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5.Nachdenken über dekoloniale Ästhetiken
ОглавлениеDas Beispiel der Inszenierung von Mittelreich als Schwarzkopie ermöglicht über die politische Ebene hinaus auch ein Nachdenken über die ästhetische Ebene. Was bedeutet es, die (deutsche) Theaterbühne zu dekolonisieren? Denn mit der Frage nach dem, was auf der Bühne verhandelt wird und wie es verhandelt wird, eröffnen sich neue Themen und Fragen, neue Sichtweisen und Diskussionsräume. Neu sind sie, weil auf der deutschen Bühne die eigene, sprich deutsche Geschichte – durch ihre marginalisierten Subjekte und deren soziale und politische Positionen – bisher nie überprüft und hinterfragt wurde. Zudem gab es nicht einmal eine Perspektive, die von marginalisierten Betroffenen aus den eigenen Reihen, sprich aus einer deutschen Position entwickelt wurde.
Schwarze, marginalisierte Subjekte und ihre Körper werden auf weißen Bühnen ver-andert. Ihnen werden über Jahrhunderte sich verfestigte Bilder und Vorstellungen ein- und zugeschrieben, sie werden zu Symbolen kolonialer und eurozentristischer Stereotypen. Anta Helena Recke selbst schreibt, dass ein »Schwarzer Körper immer etwas ganz anderes als ein weißer Körper« sei, denn mit dem »Schwarzen Körper wird es immer komplex und irgendwie prekär.«29 Prekär verweist auf die geografischen wie auch sozioökonomischen Bedingungen, die Schwarzen Körpern zugesprochen werden. Es wird Leid und Mitleid assoziiert und evoziert.
Was also wird ästhetisch in der Inszenierung von Anta Helena Recke anders als in der Inszenierung von Anne-Sophie Mahler verhandelt? Zwar führte die Eins-zu-eins-Kopie zu großer Kritik30, da die Schauspieler:innen die Rollen nicht neu erlernten oder interpretierten, sondern vielmehr über Videoaufnahmen die Gestik, Mimik und Bewegungen der weißen Schauspieler:innen aus der Mahler-Inszenierung einstudierten und minutiös wiedergaben. Dafür konnte in der Inszenierung von Recke sowohl das Postulat, dass race im deutschen Theater bei der Besetzung keine Rolle spiele, als auch die Tatsache, dass auf den deutschen Bühnen ein Universalismus herrsche, mit der Anwesenheit von ge-anderten Subjekten widerlegt werden. Mit der Präsenz von Schwarzen Körpern bzw. Schwarzen Performer:innen wird tatsächlich ein Perspektivenwechsel vorgenommen. Die bayerische Familiengeschichte, die sich über fast ein Jahrhundert spannt, und damit einen historischen Abriss einer modellhaften deutschen Familie zeigt, wird nicht mehr aus einer weißen Perspektive erzählt, sondern aus einer Schwarzen. Hier steht eine deutsche (oder bayerische) Schwarze Familie im Vordergrund, die durch Weltkriege, (sexualisierte) Gewalt, patriarchale Strukturen und Komplizenschaft sowie politische und soziale Veränderungen gezeichnet ist.
Während Rassismus und Kolonialismus nicht thematisiert werden, sind diese doch auf der Bühne präsent, den Körpern und ihren sozialen Umständen inhärent. Wenn es Anta Helena Recke auch explizit darum geht, Schwarzes Deutschsein auf der Bühne zu thematisieren und Schwarze Menschen eben nicht, wie sonst medial verhandelt, als »Ausländer« oder »Fremde«31 zu positionieren, sind diskriminierende, degradierende und gewaltvolle Erfahrungen trotzdem Teil dieses deutschen Schwarzseins. Nicht ein imaginiertes Herkunftsland (»Afrika« als Land und nicht Kontinent)32 oder dessen Verlassen und hier Ankommen wird thematisiert, sondern das Leben und Überleben in Deutschland als Schwarze deutsche Familie im 20. Jahrhundert. Es werden Bilder und Geschichten von unterschiedlicher und komplexer Betroffenheit und Kollaboration vermittelt. Es wird unausgesprochen thematisiert, wie eine Schwarze deutsche Familie den Zweiten Weltkrieg mit seiner rassistischen und antisemitischen Ideologie überlebt hat und wie sie mit den Traumata und Wunden in der Nachkriegszeit umgegangen ist, wie sie sich verbindet oder abgrenzt von Menschen, die sich nun auf der Flucht befinden und ein neues Leben aufbauen müssen. Die Platzierung einer Schwarzen deutschen Familie mitten in Deutschland (oder eigentlich noch besser im tiefsten Bayern) führt zur Positionierung von Schwarzem Deutschsein im Zentrum der deutschen Geschichte. Dabei stellt diese sich gegen die koloniale Konstruktion des Schwarzseins, dass, wie auch Achille Mbembe nochmals betont hat, zuallererst eine Konstruktion des Westens ist.
On a phenomenological level, the term first designates not a significant reality but a field – or, better yet, a coating – of nonsense and fantasies that the West (and other parts of the world) have woven, and in which it clothed people of African origin.33
Die Inszenierung und ihre theatralen Mittel stellen die koloniale Ordnung von Anfang an in Frage, widersetzen sich ihrer Logik. Anta Helena Recke postuliert in ihren Texten und in Interviews, dass den Strukturen des deutschen Theaters eine Kolonialität innewohnt, und legt deren Mechanismen offen. Die ästhetische Verhandlung auf der Bühne ist keine, die die kolonialen und exkludierenden Umstände für das Publikum dekonstruiert, um die Notwendigkeit einer Dekolonisierung nachvollziehbar zu machen. Sie ist als Standpunkt gesetzt, aus dem heraus agiert und die Geschichte auf die Bühne gebracht werden kann.