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3.Assoziation und Dissoziation

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In abgewandelter Form begegnete künstlerischen Interventionen schon in den frühen dreißiger Jahren der heute verbreitete Einwand, wonach politisches Theater die am dringlichsten zu gewinnenden Bevölkerungsgruppen systematisch verfehle: der leidige Vorwurf des preaching to the converted. Was nutzte es, wenn man in Arbeitervierteln Erfolge feierte, wo die KPD ohnehin längst tonangebend war? Was brachte der freundliche Applaus auf Parteiversammlungen, wo niemand mehr von der kommunistischen Sache überzeugt werden musste? Solche Fragen finden sich heute in ähnlicher Weise, wenn man aktivistischem Theater unterstellt, immer dieselben Leute zu erreichen, die einem sogenannten Theatermilieu zurechenbar seien – gebildete, alternative, aufgeschlossene Leute, mit denselben Werten und Einstellungen, die auch die Theaterpraktiker:innen hegen und ihrer künstlerischen Praxis zugrunde legen.

Unter dem Gesichtspunkt der Kollektivität betrachtet, lassen solche Konstellationen allerdings auch erkennen, wie es politischem Theater gelingen kann, Konvergenz und Assoziation zu stiften. Mit ihren diversen chorischen Darstellungsformen, den Sprechchören und Auftrittsliedern, den synchronisierten Gesten und den einheitlichen Spieluniformen, inszenierten sich die Agitproptruppen als homogene, schlagkräftige Kollektive. Das Publikum im städtischen, parteinahen Arbeitermilieu hatte am ehesten die Chance, sich mit solchen in sich geschlossenen Bühnenkollektiven zu identifizieren, denn aus der eigenen Organisationswelt kannten die Zuschauer:innen die KPD-typischen Gesten der Einstimmigkeit und der Abschottung gegenüber den Anhänger:innen nicht nur der bürgerlichen und nationalistischen Parteien, sondern auch der Sozialdemokratie. Die Theatersituation des Agitprop mit ihren Deklamationen, Appellen und Liedern unterschied sich nicht gravierend von den performativen Mustern anderer Parteikundgebungen. Akteur:innen und Zuschauer:innen waren einander im Geiste gegenseitiger Affirmation verbunden.

Eine dissoziative und weitaus weniger affirmative Dynamik konnte sich hingegen ergeben, wenn die Agitproptruppen ihr vertrautes urbanes Milieu verließen. Auf theatraler Grundlage formierten sich dann Kollektive, die sich nicht ohne weiteres in die soziale Umgebung des Aufführungsgeschehens einfügten, bzw. die kein unmittelbares Pendant in der Realität des Publikums aufwiesen. Klassisches Beispiel dafür war die Landagitation. Am Wochenende stiegen Mitglieder der Agitproptruppen auf einen Kleintransporter und fuhren in nahegelegene Dörfer oder Kleinstädte. Was die Menschen auf dem Land und in den Dörfern umtrieb, wussten sie oft nur vom Hörensagen. Natürlich konnte man davon ausgehen, dass auch dort unter Ausbeutung gelitten wurde, aber die Probleme eines Tagelöhners auf dem Lande waren andere als die eines jugendlichen städtischen Arbeitslosen. Von außen kamen die Theatermacher in einen Mikrokosmos, der ihnen weitgehend unvertraut war, kamen aber mit klaren Botschaften und fest entwickelten Theaterformen, die sie für einen solchen Auftritt nicht substantiell abwandelten.23 Das Dazwischentreten, das Intervenieren, war in dieser Konstellation ein Von-außen-hinein: Es war ein Eintreten in einen anderen Kontext, das fast notwendigerweise zu Trennungen, Dissoziationen und Konflikten führte. Das Publikum merkte, dass es einerseits aufgesucht und adressiert wurde, dass ihm andererseits aber Lösungsvorschläge oder Handlungsanweisungen angetragen wurden, die aus anderen Konstellationen importiert waren. Solche Interventionen von außen, über soziale und geografische Distanzen hinweg, sind in der politischen Kunst heute ebenfalls weit verbreitet. Der Gestus des Von-außen-Kommens hat etwas Konfrontatives, auch Trennendes, allein dadurch, dass man für die kurze Zeit der Aufführung etwas in eine Umgebung hineinsetzt, etwas dazwischen fügt, das vorher nicht an diesen Ort gehörte. Die gesamte Umgebung soll dadurch neu konfiguriert werden.

Hier muss sich ein Theater der Intervention derselben Kritik stellen, mit der alle interventionistischen Praktiken in Politik und Gesellschaft zu rechnen haben: Ist die Einmischung in andere Milieus, Umgebungen, Konfliktlagen geboten, sogar notwendig, oder ist sie als ein paternalistischer, gar kolonisierender Akt des Übergriffs zu bewerten? Kann diese Einmischung halten, was sie an Wirksamkeit verspricht, oder läuft sie Gefahr, mit ungeeigneten Mitteln in einem unbekannten Kontext zu stochern, dessen Fallstricke sie, von außen kommend, nicht hinreichend überschauen kann? Solche kritischen Fragen sind zweifellos berechtigt, und in ihnen spiegeln sich die Misserfolge aktivistischer Theatergruppen, die oftmals dort am wenigsten erreichen konnten, wo sie sich besonders weit aus ihrem eigenen Milieu hinauswagten. Andererseits kann die Lösung auch nicht darin bestehen, dass man Theaterleuten pauschal einen Verbleib in der (vermeintlich) eigenen, vertrauten sozialen Umgebung empfiehlt. Vielversprechend erscheint ein Interventionsbegriff, der nicht allein auf eine Bewegung Von-außen-hinein festgelegt ist. Intervention würde dann auch eine Wendung oder ein Sich-Unterbrechen umfassen, die oder das sich im eigenen Verantwortungsbereich vollzieht. Dies wäre eine Lesart von Intervention, wie sie sich etwa in dem diskursiven Bemühen zeigt, in laufende Diskussionen eigener Angelegenheiten zu intervenieren. Das inter, das Zwischen von Intervention ist doppelt lesbar: als ein Dazwischenkommen, aber auch als ein aktives Mitten-drin-Sein, von dem Anstöße und Fragen ausgehen. Dissoziation und Assoziation sind dann nicht als Gegensätze zu verstehen, sondern als ein Konglomerat von Praktiken, in dem trennende und vereinigende Impulse zusammenwirken, um politische Bewegung entstehen zu lassen oder in Gang zu halten.

In der Zusammenschau von assoziativen und dissoziativen Bewegungen zeigen sich höchst unterschiedliche Kollektivbildungen, die in der Analyse theatraler Interventionen unterschieden werden müssen. Die theatrale Grenzziehung zwischen Bühne und Zuschauerraum, Akteur:innen und Publikum wird dabei auf komplexe Weise umspielt. Sie wirkt ohnehin oft destabilisiert, wenn sich politisches Theater, wie in interventionistischen Projekten verbreitet, von den Institutionen des Kunsttheaters löst. Allerdings kennen auch jene anderen institutionellen Kontexte, in denen sich Theater dann vollzieht – man denke etwa an die Organisationswelt der KPD in den Jahren um 1930 – Versammlungskulturen mit ausgeprägten Grenzen zwischen Podium und Auditorium. Kollektive, die unter solchen Rahmenbedingungen auf der Bühne inszeniert werden, können soziale Gruppenbildungen des betreffenden Milieus spiegeln oder auch konterkarieren, und sie können ein zufällig oder organisiert versammeltes Publikum einschließen oder ausgrenzen, anziehen oder abweisen. Theatrale Interventionen haben mit solchen sozialen Dynamiken stets zu rechnen – wodurch sie sich von anderen Interventionsformen unterscheiden, die ohne eine öffentliche und zur Wahrnehmung bestimmte Kollektivbildung auskommen.

1Groys, Boris: In the flow, London/New York 2016, S. 54.

2Vgl. auch ders., 2018: »Kosmisch werden«, in: ders./Vidokle, Anton (Hrsg.), Kosmismus, Berlin 2018, S. 12 – 31.

3Rürup, Reinhard: »Die Massenbewegungen der Arbeiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkriegs (1917–1920)«, in: ders.: Revolution und Demokratiegründung. Studien zur deutschen Geschichte 1918/19, hrsg. von Brandt, Peter/ Lehnert, Detlef, Göttingen 2020, S. 117 – 146, hier S. 117.

4Rürup: »Die Massenbewegungen«, S. 144, spricht »aufs Ganze gesehen« von einem Scheitern, weil es den Massenbewegungen nicht gelungen sei, »jene soziale Republik in Deutschland zu schaffen und solide zu verankern, die von einem Teil der Massenbewegung als Ziel, von einem anderen Teil wenigstens als Vorstufe zu einer sozialistischen Gesellschaft betrachtet wurde.« Ursächlich sei vor allem die mangelnde Vorbereitung der Massen gewesen: »Eine spontane Massenbewegung, deren Kern zweifellos aus der organisierten Arbeiterbewegung stammte, konnte sich weder auf ein strategisches Konzept, noch auf eine allgemeine Revolutionstheorie stützen, die der neuen Situation angemessen gewesen wäre.«

5Die wohl auffälligsten und problematischsten Kollektivformationen gingen seit Mitte der 1920er Jahre von den Kampfbünden der politischen Parteien aus. Vgl. etwa zur Performativität des Roten Frontkämpferbundes Mallmann, Michael: Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996, S. 193 – 199.

6Vgl. zu dissoziativen Dynamiken am Ende der Weimarer Republik Reichardt, Sven: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, 2. Aufl., Köln/Weimar/Wien 2009, bes. S. 53 – 99. Durch seinen konfliktorientierten Ansatz nimmt Reichardt neben den faschistischen Kampfbünden auch die sozialistischen und kommunistischen Gegenbewegungen in den Blick.

7Siehe bes. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 9. Korr. Aufl., Berlin 2015, S. 25 – 42.

8Siehe Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken, Frankfurt a. M. 2014, S. 21 – 43.

9Die Zahl der politisch motivierten Versammlungsstörungen in Preußen stieg laut amtlicher Statistik von 318 im Jahr 1928 auf 5296 im Jahr 1932, den weitaus höchsten prozentualen Anteil an den Störungen hatten Nationalsozialisten und Kommunisten, siehe Reichardt: Faschistische Kampfbünde, S. 65.

10Vgl. hierzu die Artikel von Simone Niehoff und Benjamin Wihstutz in diesem Band.

11Redebeiträge und andere Materialien von dieser Konferenz bei Hoffmann, Ludwig/Hoffmann-Ostwald, Daniel (Hrsg.): Deutsches Arbeitertheater 1918 – 1933, Bd. 2, 2. erw. Aufl., Berlin 1972, S. 279 – 299.

12Siehe die Stellungnahmen zur »Programmkrise« von den Truppen Links ran (Hannover), Kölner Blaue Blusen und Rote Schmiede (Halle) im Rahmen einer Umfrage der Zeitschrift Arbeiterbühne und Film 18 (1931), H. 4 u. 5; abgedruckt bei Hoffmann/Hoffmann-Ostwald: Deutsches Arbeitertheater, Bd. 2, S. 301 – 303.

13Schliesser, Elli: »Rückblick und Ausblick«, in: Das Rote Sprachchor 3 (1931), H. 1, unpaginiert; abgedruckt bei Hoffmann/Hoffmann-Ostwald: Deutsches Arbeitertheater, Bd. 2, S. 282 – 287, hier S. 284. Vgl. auch »Kritische Durchsicht der eingegangenen Manuskripte«, in: Das Rote Sprachchor 2 (1930), H. 10, unpaginiert; abgedruckt bei Diezel, Peter (Hrsg.): »Wenn wir zu spielen – scheinen«. Studien und Dokumente zum Internationalen Revolutionären Theaterbund, Bern u. a. 1993, S. 297 f., hier S. 297.

14Moos, Siegfried: »März. Die politische Lage und die Situation im ATBD«, in: Arbeiterbühne und Film 18 (1931), H. 3; abgedruckt bei Hoffmann/Hoffmann-Ostwald: Deutsches Arbeitertheater, Bd. 2, S. 292 – 297, hier S. 295.

15Schliesser: »Rückblick und Ausblick«, S. 285.

16Siehe Wolf, Friedrich: »Schöpferische Probleme des Agitproptheaters. Vor der Kurzszene zum Bühnenstück. Eine Studie« (1933), in: ders.: Aufsätze über Theater, Berlin 1957, S. 12 – 54, bes. S. 24f.

17Siehe die »Resolution des 12. ATBD-Bundestages, Mai 1932 in Chemnitz«, abgedruckt bei Diezel: »Wenn wir zu spielen – scheinen«, S. 326 – 330, S. 328f.

18In diesem Tenor: »Kritische Durchsicht der eingegangenen Manuskripte«, in: Das Rote Sprachrohr 2 (1930), H. 10; abgedruckt bei Diezel: »Wenn wir zu spielen – scheinen«, S. 297f., bes. S. 297; Durus (d. i. Alfréd Kemény), 1931: »Schlußwort«, in: Arbeiterbühne und Film 18, H. 5: abgedruckt bei Hoffmann/Hoffmann-Ostwald: Deutsches Arbeitertheater, Bd. 2, S. 304f., bes. S. 304. Vgl. auch Durus’ Bericht über die Reichstruppenkonferenz des ATBD von 1931, ders.: »Agitproptruppen spielen«, in: Die Rote Fahne Nr. 86, 14. Jg. vom 14. April 1931, Feuilleton-Beilage.

19Wolf: »Schöpferische Probleme des Agitproptheaters«, S. 24f.

20Zum Begriff der Interpassivität: Pfaller, Robert: Ästhetik der Interpassivität, Hamburg 2008. Der Begriff bezeichnet Verhältnisse, in denen man Handlungen, aber auch Erfahrungen und Genüsse an andere delegiert, um sie selber nicht durchführen oder erleben zu müssen. Auch an Objekte kann delegiert werden, wenn man etwa Texte maschinell kopiert, anstatt sie tatsächlich zu lesen.

21Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Bd. 10, 23. Aufl., Berlin 2018, S. 126. Herv. i. O.

22Ngai, Sianne: Our Aesthetic Categories. Zany, Cute, Interesting, Cambridge, MA/London 2012, S. 233f.

23Zu den Problemen der Agitproptruppen beim ländlichen Publikum und anderen konkreten Wirkungsproblemen der theatralen Agitationspraxis um 1930 ausführlicher Warstat, Matthias: Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918–33, Tübingen/Basel 2005, S. 357 – 361.

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