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1.Die Krise des Agitproptheaters 1930 – 1933
ОглавлениеDie späte Weimarer Republik war die paradigmatische Zeit einer dissoziativen Politik, die im Sinne Carl Schmitts auf Freund-Feind-Oppositionen basierte und in der die verschiedenen Lager oft mit paramilitärischen Mitteln auf eine klare Trennung vom politischen Gegner setzten.7 Chantal Mouffe würde von einer antagonistischen Politik sprechen, die immer weniger ins Demokratisch-Agonale transformiert werden konnte.8 Das politische Theater war von dieser Polarisierung einerseits unmittelbar betroffen, andererseits trug es selbst aktiv zu einer Verschärfung der politischen Gegensätze bei. Für linke Theatermacher ergab sich eine doppelte Frontstellung: Die NSDAP, seit den Septemberwahlen von 1930 zweitstärkste Partei im Reichstag, sorgte vor allem mit den großstädtischen Gruppen der SA, die sich auf Straßen- und Saalschlachten spezialisiert hatten, für eine ständige gewaltsame Bedrohung gegen linke politische Versammlungen und mithin auch gegen entsprechende Theateraufführungen.9 Zugleich mussten politisch engagierte Theaterleute aber auch in dem erbitterten Konflikt zwischen SPD und KPD Position beziehen, denn die parteipolitischen Trennlinien verliefen mitten durch die proletarischen Milieus.
Ein paradigmatisches Beispiel für dissoziative Interventionen mit den Mitteln des Theaters sind die kommunistischen Agitproptheater-Truppen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Die Beschäftigung mit ihnen liegt heute näher als früher, denn seit einigen Jahren gibt es im deutschsprachigen Raum wieder viel beachtete Theatergruppen, die in der Tradition des Agitproptheaters situiert werden können. Diese Gruppen teilen mit den Agitproptruppen der Jahre um 1930 folgende Charakteristika: Sie verstehen sich als Kollektive; sie arbeiten in großer Nähe zu politischen Bewegungen oder als Teil dieser Bewegungen; sie haben keine Angst vor klaren Botschaften; und sie suchen ihr Publikum außerhalb des Theaters, zum Beispiel auf der Straße oder, was die Gegenwart anbelangt, im Internet.10
Um 1930 gab es in Deutschland rund 300 Agitproptheater-Gruppen, die sich dem Organisationsspektrum der KPD zuordneten. In der Regel bestanden sie aus einzelnen professionellen Theaterleuten (Schauspielern wie Wolfgang Langhoff, Autoren wie Friedrich Wolf, Regisseuren wie Maxim Vallentin) und einer überwiegenden Mehrheit von jüngeren Leuten aus dem Arbeitermilieu, von denen die meisten arbeitslos waren und sich von daher ganz in den Dienst der agitatorischen Theaterarbeit stellen konnten. Die Interventionen dieser Theatergruppen sahen folgendermaßen aus: Sie gestalteten Nummernprogramme aus satirischen Kurzszenen, politischen Liedern und didaktischen Sprechchören, die auf die aktuelle politische Situation eingingen oder als Teil einer politischen Kampagne der KPD oder einer ihrer Vorfeldorganisationen funktionierten. Mit diesen Programmen fuhren die Gruppen in die Arbeiterbezirke, manchmal aber auch in kleinbürgerliche Wohnviertel und am Wochenende in die ländliche Umgebung der Großstädte. Wenn die Agitproptruppen in Hinterhöfen, auf der Ladefläche ihres Auftrittswagens oder in Gasthaussälen auftraten, trafen sie auf ein Publikum, dessen Probleme und Themen sie unmittelbar adressieren und dessen Haltung sie beeinflussen wollten.
Am erfolgreichsten waren die Gruppen offenbar dort, wo sie in einem Milieu agierten, dem sie selbst angehörten. Allerdings entwickelten sie mit ihrer Arbeit einen eigenen Lebensstil, der sie von großen Teilen selbst des kommunistischen Arbeitermilieus unterschied: Die Truppenmitglieder verbrachten oft viele Stunden des Tages zusammen, bildeten Wohngemeinschaften, und in diesen Wohnungen gestalteten sie die Kostüme, Requisiten und Texte für ihre Auftritte. Es war ein kommunitäres Leben im Stil einer Produktionsgenossenschaft, die sich in den Dienst zentral gesteuerter Kampagnen zu stellen bereit war. Es wurden Agitationsziele definiert und im Zuge dessen politische Konstellationen und Konfliktlagen beschrieben, in die hinein man mit der eigenen Theaterarbeit zu intervenieren beabsichtigte. Der Erfolg solcher Interventionen ließ sich an einfachen Parametern ablesen: ob es zum Beispiel gelungen war, Spenden für die Familien inhaftierter Genossen zu sammeln, Abonnements für eine Verbandszeitschrift zu vermitteln oder neue Mitglieder für die sogenannten ›Roten Verbände‹ der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition zu werben. Der Erfolg ließ sich leicht ablesen, aber er stellte sich nach 1930 immer seltener ein.
Auffallend ist nämlich, dass das interventionistische Agitproptheater der KPD schon lange vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in eine Krise geriet. Zwar berichtete die KPD-Presse immer wieder hymnisch über fulminante Auftritte der Truppen und schrieb ihnen beeindruckende Resonanz zu. Aber die intensiven Diskussionen, die zur selben Zeit von Theoretikern und Praktikern dieses Theaters über politische, ästhetische und technische Fragen geführt wurden, legen einige Skepsis nahe. Vor allem seit 1931 war in diesem Diskurs immer häufiger von einer Krise die Rede, deren Symptome auf verschiedenen Ebenen situiert wurden. Auf einer Konferenz des Arbeiter-Theater-Bundes Deutschland im April 1931 wurde erstmals ausführlich über eine sogenannte »Programmkrise« diskutiert.11 Vertreter von Agitproptruppen aus unterschiedlichen Regionen des Reiches gestanden ein, dass ihr szenisches Repertoire nach den dicht gedrängten Wahl-kampf- und Kampagneneinsätzen der Jahre 1930/31 erschöpft sei.12 Stand eine Truppe – wie in Wahlkampfzeiten üblich – fast allabendlich auf der Bühne, so fand sie kaum Gelegenheit, ihr Programm zu aktualisieren und neue Nummern einzustudieren. Der Anspruch, auf tagesaktuelle Probleme des Publikums einzugehen, wurde auf diese Weise schleichend unterhöhlt. Während die Truppenvertreter vor allem Zeitmangel für diese »Programmkrise« verantwortlich machten, suchten Kritiker und Funktionäre tieferliegende Ursachen in Theoriedefiziten: Vielen Truppen, so die Klage, seien marxistische Positionen nur vage bekannt.
Auf ästhetischer Ebene richtete sich die Kritik an den Agitproptruppen gegen einen zunehmenden ›Schematismus‹ in der Wahl der Darstellungsformen. Viele Beobachter bemängelten, dass die politische Revue wie auch das chorische Kollektivreferat zu ›Schablonen‹ erstarrt seien, die »von außen an den jeweiligen politischen Stoff herangeklatscht«13 würden. Es herrsche eine fatale Diskrepanz zwischen Form und Inhalt, wenn man etwa »die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung seit 1917 in einer Kurzszene« abhandle oder »die Schrecken des Krieges mit Kindertrompeten«14 imitiere. In der Zeitschrift Das Rote Sprachrohr, dem wichtigsten Organ der Agitpropbewegung, wurde die Neigung der Truppen zu stereotypen Allegorien und Abstraktionen kritisiert:
Und hier kommen wir an den wesentlichen Mangel unserer bisherigen Arbeitsmethode. Wir haben dargestellt: den Kapitalisten (meistens mit einem dicken Bauch und einem Geldsack drum), den Bonzen, die Justiz usw. – Abstraktionen, Begriffe, die auch in unserem Kopf nicht der Ausgangspunkt eines Gedankenganges waren, sondern ein Endresultat; wir haben nicht unseren Gedankengang auf der Bühne dargestellt und dadurch in der gleichen Weise wie in unserem eigenen Kopf den Begriff im Zuschauer entwickelt, sondern wir haben ihm Endresultate, feststehende Begriffe, grob gesagt, um die Ohren gehauen.15
Mit ähnlichen Argumenten forderte der Dramatiker Friedrich Wolf nach 1931 eine grundsätzliche Abkehr vom Prinzip des Nummernprogramms und plädierte stattdessen für abendfüllende Theaterstücke: Komplexere politische Zusammenhänge, so Wolf, seien in Kurzszenen nicht zu vermitteln.16 Auch die schauspielerischen Leistungen wurden im Fachdiskurs als mangelhaft empfunden. In einer Resolution forderte der Bundestag des Arbeiter-Theater-Bundes die Truppen im Mai 1932 dazu auf, mit arbeitslosen Berufsschauspielern Kontakt aufzunehmen, um sich an deren Kenntnissen zu schulen.17 Zu befürchten stand, dass sich die dramaturgischen und ästhetischen Defizite der Agitproptruppen auf der Wirkungsebene negativ bemerkbar machen würden. Tatsächlich setzte sich im Agitpropdiskurs die Einschätzung durch, dass es um die Wirksamkeit der Truppen nicht allzu gut bestellt sei. Viele von ihnen, so der kritische Tenor nach 1931, verbreiteten Langeweile, überfrachteten ihre Darbietungen mit Zahlen und Fakten und versagten vor der Aufgabe, ihr Publikum nicht nur kognitiv, sondern auch emotional anzusprechen.18 Speziell außerhalb der angestammten Parteimilieus, bei Auftritten vor Kleinbauern, Angestellten und Mittelständlern, erzielten die Truppen offenbar nur geringe Resonanz. Friedrich Wolf analysierte dieses Problem 1933 in einem Rückblick auf seine Arbeit mit dem Spieltrupp Süd-West:
Gewiß, man rief dem Publikum zu: »Links, links, links, Prolet!« Aber damit machte man den Kleinbauern und Angestellten bloß kopfscheu. War er vielleicht ein »Prolet«, ein Glied der Arbeiterklasse? Man nahm in Parolen und Behauptungen Dinge vorweg, die gerade dem deklassierten Angestellten, dem ausgepowerten Kleinbauern erst bewiesen werden mußten ... ein folgenschwerer Irrtum, der lange unsre Arbeit in Fragen der »Einheitsfront« hemmte.19
Vielen Truppen haperte es an der Fähigkeit, sich auf die Bedürfnisse ihres jeweiligen Publikums flexibel einzustellen. Der Kontakt zu den Zuschauenden war zu flüchtig und punktuell, als dass eine nachhaltige Bindung hätte erreicht werden können. Zum Eingehen längerfristiger Verpflichtungen – wie etwa eine Zeitschrift zu abonnieren oder einem Verband beizutreten – waren viele Zuschauer:innen allein auf der Basis eines einmaligen Aufführungserlebnisses nicht bereit. Die Truppen hätten wohl einzelne Wohnviertel und Dörfer regelmäßiger bearbeiten müssen. Stattdessen blieb es meist beim einmaligen Milieukontakt, der noch dazu unzureichend vorbereitet wurde.
Die verschiedenen Problemkomplexe verdichten sich in der Gesamtschau zu einer umfassenden Krisendiagnose. Die Interventionen des Agitproptheaters funktionierten offenbar nicht richtig – oder nicht mehr richtig. Die Appelle dieses Theaters wirkten auf das Publikum disparat oder sogar widersprüchlich: Einerseits bezogen sich die Truppen auf das Ideal proletarischer Solidarität und bemühten sich um einen engen Kontakt und ein gemeinschaftliches Einvernehmen mit ihrem Publikum. Andererseits produzierten sie häufig Spaltungen und Trennungen; darin liegt die dissoziative Seite ihrer Arbeit. Das Agitproptheater war konfrontativ, oft auch schon im szenischen Auftritt: Man stellte sich in einer Reihe frontal zum Publikum auf und konfrontierte die Zuschauer:innen mit chorisch vorgetragenen Belehrungen und Forderungen. Man sah sich als eine Avantgarde im Lenin’schen Sinne, die dem Publikum vorangehen zu können glaubte. Den Zuschauer:innen aber ideologisch einen Schritt voraus zu sein, bedeutete auch, sich von diesem Publikum programmatisch und performativ abzutrennen, sich ihm mehr zu konfrontieren als zu assoziieren. Es ging den Truppen um Organisation, Assoziation und die Bildung revolutionärer Gemeinschaften, aber dem standen trennende und dissoziative Impulse gegenüber, gerade bei der Arbeit in sozialen Milieus, die nicht unmittelbar die eigenen waren. Die konkreten Interventionen wirken seltsam blockiert in einem unauflösbaren Bündel aus assoziativen und dissoziativen Kräften.