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A priori

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In vielen Fällen erwerben wir unser Wissen durch Sinneserfahrung. Dass mein Exemplar von Kants Kritik der reinen Vernunft einen grünen Einband hat, weiß ich, weil ich es sehe. Dass Säuren Lackmuspapier rot färben, weiß ich, weil ich es gelesen habe und Wissenschaftler es überprüft haben. Es gibt jedoch Dinge, die wir unabhängig von Sinneserfahrung wissen oder wenigstens gerechtfertigt glauben. Um herauszubekommen, dass 5 + 7 = 12, muss ich nicht sinnlich wahrnehmbare Dinge durchzählen, ich weiß es in der Regel durch reines Nachdenken. Ähnliches gilt für die folgenden Aussagen:

(1) Keine Aussage ist zugleich wahr und falsch. (Satz vom Widerspruch)

(2) Junggesellen sind unverheiratet.

(3) Nichts kann zugleich ganz rot und ganz grün sein.

(4) Wissen ist nichtzufällig wahre Meinung.

Jede dieser Aussagen kann ich wissen, ohne ihre Gegenstände zuvor empirisch zu untersuchen. Ich weiß sie unabhängig von der Erfahrung, rein a priori. Mathematiker, Logiker, Semantiker und ganz besonders Philosophen interessieren sich für dieses Wissen, das zumindest auf den ersten Blick keine empirischen (aposteriorischen) Quellen hat. (↗ Erkenntnisquellen) Kant war der Erste, der den Begriff a priori zur Charakterisierung einer erfahrungsunabhängigen Quelle des Wissens oder der Rechtfertigung und den Begriff a posteriori zur Charakterisierung einer erfahrungsbasierten Quelle des Wissens oder der Rechtfertigung verwendet hat (KrV B 2). Zwar gab es bereits seit der Antike Rationalisten, die rationale, nichtempirische Erkenntnisquellen annahmen (z.B. Platon, Plotin, Descartes und Leibniz), aber der Begriff a priori hatte vor Kant eine ganz andere Bedeutung: Eine Erkenntnis galt als a priori, wenn sie auf einem Schluss von der Ursache auf ihre Wirkung beruhte, und als a posteriori, wenn von den Wirkungen auf die Ursache zurückgeschlossen wurde.

Wenn gesagt wird, dass apriorisches Wissen erfahrungsunabhängige Quellen hat, dann bedeutet das nicht, dass wir dieses Wissen haben könnten, ohne je Erfahrungen gemacht zu haben. Um nämlich die Wahrheit einer der oben angeführten Aussagen erkennen zu können, müssen wir diese Aussagen zunächst verstehen und die entsprechenden Gedanken denken können. Dazu ist das empirische Erlernen einer natürlichen Sprache oder der Erwerb empirischer Begriffe (wie Wissen, Junggeselle oder rot) erforderlich. Diese empirische Voraussetzung unseres Wissens soll jedoch dessen apriorischen Status nicht in Frage stellen. Wenn man also sagt, dass jemand etwas a priori weiß, dann will man damit sagen, dass, wenn er die entsprechende Aussage versteht oder den entsprechenden Gedanken denkt, keine Sinneserfahrung mehr nötig ist, damit daraus Wissen oder eine gerechtfertigte Meinung wird.

Abgrenzungen und Beziehungen zu anderen Begriffen im Umfeld. Im Umfeld des Begriffspaares a priori/a posteriori gibt es einige andere Begriffspaare, die davon deutlich unterschieden werden müssen. Während a priori/a posteriori die Art und Weise charakterisiert, wie wir eine bestimmte Tatsache wissen, also eine rein erkenntnistheoretische Kategorie ist, beschreibt das Begriffspaar notwendig/kontingent den metaphysischen Status einer Tatsache. Notwendige Tatsachen hätten nicht anders sein können, als sie es aktual sind. Dass Wasser H2O ist, ist (zumindest nach Kripke 1993) eine notwendige Tatsache. Es hätte nicht der Fall sein können, dass Wasser nicht H2O gewesen wäre. Andernfalls wäre es kein Wasser gewesen. Aber dass ich existiere, ist eine kontingente Tatsache. Ich hätte auch nicht existieren können, wenn meine Eltern mich nicht gezeugt hätten. Ein weiteres wichtiges Begriffspaar im Umfeld ist die semantische Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen (oder Gedanken). Ein analytischer Satz ist wahr allein aufgrund seiner Bedeutung (so wäre der Satz „Junggesellen sind unverheiratet“ auch dann wahr, wenn die Welt ganz anders beschaffen wäre, als sie ist), ein synthetischer Satz ist dagegen wahr aufgrund der Bedeutung und der Welt (so wäre der Satz „Meine Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft hat einen grünen Einband“ nicht wahr, wenn diese Ausgabe einen anderen Einband hätte).

Kant hat angenommen, dass es ganz bestimmte Beziehungen zwischen den genannten Begriffspaaren gibt:

(K1) Apriorisches Wissen liegt dann und nur dann vor, wenn Wissen von einer notwendigen Tatsache vorliegt.

(K2) Alle analytischen Aussagen sind a priori erkennbar.

(K3) Es gibt neben synthetischen Aussagen a posteriori auch synthetische Aussagen, die a priori erkannt werden können.

Kants Thesen sind im 20. Jahrhundert allesamt heftig attackiert worden. So hat S. Kripke darauf hingewiesen, dass es sehr wohl empirisches Wissen von notwendigen Tatsachen geben kann. Wir wissen beispielsweise durch die empirischen Wissenschaften, dass Wasser H2O ist, obwohl es sich dabei um eine notwendige Tatsache handelt. Und umgekehrt gibt es nach Kripke auch apriorisches Wissen von kontingenten Tatsachen. So wissen wir z.B. a priori, dass Wasser flüssig ist, weil diese Eigenschaft die Referenz des Begriffes Wasser festlegt, aber selbstverständlich könnte Wasser auch fest sein, wenn die Temperaturen wesentlich niedriger wären. Kripke hat also gezeigt, dass (K1) falsch ist. Auch (K2) ist problematisch. Das zeigt eine sehr einfache Überlegung. Nehmen wir einmal an, dass analytische Aussagen wahr aufgrund ihrer Bedeutung sind (↗ Analytisch), dann könnten wir ihre Wahrheit erkennen, indem wir ihre Bedeutung erkennen. Doch wenn Bedeutungen einer natürlichen Sprache von Konventionen in einer Sprachgemeinschaft abhängen, dann ist offenbar empirisches Wissen von diesen Konventionen erforderlich, um die Wahrheit der analytischen Aussage zu erfassen. Es sind also mit Sicherheit nicht alle analytischen Sätze a priori erkennbar, vielleicht jedoch alle analytischen Gedanken. Denn um die Bedeutung der eigenen Gedanken zu erkennen, braucht man sicher kein empirisches Wissen. Was ist mit der These (K3)? Offenbar gibt es unter den oben aufgeführten Beispielen für apriorisches Wissen Aussagen, die nicht eindeutig analytisch sind. Ein solches Beispiel ist (3). Wenn ich erfasse, dass nichts zugleich ganz rot und ganz grün ist, dann nicht deshalb, weil die Begriffe rot und grün einander ausschließen. Bei diesen Begriffen handelt es sich offenbar um phänomenale Begriffe, die basal und deshalb nicht mehr weiter definierbar sind. Dennoch scheinen wir durch reines Nachdenken allein dazu fähig, die Wahrheit von (3) einzusehen. Doch wenn wir das annehmen, lauern zumindest zwei Probleme, auf die vor allem die logischen Empiristen hingewiesen haben. Erstens: Wir können verstehen, wie wir analytische Wahrheiten erkennen können, nämlich durch das Verstehen der Bedeutung. Aber welche rätselhafte Erkenntnisquelle liegt synthetischen Erkenntnissen a priori zugrunde? Muss man hier so etwas wie eine ursprüngliche rationale Einsicht annehmen? Zweitens: Wir können sehr gut verstehen, wie wir durch Sinneswahrnehmung Wissen über die Welt gewinnen können. Wahrnehmung ist nämlich das Produkt einer kausalen Einwirkung der Welt auf uns. Aber rationale Einsichten sind nicht das Produkt einer kausalen Einwirkung der Welt auf unser Denken, deshalb bleibt rätselhaft, wie wir über solche Einsichten einen erkenntnistheoretischen Zugang zur Welt bekommen sollen.

Definitionsversuche. Kants Vorschlag zum Verständnis apriorischen Wissens ist rein negativ, er sagt nur, um was für eine Wissensquelle es sich dabei nicht handelt (nämlich die Erfahrung). Er sagt aber positiv nichts darüber aus, wie diese Quelle genauer zu verstehen ist. Diese negative Definition scheint zu weit zu sein, um all das auszuschließen, was wir üblicherweise nicht als Wissen a priori bezeichnen. So wird z.B. von vielen Konzeptionen des Selbstwissens aus der Perspektive der ersten Person angenommen, dass Selbstwissen nicht auf irgendwelchen Gründen beruht, sondern unmittelbar oder direkt ist. Doch wenn ich Wissen von meinen gegenwärtigen Erlebnissen oder Gedanken nicht auf irgendwelche Gründe stütze, dann beruht es gewiss auch nicht auf Erfahrung. Dennoch ist es intuitiv unplausibel, Selbstwissen als a priori zu bezeichnen. Ein ähnliches Problem taucht im Zusammenhang mit der Erinnerung auf. Erinnerung ist nicht immer episodisch, sondern besteht manchmal einfach darin, dass Informationen in einem kognitiven System über die Zeit hinweg erhalten und weitergeleitet werden. In diesem Fall gibt es keine Erinnerungsgründe. Dennoch würden wir diese Art von Erinnerung nicht als apriorische Wissensquelle auffassen. Deshalb erscheint es sinnvoll, nach einer positiven Definition apriorischen Wissens zu suchen. Sehen wir uns eine Reihe von Vorschlägen genauer an:

a) angeborenes Wissen: Bereits in Platons Anamnesis-Lehre, aber besonders auch in der frühen Neuzeit (bei Descartes und Leibniz) findet sich die Idee, dass nichtempirisches Wissen angeboren ist. Allerdings scheint das für apriorisches Wissen nicht notwendig zu sein, weil wir es in vielen Fällen erst durch die Anwendung spezifischer Methoden erwerben. So wird man nicht sagen wollen, dass uns alles mathematische Wissen angeboren ist, denn offenbar können wir unbeschränkt viel neues mathematisches Wissen erwerben. Dass Wissen angeboren ist, scheint jedoch auch nicht hinreichend zu sein, damit dieses Wissen nichtempirisch ist. Die evolutionäre Erkenntnistheorie nimmt an, dass es Wissen gibt, das durch Vererbung an Nachkommen weitergegeben wird. Aus ihrer Sicht wird Wissen vererbt, wenn es durch Mutation zufällig erworben wird und sich im Wettbewerb um die besseren Fortpflanzungsmöglichkeiten empirisch bewährt. Der empirische Prozess der Selektion spielt hier also eine entscheidende Rolle und ist mit der Erfahrungsunabhängigkeit apriorischen Wissens nicht in Einklang zu bringen. Vertreter der evolutionären Erkenntnistheorie sagen deshalb auch, dass das individualgeschichtliche Apriori ein stammesgeschichtliches Aposteriori ist.

b) unfehlbare Gründe: Vielfach wurden in der Tradition apriorische Gründe mit unfehlbaren Gründen gleichgesetzt. Descartes ist etwa der Auffassung, dass alles, „was ich klar und deutlich (a priori, T. G.) einsehe (…) wahr ist“ (Descartes 1992, S. 63). Und für Kant ist apriorische Erkenntnis „das Beispiel der apodiktischen (…) Gewissheit“ (Kant 1998, A XV). Unfehlbarkeit ist aber weder notwendig noch hinreichend für apriorische Gründe. Sie ist nicht notwendig, weil eine Meinung auf nichtempirische Gründe gestützt sein kann, auch wenn sie tatsächlich falsch ist. Das passiert etwa, wenn uns ein Rechenfehler unterläuft. Auch G. Freges „Begriffsschrift“ (ein formallogisches System) war sicher durch reines Nachdenken gerechtfertigt, selbst wenn sich später durch Russells Paradoxie herausstellte, dass sie einen Widerspruch enthielt und deshalb nicht wahr sein konnte. Unfehlbarkeit ist aber auch nicht hinreichend für apriorische Gründe. Sicher kann man zur Annahme der eigenen Existenz durch Körpergefühl (also auf empirischem Wege) kommen. Diese Annahme kann nicht falsch sein, weil man sich über die eigene Existenz nicht täuschen kann. Dennoch ist die Annahme nicht a priori gerechtfertigt, wenn man zu ihr auf empirischem Wege gelangt ist.

c) durch Erfahrung nicht anfechtbare Gründe: In neuerer Zeit wurde der Vorschlag gemacht, die Erfahrungsunabhängigkeit apriorischer Rechtfertigung so zu verstehen, dass sie nicht durch Erfahrung angefochten werden kann (Kitcher 2000). Doch eine solche empirische Unanfechtbarkeit ist nicht notwendig für die apriorische Rechtfertigung, weil Meinungen auch dann durch eine bestimmte Quelle gerechtfertigt sein können, wenn die Rechtfertigung im Prinzip durch eine andere Quelle widerlegt werden kann. Erinnerungsmeinungen sind klarerweise durch Wahrnehmungsmeinungen widerlegbar, aber deshalb hören sie nicht auf, durch Erinnerung gerechtfertigt zu sein, solange sie nicht tatsächlich widerlegt werden. Es ist jedoch auch nicht hinreichend für eine apriorische Rechtfertigung, wenn eine Meinung empirisch nicht widerlegbar ist. Wenn man notwendige Strukturmerkmale jeder Erfahrung psychologisch herausfindet, dann ist die entsprechende Meinung durch Erfahrung nicht widerlegbar. Dennoch ist eine psychologisch begründete Meinung sicher nicht a priori gerechtfertigt.

d) intellektuelles Erscheinen der Notwendigkeit: Die neuen Rationalisten (wie Bealer und BonJour) sind der Auffassung, dass apriorische Gründe uns eine fragliche Aussage immer als notwendig wahr scheinen lassen. Aber diese Bedingung dürfte zu stark sein. Wenn wir mathematisches Wissen in der Regel a priori erwerben, dann erfassen wir z.B., dass 2 + 2 = 4, aber nicht, dass diese Tatsache notwendig ist.

e) Selbstevidenz: Häufig wird die Auffassung vertreten, dass a priori gerechtfertigte Meinungen selbstevidente Meinungen sind (Bon-Jour 1998, S. 102). Selbstevidenz bedeutet dabei, dass einem die Wahrheit eines Gedankens unmittelbar und allein aufgrund des Verstehens dieses Gedankens einleuchtet. Das würde sehr gut erklären, warum diese Rechtfertigung nichtempirisch ist, sagt aber mehr aus als Kants rein negative Definition. Das Phänomen der Selbstevidenz wird häufig auch als rationale Einsicht oder rationale Intuition umschrieben. Dies scheint die bestmögliche Charakterisierung apriorischer Rechtfertigung zu sein.

Argumente für apriorische Erkenntnis. Dass es apriorische Erkenntnis (Wissen oder Rechtfertigung) gibt, wird im Allgemeinen durch indirekte Argumente zweierlei Art begründet. Das Defizienzargument (wir hätten bestimmtes Wissen ohne apriorisches Wissen nicht) hat die folgende Form:

(P1) Wir haben Wissen von X.

(P2) Ohne apriorisches Wissen hätten wir kein Wissen von X.

(C1) Also haben wir apriorisches Wissen.

Rationalisten verweisen typischerweise auf drei Bereiche, von denen man eigentlich nicht verstehen kann, wie empirisches Wissen von ihnen möglich sein soll. Da ist zunächst unser Wissen von logischen und mathematischen Wahrheiten. Ferner haben wir offenbar nicht nur Wissen von metaphysisch notwendigen Tatsachen, sondern wir können auch ihren modalen Status erkennen, also dass sie notwendig sind. Auch hier sieht man nicht unmittelbar, wie man diesen Status anders erkennen könnte als dadurch, dass sich das jeweilige Gegenteil nicht denken lässt; und das wäre eine rein apriorische Methode. Schließlich lässt sich auch philosophisches Wissen nicht ohne Weiteres empirisch verstehen. Wenn wir etwa klären wollen, was Wissen, Freiheit oder Wahrheit ist, dann untersuchen wir diese Phänomene nicht mit empirischen Methoden, sondern wir bewerten hypothetische Fälle in sogenannten Gedankenexperimenten darauf hin, ob sie unter den entsprechenden Begriff fallen. Auch das geschieht aus dem Lehnstuhl des Philosophen heraus durch reines Nachdenken und erfordert keine empirische Forschung. Radikale Empiristen können gegen solche Defizienzargumente zwei unterschiedliche Strategien einschlagen. Zum einen können sie einfach leugnen, dass wir Wissen von X haben. Das ist die skeptische Strategie. Oder sie behaupten, dass es am Ende doch eine empirische Erklärung unseres Wissens von den fraglichen Gegenstandsbereichen gibt.

Ein anderes indirektes Argument für apriorisches Wissen ist das Selbstaufhebungsargument.

Es hat die folgende Struktur:

(P3) Um apriorisches Wissen widerlegen zu können, müssen wir X wissen können.

(P4) X können wir nur a priori erkennen.

(C2) Also können wir apriorisches Wissen nur dann widerlegen, wenn wir es als existent voraussetzen. (Selbstwiderspruch)

Unter den gegenwärtigen Rationalisten gibt es zwei sehr prominente Vertreter dieser Argumentationsstrategie. BonJour (1998) ist der Auffassung, dass jede Widerlegung argumentativer Natur ist und dass ein Argument nur dann gerechtfertigte Konklusionen hervorbringt, wenn die Schlussregel a priori als gültig erkannt wird. Dann wäre jedes Argument gegen apriorisches Wissen erkenntnistheoretisch inkonsistent: Wenn die Konklusion wahr wäre, dann wäre sie nicht gerechtfertigt (und könnte nicht gewusst werden). Die Überzeugungskraft dieses Selbstaufhebungsarguments hängt jedoch vollkommen von BonJours Konzeption der Rechtfertigung ab. Er glaubt nämlich, dass tatsächlich gültige Schlüsse nicht ausreichen, um von gerechtfertigten Prämissen zu gerechtfertigten Konklusionen zu gelangen. Seiner Auffassung nach muss man die Gültigkeit der Schlüsse zusätzlich auch noch erkennen. Damit erweist er sich als Anhänger eines erkenntnistheoretischen Internalismus – eine Position, die in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie heftig umstritten ist. G. Bealers Selbstaufhebungsargument (1993) hängt dagegen nicht vom Internalismus ab. Er glaubt, dass jedes Argument gegen apriorisches Wissen (oder apriorische Rechtfertigung) von Prämissen abhängt, die wir nur a priori rechtfertigen können. So enthalten die meisten dieser Argumente bestimmte Annahmen über erkenntnistheoretische Prinzipien; und die können wir nach Bealer eben nur a priori erkennen. Aber auch diese Annahme kann von radikalen Empiristen, die apriorische Erkenntnisquellen völlig ablehnen, natürlich bestritten werden, sofern sie in der Lage sind, das Wissen von den Erkenntnisprinzipien empirisch zu erklären. Der Erfolg der empiristischen Strategie wird hier ganz davon abhängen, inwiefern es ihnen wirklich gelingt, das fragliche Wissen ohne Rückgriff auf apriorische Quellen zu erklären.

Probleme apriorischer Erkenntnis. Empiristen haben die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis aber auch direkt angegriffen, indem sie eine Reihe von Problemen für diese Art der Erkenntnis benannt haben:

(1.) Von W. V. O. Quine stammt der Einwand, dass es keine apriorische Erkenntnis geben könne, weil keine wie auch immer gerechtfertigte Meinung unrevidierbar oder unanfechtbar sei. Dieser Einwand setzt jedoch voraus, dass apriorische Gründe unanfechtbar sind, und das widerspricht den vorangehenden Überlegungen. Eine fehlbare und deshalb anfechtbare Rechtfertigung a priori ist nämlich durchaus möglich.

(2.) Empiristen aller Art haben immer wieder eingewandt, dass apriorische Erkenntnisse obskur und unerklärlich sind. Zum einen ist vollkommen unklar, welche psychologischen Prozesse ihnen zugrunde liegen. Der Vorschlag, dass hier das Verstehen der eigenen Begriffe eine zentrale Rolle spielt, könnte bestenfalls apriorisches Wissen von analytischen Wahrheiten erklären, nicht aber von den interessanteren synthetischen Wahrheiten a priori über die Welt. Zum anderen gibt es offenbar keinen direkten kausalen Einfluss der mathematischen, logischen oder philosophischen Gegenstandsbereiche auf unser rationalistisches Denkvermögen. Doch damit bleibt die Zuverlässigkeit apriorischer Erkenntnis letztlich unerklärt. Sofern es rationalistische Erklärungsansätze gibt, schränken sie den Umfang apriorischen Wissens erheblich ein. So kann unser Begriffsverständnis bestenfalls erklären, wie wir die Wahrheiten erkennen können, die allein aufgrund von Bedeutung wahr sind und deshalb nicht von der Welt handeln. Kant hat mit seinem transzendentalen Idealismus genau diese Lücke füllen wollen, aber nur um den Preis, dass er die Objektivität der Welt preisgegeben hat. Sofern diese Welt nämlich durch Denkhandlungen konstituiert ist, kann man sehr gut verstehen, wie man durch reines Nachdenken die Struktur der Welt erkennen kann.

(3.) Selbst wenn man verstehen könnte, wie sich rationale Intuitionen auf eine objektive geistunabhängige Welt beziehen können, so wird deren Zuverlässigkeit doch massiv dadurch in Frage gestellt, dass in neuerer Zeit durch empirische Studien nahegelegt wird, dass diese Intuitionen relativ auf Kulturen, Bildungsniveau und Hintergrundtheorien sind.

Nachdem die Philosophie zumindest in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend vom Empirismus dominiert wurde, lässt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein deutliches Wiedererstarken rationalistischer Entwürfe erkennen. Vertreter des neuen Rationalismus sind u.a.: Bealer, Boghossian, BonJour, Chalmers, Jackson, Peacocke und Sosa. Die Herausforderung für den Empirismus besteht im Wesentlichen darin, vermeintlich apriorische Wissensarten (wie mathematisches, logisches und philosophisches Wissen) empiristisch zu erklären. Rationalisten müssen dagegen vorrangig versuchen, das Erklärungsproblem zu lösen, welches die apriorische Erkenntnis von einer unabhängigen Wirklichkeit aufwirft.

Lit.: Bealer, George: „The Incoherence of Empiricism“, in: S. Wagner/R. Warner (Hg.): Naturalism: A Critical Appraisal, Notre Dame, Ind.; University of Notre Dame Press, 1993. S. 163–196.

BonJour, Laurence: In Defense of Pure Reason, Cambridge, Ma.: Cambridge University Press, 1998 (vorzüglich lesbare Verteidigung des Rationalismus aus aktueller Perspektive, der Klassiker der Gegenwartsphilosophie zum Thema).

Casullo, Albert: A Priori Justification, Oxford: Oxford University Press, 2003 (anspruchsvolles Buch, das sehr gute Überlegungen zur Definition apriorischer Rechtfertigung enthält und die Argumente für und wider relativ neutral darstellt).

Descartes, René: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg: Meiner, 1992.

Devitt, Michael: „There is no A Priori“, in: Matthias Steup/Ernest Sosa (Hg.): Contemporary Debates in Epistemology, Malden, Ma.: Blackwell, 2005. S. 105–115.

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg: Meiner, 1998.

Kitcher, Philip: The Nature of Mathematical Knowledge, Oxford: Oxford University Press, 1983 (Versuch einer empiristischen Rekonstruktion der Mathematik).

Kitcher, Philip: „A Priori Knowledge Revisited“, in: P. Boghossian/C. Peacocke (Hg.): New Essays on the A Priori, Oxford: Clarendon Press, 2000. S. 65–91.

Kornblith, Hilary: Knowledge and Its Place in Nature, Oxford: Clarendon Press, 2002 (sehr gut lesbarer Versuch einer empiristischen Rekonstruktion der Philosophie).

Kripke, Saul: Name und Notwendigkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1993.

Quine, W. V. O.: „Two Dogmas of Empiricism“, in: ders., From a logical Point of View, Cambridge, Ma.: Harvard University Press, 1953. S. 20, 46 (fallibilistische Kritik am Apriori).

T. G.

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