotz seiner Kritik am alten E., beharrlich und entschlossen fest.
Die Beobachtungssätze sind der Eckpfeiler von Quines gesamtem philosophischem System. (↗ Naturalisierung der Erkenntnistheorie) Sie erfüllen im Rahmen seiner Philosophie hauptsächlich zwei Aufgaben. Sie sind zum einen epistemologisch fundamental, denn sie versorgen uns mit den Daten, durch die wir unsere Theorien über die objektive Realität stützen. Da unter praktisch allen Mitgliedern einer sprachlichen Gemeinschaft Übereinstimmung über sie herrscht, können sich zwei Theoretiker, die sich über die Wahrheit eines theoretischen Satzes nicht einig werden, auf das gemeinsame Fundament der Beobachtungssätze zurückziehen, um die relevanten Belege zu beurteilen. Beobachtungssätze schützen uns überdies auch vor der populären Behauptung, dass radikal verschiedene Theorien inkommensurabel sind. Sie stellen geteilte Kontrollpunkte für die verschiedenen Theorien dar und schaffen somit eine Basis für den Vergleich der Theorien.
Beobachtungssätze sind zum anderen aber auch semantisch oder sprachtheoretisch fundamental, denn sowohl für das Lernen einer ersten Sprache als auch für das Übersetzen einer fremden Sprache sind außersprachliche Bezugspunkte, äußere Umstände, vonnöten, die intersubjektiv erfasst und sofort mit den entsprechenden Äußerungen verknüpft werden können. Sie bieten den einzigen Zugang zur Sprache und zur Wissenschaft. Beobachtungssätze sind daher das Eingangstor in die Sprache. Ihr Lernen ist für den Spracherwerb unverzichtbar, denn sie sind es, die den unmittelbaren Kontakt zur wirklichen Außenwelt herstellen, über die wir gewöhnlich reden und auf die wir gewöhnlich gerichtet sind. Die Theorie der Sprache und die Theorie der Erkenntnis stehen in einer engen Beziehung zueinander. Deshalb macht Quine geltend, dass ein genetischer Ansatz, der wissenschaftlich die Weisen untersucht, in denen wir unsere Sprache erlernen, eine erfolgversprechende Strategie in der Erkenntnistheorie ist.
Es ist der privilegierte Status der Beobachtungssätze und der ihnen zugrunde liegenden sinnlichen Evidenz, der Quine seiner eigenen Einschätzung nach zu einem Vertreter des E. macht. Denn obwohl das traditionelle empiristische Programm in der Erkenntnistheorie zum Scheitern verurteilt ist, gibt es für ihn zu einer neuen, aufgeklärten Form des E. schlicht keine Alternative. Diese neue Form des E. bezeichnet er als „naturalisierte Epistemologie“. Unter „Naturalismus“ versteht Quine die Preisgabe des Ziels einer prima philosophia, einer Ersten, den Naturwissenschaften vorgeordneten Philosophie und das sich daraus ergebende Bekenntnis zum Szientismus. Es sind die Naturwissenschaften – und nicht eine irgendwie grundlegendere Philosophie –, die die Realität zu identifizieren und zu beschreiben haben. Und die Naturwissenschaften bedürfen keiner anderen Rechtfertigung als der Beobachtung und der hypothetischdeduktiven Methode. Sie brauchen sich nicht vor einem außerwissenschaftlichen Tribunal, einer erkenntnistheoretischen Grundlagendisziplin, die die einzelnen empirischen Wissenschaften allererst begründet, zu verantworten. Es gibt keinen externen Standpunkt, kein „kosmisches Exil“, von dem aus der Philosoph seine epistemologische Grundlagenforschung durchführen könnte. Eine festere Basis für die Wissenschaften als die Wissenschaften selbst steht uns nicht zu Gebote.
Quines eigentliches Anliegen ist es, die Epistemologie dadurch in eine respektable empirische Wissenschaft zu verwandeln, dass er sie in ein Kapitel der empirischen Psychologie transformiert. Das Ziel der naturalisierten Epistemologie ist es, wissenschaftlich die verschiedenen Weisen zu untersuchen, in denen wir wissenschaftliches Wissen erwerben. Unser Wissen und die Sprachen, in denen wir es ausdrücken, sind natürliche Phänomene, die wie jeder andere Teil der natürlichen Welt beschrieben und erklärt werden können. Um Wissen und Sprache zu erforschen, sind keine besonderen Methoden erforderlich, die sich von den Methoden, die in anderen wissenschaftlichen Disziplinen benutzt werden, prinzipiell unterscheiden. Aber trotz ihrer Naturalisierung oder Psychologisierung und der damit zwangsläufig einhergehenden Brüche legt er dennoch großen Wert darauf, die Kontinuität seiner neuen mit der alten empiristischen Epistemologie hervorzuheben.
Im Fokus der alten und der neuen Epistemologie steht Quine zufolge die Erklärung der Beziehung zwischen Evidenz und Theorie, zwischen allen Informationen, die wir durch die Sinne erwerben, auf der einen Seite und unseren komplizierten Theorien oder Meinungssystemen über die Welt auf der anderen Seite. Daraus ergibt sich die zentrale Frage, die die naturalisierte Epistemologie systematisch zu beantworten versucht, die Frage nämlich: Wie gelangen wir, physische Bewohner einer physischen Welt, auf der Basis unserer mageren sinnlichen Evidenz zu unserer komplexen Theorie der Welt, und warum funktioniert sie so gut? Diese Frage, die Frage im Grunde, wie unser Wissen von der Außenwelt möglich ist, ist es, die letztlich Quines gesamte systematische Philosophie motiviert.
Etliche renommierte Philosophen, D. Davidson, H. Putnam und R. Rorty z.B., haben Quine vorgeworfen, dem wichtigen Unterschied zwischen einer kausalen Erklärung einer Überzeugung und ihrer epistemischen Rechtfertigung nicht gebührend Rechnung zu tragen. Der Vorwurf lautet somit, dass Quine den genetischen Fehlschluss begeht, Ursachen mit Gründen – den Entdeckungszusammenhang mit dem Begründungszusammenhang – zu verwechseln.
Lit.: Ayer, Alfred: Language, Truth and Logic, London: Gollancz, 1936.
Bennett, Jonathan: Locke, Berkeley, Hume. Central Themes, Oxford: Clarendon Press, 1971.
Carnap, Rudolf: Der logische Aufbau der Welt, Berlin: Weltkreis-Verl., 1928.
Engfer, Hans-Jürgen: Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiehistorischen Schemas, Paderborn: Schöningh, 1996.
Hume, David: A Treatise of Human Nature: Being an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects, 1739–1740, L. A. Selby-Bigge/P. H. Nidditch (Hg.), Oxford: Oxford University Press, 1978.
Quine, Willard Van Orman: Ontological Relativity and Other Essays, New York: Columbia University Press, 1969.
Russell, Bertrand: Human Knowledge: Its Scope and Limits, London: Allen and Unwin, 1948.
R. S.