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2.Politische Intervention und ästhetische Erfahrung

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Einige der Kritikpunkte, die man aus der Debatte um das Agitproptheater der frühen dreißiger Jahre nur zu gut kennt, begegnen in der Diskussion um politisches Theater heute in abgewandelter Form wieder. Dabei geht es, grob gesagt, um die Vermittelbarkeit von aktivistischen und ästhetischen Ansprüchen.

Hinter der »Programmkrise« verbarg sich der Vorwurf, dass die kurzen Szenen, Songs und Sprechchöre zu plakativ, brachial und simplifizierend gestrickt seien, um ein Publikum ernsthaft überzeugen zu können. Tatsächlich waren die Szenen nach einem einfachen Schwarz-weiß-Schema gebaut: Es war für das Publikum immer auf den ersten Blick erkennbar, wie sich Gut und Böse verteilten. Es gab ausbeuterische Kapitalisten und tapfere Arbeiter, skrupellose Hausbesitzer und hilflose Mieter, brutale Polizisten und friedliche Demonstranten, dumme Nazis und schlaue Kommunisten. Auch heute findet sich in Bezug auf aktivistische Theaterformen oftmals die Einschätzung, diese müssten notgedrungen mit brachialen Zuspitzungen arbeiten. Dahinter kann die interpassive Haltung eines ›Wir wissen es natürlich besser‹ stehen:20 Für uns selbst ist die Darstellung zwar zu plakativ, aber es gibt andere Zuschauer:innen, andere Zielgruppen, die solche Vereinfachungen goutieren oder auf diese zum besseren Verständnis angewiesen sind. Schon in der Krisenzeit nach 1930 brach sich bei einzelnen Theatermachern die Erkenntnis Bahn, dass hinter einer solchen Sichtweise eine überhebliche, jedenfalls nicht schmeichelhafte Einschätzung des eigenen Publikums steht.

Heute zeigt sich unter den Praktiker:innen eines Theaters der Intervention oft ein Hadern mit der Frage, ob man die eigene Praxis als Kunst bezeichnen darf oder warum dieser Praxis der Kunstbegriff nicht von allen zugebilligt wird. Im Agitproptheater hielt man es eher mit der lässigeren Haltung eines Piscator oder Brecht, die auf den Kunstbegriff als solchen keinen gesteigerten Wert legten und nicht der Meinung waren, dass politisches Theater ein solches Prädikat nötig hätte. Gleichwohl war die ästhetische Dimension der Programme bei den Truppen ein ständiges Thema. Die Form der Aufführungen, die gewählten Gesten der Adressierung, die Gestaltung der Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum wurden deshalb immer wieder kritisch befragt, weil Zweifel an deren Wirksamkeit blieben. Damit verband sich auch eine Professionalisierungsdebatte: Wie erfolgversprechend war es, politisches Theater mit Leuten zu machen, die zwar engagiert bei der Sache waren, aber keine wirkliche Theaterausbildung genossen hatten? War es wichtiger, Laien aus der Bewegung umfassend in die Theaterpraxis einzubinden, oder sollte man versierte Profis nach vorne schieben, weil diese wirkungsvoller in Kontakt mit dem Publikum treten könnten?

Hinter solchen Besorgnissen steht die Ahnung, dass auch aktivistische bzw. agitatorische Theaterdarbietungen am Ende vom Publikum einem ästhetischen Urteil unterzogen werden. Dies geschieht unabhängig von der Intention der Macher und ist kein Privileg besonders gebildeter oder kunstinteressierter Zuschauer:innen. Es geht um Gesichtspunkte wie: Ist die Darbietung gelungen? Spielen die Darsteller:innen überzeugend? Ist das Geschehen auf der Bühne interessant, aufregend, anrührend? Aus solchen Fragen ergeben sich Urteile, die nicht auf den politischen Gehalt oder die Botschaft der Aufführung bezogen sind. Trotzdem werden auch die aktivistischsten und agitatorischsten Interventionen, wenn es künstlerische Interventionen sind, fast unweigerlich zum Gegenstand einer ästhetischen Beurteilung durch das Publikum. Nicht immer ist diese Richtung der Beurteilung der politischen Wirkung des Dargebotenen zuträglich.

Das ästhetische Urteil entfaltet auch eine eigene soziale Dynamik. In der ästhetischen Erfahrung können assoziative und dissoziative Impulse wirksam werden. Schon Kant hat auf den Drang hingewiesen, Geschmacksurteile mit anderen zu teilen:

[…] wenn jemand aber etwas für schön ausgibt, so mutet er andern eben dasselbe Wohlgefallen zu: er urteilt nicht bloß für sich, sondern für jedermann, und spricht alsdann von der Schönheit, als wäre sie eine Eigenschaft der Dinge. Er sagt daher, die Sache ist schön; und rechnet nicht etwa darum auf anderer Einstimmung in sein Urteil des Wohlgefallens, weil er sie mehrmahlen mit dem seinigen einstimmig befunden hat, sondern fordert es von ihnen.21

Auch Sianne Ngai hebt in ihren Essays über die zeitgenössischen ästhetischen Attribute »cute«, »interesting« und »zany« (Our Aesthetic Categories, 2012) darauf ab, wie bedeutsam in gesellschaftlicher Hinsicht unser Bedürfnis ist, über Geschmacksurteile zu sprechen und andere in unser Empfinden einzubeziehen. Sie beschreibt weitreichende soziale Wirkungen, die an ästhetische Urteile geknüpft sind:

To judge something or someone »cute« is to simultaneously eroticize and infantilize that object/person. While interesting art is serial or ongoing and comparative and dialogic […], to performatively call something »interesting« (often with an implicit ellipsis, »interesting …«) is to highlight and extend the period of an ongoing conversation. The judgment of the object as »interesting« with all its glaring conceptual indeterminacy, almost seems designed to facilitate the subject’s formation of ties with another subject: the »you« whose subsequent demand for concept-based explanation might be read as the feeling based judgment’s secret goal.22

Auf diese Weise können ästhetische Gemeinschaften, aber auch starke Aversionen gegen Subjekte entstehen, die unser Urteil nicht teilen können oder wollen. In der Reflexion politischer Ästhetik sollte diese dissoziative Dynamik nicht unterschätzt werden. Dass sich die Darstellungspraxis einer Agitproptruppe, einer aktivistischen Straßentheater-Gruppe oder eines politisch engagierten Performance-Kollektivs immer auch einer ästhetischen Beurteilung unterziehen muss, ist für die politische Wirkung dieser Praxis folgenreich. Denn in dieser Beurteilung, die stets mit affektiv grundierten Erfahrungen einhergeht, entstehen neue soziale Bindungen und Distanzen oder werden bestehende Gefühle der Zugehörigkeit und Abgesondertheit verstärkt.

Nicht zufällig funktionierten die Aufführungen der Agitproptruppen um 1930 wohl am besten dort, wo man nicht nur politische Überzeugungen, sondern auch Freizeitgewohnheiten und ästhetische Präferenzen teilte: in den Vereinslokalen und Versammlungen der eigenen Partei, Gewerkschaft oder Kulturorganisation. Die Hoffnung, mit konfrontativen Darbietungen bei einem den Akteuren unvertrauten Publikum auf dem Lande reüssieren zu können, mussten die Truppen spätestens Anfang der dreißiger Jahre aufgeben. Überhaupt erwies sich die direkt parteipolitische Mobilisierung durch Theater als schwierig. Gerieten die Programme zu didaktisch, die chorischen Rezitationen zu langatmig, dann sprang der Funke beim Publikum nicht über; versuchte man es dagegen mit einem komisch-unterhaltsamen Zugang, wurde schnell der Vorwurf der Oberflächlichkeit oder Geschmacklosigkeit erhoben. Die theatrale und damit indirekte Kommunikation mit einem oft zufällig zusammengewürfelten Publikum barg mehr Risiken als etwa die Auftritte geschulter Agitationsredner, die ihre Ansprachen mit viel Erfahrung flexibel an unterschiedliche Publikumsreaktionen anpassen konnten. Den Darsteller:innen ohne professionelle Ausbildung, die ja die Mehrheit in den Agitproptruppen stellten, waren solche spontanen Anpassungen ihrer standardisierten Nummernprogramme dagegen oftmals nicht möglich. Anders als den reisenden Kampagnen-Rednern fiel es ihnen auch schwer, skeptische Teilnehmer:innen im Publikum zu identifizieren und durch Blickkontakt direkt anzusprechen.

Politischer Aktivismus durch Theater hat bis heute mit den Tücken geschmacklicher Vorlieben und Idiosynkrasien zu kämpfen. Das Zentrum für Politische Schönheit, das eine ästhetische Kategorie im Namen führt, ist dafür ein viel diskutiertes Beispiel. Obwohl oder gerade weil man die politischen Ziele der Gruppe durchaus teilt, kann einen beim erstmaligen Sehen wie auch beim wiederholten Betrachten der Aktionen ein ungutes Gefühl beschleichen: Lebende Tiger im Käfig vor einem Theater und die Rede von Geflüchteten, die sich ihnen zum Fraß vorwerfen lassen wollen (Flüchtlinge fressen – Not und Spiele, 2016); eine inszenierte islamische Bestattung auf einem Berliner Friedhof als Kunstaktion (Die Toten kommen, 2015); eine Stahlsäule mit (angeblicher) Asche von Opfern des Nationalsozialismus als Installation vor dem Reichstagsgebäude (Sucht nach uns!, 2019) – solche Gesten können nicht nur als ethisch ambivalent und politisch zweifelhaft, sondern leicht auch als geschmacklos empfunden werden: zu viele Sarg-Attrappen, zu viele pathetische Statements, zu schnelles Springen zwischen Themen und Sensationen. Die ästhetischen Zweifel, die die brachialen szenischen Bilder auslösen, wirken sich auf die politische und ethische Einschätzung der jeweiligen Aktion sicherlich aus. Wenn man eine Darstellung als forciert, plump oder auch nur technisch misslungen bewertet, wird es schwierig, die politischen Forderungen wohlwollend oder zumindest unbefangen zu prüfen, die sich in dieser Darstellung artikulieren. Für eine Theatergruppe erreicht das Zentrum für Politische Schönheit beeindruckende Publizität, aber ob diese Publizität tatsächlich die politischen Anliegen der Gruppe voranbringt, erscheint fraglich. Von ästhetischen Aversionen können Abstoßungsreaktionen ausgehen, und dieser dissoziative Effekt kann sozial so stark wirken, dass die gewünschte Solidarisierung schwach bleibt oder sogar ganz ausbleibt.

Der enge Zusammenhang von ästhetischen, politischen und ethischen Beurteilungsvorgängen in der Erfahrung von Kunstwerken gestaltet sich auch für soziale, therapeutische oder pädagogische Theaterprojekte kompliziert. In solchen Projekten erhofft man sich vom Prozess der Erarbeitung einer Theaterinszenierung, d. h. von der Probenarbeit mit ihren verschiedenen Elementen – vom Konzeptionsgespräch über die szenische Rollenarbeit bis hin zu Feedback-Runden – soziale, therapeutische oder pädagogische Effekte für die Teilnehmenden. Auf diese Weise sollen Interventionen in konkrete gesellschaftliche Konflikte oder individuelle Problemlagen möglich werden. Nicht immer streben solche Produktionen eine öffentliche Aufführung an, denn nicht an Zuschauer:innen, sondern an die beteiligten Akteur:innen richtet sich das Wirkungsversprechen. Häufig wird eine Aufführung vor Publikum aber doch gewünscht, weil sie durch öffentlichen Zuspruch und Applaus eine willkommene Anerkennung für die Mitwirkenden verspricht. Diese kann anders ausfallen als erhofft, sobald die Spielenden in der Aufführungssituation zu Objekten von affektiven Geschmacksurteilen der Zuschauenden werden. Werden die Darsteller:innen in diesem Zuge etwa, wie Sianne Ngai es nahelegt, erotisiert oder infantilisiert (›süß‹, ›niedlich‹) oder zum Ausgangspunkt eines Gesprächs, an dem sie selbst nicht teilnehmen können (›interessant‹), dann hat sich die Intervention in einer Weise verselbständigt, die weder politisch noch therapeutisch kalkulierbar ist. Umgekehrt kann sich das Publikum in eine reservierte oder gar überhebliche Haltung geradezu gedrängt sehen, wenn therapeutische oder pädagogische Theaterarbeiten von sich aus – etwa durch offensiv vorgetragene Kunstansprüche – den Vergleich mit professionellen Theatergruppen herausfordern. Insofern kann es eine Intervention auch gefährden, wenn sie vom Publikum vorwiegend als ästhetisches Ereignis wahrgenommen (und beurteilt) wird.

Das wirft die Frage auf, um was für eine Art von Praxis es sich bei theatralen Interventionen handelt. Ein wichtiger Faktor ist die Mitwirkung von Laien, die für ihre Arbeit oftmals nicht entlohnt werden, weil sie zum Beispiel als Patient:innen ein Theatertherapie-Angebot wahrnehmen oder als Teilnehmer:innen an einem partizipativen Projekt mitwirken. Die künstlerische Praxis, wenn sie als solche definiert wird, bleibt bei solchen Projekten ohne materielle Vergütung – dies umso mehr, als auch die Anleiter:innen/facilitators von den finanzierenden Institutionen häufig explizit für ihre pädagogische, soziale oder therapeutische Tätigkeit bezahlt werden – und nicht für ein künstlerisches Schaffen. Die Aufführung wird dadurch keinesfalls entwertet, zumal sich der Wert eines ästhetischen Objekts nicht einfach an Art und Umfang der aufgewendeten Arbeit bemisst. Trotzdem verbleibt bei Produktionen, die ausdrücklich der Intervention, der Anwendung oder dem Engagement gewidmet sind, ein leiser Zweifel über ihren Wert: Die Darbietung ist funktional, erfüllt ihren Zweck, aber ist sie auch Kunst? Wenn man keinen Eintritt bezahlen muss, können dann wirklich Künstler:innen am Werk sein? Dieser Zweifel am künstlerischen Status des Gebotenen interferiert mit möglichen politischen Wirkungen. Denn Zuschauer:innen, die – womöglich en passant, auf der Straße, am Rande einer Demonstration etc. – mit einer theatralen Intervention konfrontiert sind, werden diese, sobald sie sie als Theater identifiziert haben, auch auf ihren ästhetischen Wert befragen. Diese Fragerichtung wird wie von selbst aktiviert und ist relativ unabhängig von der sozialen Herkunft oder kulturellen Vorprägung des:der Zuschauenden: Wenn wir Theater sehen – ganz gleich wo – fragen wir uns: Wie gefällt mir das? Wie gut oder schlecht ist das gemacht? Fällt die Antwort negativ aus, dann ist die politische Wirkung beeinträchtigt.

Künstlerische Interventionen unterscheiden sich von anderen, derartigen Interventionen im Feld des Politischen vor allem dadurch, dass die Ausführenden als Künstler:innen gelten und deshalb die besonderen Bedingungen des Kunstmarktes bzw. des künstlerischen Feldes mit ins Spiel kommen. An diesem Punkt liegt einmal mehr ein Vergleich mit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts nahe, denn auch sie wirkten, etwa im Kontext von Agitation und Propaganda, an Kampagnen mit, die mehrheitlich von nicht-künstlerischen Akteuren (aus dem Bereich des Journalismus, der Öffentlichkeitsarbeit, der Partei- und Gewerkschaftsadministration) gestaltet wurden. Denkt man an die großen politischen Kampagnen der Weimarer Republik, dann ergibt sich der Eindruck, dass die Beiträge von Künstler:innen insgesamt nicht mehr und nicht weniger erfolgreich waren als andere Teile derselben Kampagnen (Flugblätter, Reden, politische Kundgebungen).

Trotzdem stimmt wohl auch, dass Interventionen allein dadurch, dass sie von Künstler:innen gestaltet werden, anders ablaufen und anders wahrgenommen und beurteilt werden. Künstler:innen messen den kollektiven Prozess der Intervention nicht zuletzt an Idealen gemeinschaftlicher künstlerischer Arbeit, die sich im 20. Jahrhundert herausgebildet haben. Dazu gehört die Auffassung, dass sich alle Mitwirkenden nach eigenen Vorstellungen kreativ einbringen dürfen. Dies zu beherzigen bedeutet eine Offenheit und Flexibilität in der Durchführung des Prozesses, die anderen politischen Interventionen (etwa von Hilfsorganisationen oder Regierungsbehörden) fremd ist. Wenn Künstler:innen an einer Intervention beteiligt sind, stellen sich besondere Fragen an deren Ergebnis: Wird das entstehende Produkt zur Ware auf einem (wie auch immer zu konzeptualisierenden) Kunstmarkt? Möchte der:die Künstler:in sich mit der entstehenden Arbeit auch als Künstler:in profilieren? Zu den üblichen Bewertungsschemata politischer Interventionen treten zusätzliche Kriterien hinzu. Es geht nicht nur um unmittelbare Resultate in Bezug auf vorab definierte politische Ziele. Relevant wird jetzt auch die Frage nach künstlerischer oder ästhetischer Qualität: Kann das entstandene Werk bzw. die Aufführung im Vergleich mit ähnlichen Werken und Aufführungen bestehen? In welches Verhältnis tritt es zu früheren Werken desselben Genres? Welche künstlerischen Traditionen nimmt es auf oder schreibt es fort? Solche Fragen verkomplizieren die Einschätzung einer Intervention erheblich, zumal unklar ist, wie sie mit deren politischen Ansprüchen vermittelt werden können.

Ästhetiken der Intervention

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