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Matthias Warstat Intervention und Dissoziation Kollektivbildung im politischen Theater

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Wenn es heute darum geht, politisches Theater zu interpretieren und zu bewerten, richtet sich der Blick oftmals zurück auf die Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Dieser Rückbezug ist damit zu erklären, dass komplexe Fragen, die mit der historischen Avantgarde vor hundert Jahren verbunden waren, in modifizierter Form wieder relevant geworden sind: Welche Chancen und Risiken liegen darin, Theater für politische Zwecke zu instrumentalisieren? Wie lassen sich politische und ästhetische Dimensionen des Theaters miteinander verbinden? Kann sich das Theater mit anderen Medien (insbesondere Massenmedien) messen, wenn es um politische Relevanz und Durchsetzungskraft geht? Diese Fragen haben in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts schon Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Erwin Piscator, Friedrich Wolf, Georg Lukács und viele andere beschäftigt – heute begegnen sie uns in verändertem gesellschaftlichem Kontext aufs Neue. Es ist von daher verständlich, dass sich politisch ambitionierte Theatermacher:innen und Performancegruppen wie im deutschsprachigen Raum etwa Rimini Protokoll, andcompany&Co., René Pollesch oder das Zentrum für Politische Schönheit explizit – etwa im Rahmen von Reenactments – mit Avantgarde-Positionen auseinandersetzen. Allerdings scheint das gesellschaftliche Umfeld dieser Positionen mit der heutigen Situation politischen Theaters nur schwer vergleichbar. Die politischen Konflikte waren anders ausgeprägt und insgesamt polarisierter. Das mediale Umfeld ließ dem Theater mehr Raum als heute, aber eine schnelle Mobilisierung und Vernetzung fiel in diesem Umfeld nicht unbedingt leichter als heute. Schließlich differierten die politischen Zielsetzungen.

In einem Essay mit dem Titel On Art Activism (2016) bezieht sich Boris Groys auf die vorrevolutionäre russische Avantgarde, um deren entschiedene »Dysfunktionalität« heutigen Formen angewandter und aktivistischer Kunst gegenüberzustellen. Das Revolutionäre der Kunst von Kasimir Malewitsch, Alexei Krutschonych und anderen habe gerade darin gelegen, sich konkreten Fortschritten und Optimierungsprogrammen zu verweigern und stattdessen auf eine radikale Dysfunktionalisierung des Gegebenen zu setzen. Auch in der Gegenwart möchte Groys entsprechend nur solche Positionen im engeren Sinne zur Kunst zählen, die den gesellschaftlichen Status quo nicht verbessern, sondern gänzlich verabschieden (bzw. archivieren, musealisieren) möchten:

Contemporary art puts our contemporaneity into the art museum because it does not believe in the stability of the present conditions of existence, to such a degree that contemporary art does not even try to improve these conditions. By defunctionalizing the status quo, art prefigures its coming revolutionary overthrow. Or a new global war. Or a new global catastrophe. In any case, an event that will make the whole contemporary culture, including all of its aspirations and projections, obsolete […]1

Diese Einschätzungen, die Groys im Rekurs auf die frühen russischen Suprematisten, Futuristen und Kosmisten und hier besonders auf bildende Kunst formuliert, lassen sich nicht ohne Weiteres auf die Theateravantgarde übertragen.2 Weder wollten politische Theatermacher:innen in Zeiten der historischen Avantgarden die Gegenwart musealisieren, noch hatten sie den Anspruch auf eine Verbesserung der gegebenen Existenzbedingungen ganz fallengelassen. Analog zum Bemühen um Dysfunktionalisierung in der bildenden Kunst neigte aber auch die Theateravantgarde zu radikalen Gesten der Zurückweisung der herrschenden Zustände, und sie entwickelte, gerade in Deutschland, eine vitale Bindung an die Idee der Revolution. Besonders deutlich zeigte sich das in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als sich politisch engagierte Theaterleute zu den revolutionären Ereignissen in Russland und anderen europäischen Gesellschaften positionieren mussten. Auch in Deutschland suchte man nach Antworten auf die revolutionären Massenbewegungen der Jahre 1917 bis 1920 – deren Kontur allerdings nicht leicht zu greifen war: Es handelte sich um eine Kette teils politisch, teils ökonomisch motivierter Aufstände, darunter

[…] die sozialen Unruhen und »wilden« Streiks, die in den letzten Kriegsjahren ständig weiter um sich griffen und ihren Höhepunkt im politischen Massenstreik vom Januar 1918 fanden, an dem sich in Berlin über eine halbe Million, in ganz Deutschland mindestens eine Million Arbeiter beteiligten; die Umsturzbewegung vom November 1918, die weder geplant, noch von Parteiund Gewerkschaftsführungen organisiert worden war, dennoch aber Millionen mit sich riss und im ersten Anlauf einen überwältigenden Erfolg erzielte; die rasche Ausbreitung der Arbeiter- und Soldatenräte als Repräsentanten der revolutionären Bewegung in allen Teilen des Reiches und im Frontheer; die Massendemonstrationen und Streikbewegungen während der Wintermonate, wozu auch der sogenannte Spartakusaufstand von Anfang Januar zu rechnen ist, der sich aus einer planlosen Massendemonstration von über 500 000 Arbeitern in Berlin entwickelte; die Sozialisierungsbewegungen, Massenstreiks und Aufstandsbewegungen, die im Frühjahr 1919 die wichtigsten Industriegebiete des Reiches erfassten; die räterepublikanischen Experimente in einzelnen Städten und Gebieten; die Massenbewegungen innerhalb der alten und neuen Parteien und gewerkschaftlichen Organisationen; schließlich der erfolgreiche Generalstreik im Kampf gegen den Kapp-Putsch, bei dem 12 Millionen Arbeiter die Arbeit niederlegten.3

Das politische Theater im Deutschland der Weimarer Republik, das zumindest in seinen antibürgerlichen, gegen das tradierte Kunst- und Theatersystem gerichteten Ausprägungen unter den Avantgarde-Begriff gefasst werden kann, wäre ohne die Revolution von 1918/19 und die mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Konflikte nicht vorstellbar. Wichtige Grundzüge der Avantgarde lassen sich unmittelbar auf die Revolutionserfahrung rückbeziehen. Zwei davon möchte ich hervorheben, zumal sie in eine andere Richtung weisen als Groys’ berechtigter Hinweis auf die Dysfunktionalität der historischen Avantgarden in der bildenden Kunst.

Erstens war das politische Theater in Deutschland seit den (letztlich gescheiterten oder zumindest nicht überwiegend erfolgreichen) Massenbewegungen nach dem Ersten Weltkrieg immer wieder mit Fragen von Kollektivität und dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv beschäftigt.4 Das mag trivial klingen, aber es war eine ernsthafte und komplexe Auseinandersetzung, zumal im Motiv der Kollektivität politische und ästhetische Fragen konvergierten. So rückte das Chorische in Gestalt von Sprech-, Bewegungs- und Tanzchören seit den zwanziger Jahren wieder mit ins Zentrum der Theaterpraxis, und vielen Theoretiker:innen und Kritiker:innen dieser Praxis war die Notwendigkeit bewusst, chorische Formationen auf der Bühne zu politischen Massenbewegungen auf der Straße in Beziehung zu setzen. Seit den Monaten des Umbruchs von 1918/19 konnte man in der städtischen Öffentlichkeit täglich politische Kollektive in Aktion sehen. Sowohl die Gewaltsamkeit als auch die Wirkungskraft solcher Formationen war für aufmerksame Beobachter:innen unverkennbar, ganz gleich ob sie das dynamische Geschehen in Kategorien von Masse, Klasse, Bund oder Gemeinschaft beschrieben.5

Zweitens griff die Avantgarde in ihren Formen und Inszenierungsweisen jene Spannungen, Konflikte und Kämpfe auf, die das kollektive Geschehen auf der Straße dominierten. In den unruhigen Spätjahren der Weimarer Republik seit 1929 wurde dieser Zusammenhang besonders deutlich. Kollektive waren in dieser Zeit der Straßenkämpfe und Massenaufmärsche keine in sich ruhenden Gemeinschaften oder demokratisch diskutierenden Versammlungen. Vielmehr agierten sie oft aggressiv und gewaltsam, spalteten sich häufig und brachten dann neue, radikalere Gruppen hervor, die sich gegeneinander wendeten. Darin liegt ein dissoziativer Zug der politischen Öffentlichkeit, der sich im Theater spiegelte oder sogar noch verschärfte. Die öffentliche Performanz theatraler Kollektive war eine Praxis auch und gerade der Dissoziation. Es ging darum, sich zu fokussieren und zu begrenzen, sich abzutrennen, um eine härtere Kontur für den politischen Kampf zu gewinnen.6 Dieses Bemühen um dissoziative Konturierung kann besonders am Agitproptheater aufgezeigt werden.

An Kollektivität und Dissoziation scheiden sich im politischen Theater auch heute die Geister. Wenn es darüber nachzudenken gilt, wie wirkungsvolle politische Interventionen des Theaters heute aussehen können, welche Bedeutung der ästhetischen Erfahrung in gegenwärtigen politischen Konflikten zukommt, und wie Theater sich zu aktivistischen Anliegen positionieren soll, steht unweigerlich die Frage nach dem Umgang mit Kollektivität und Dissoziation im Raum. Mit Akteur:innen und Zuschauer:innen stehen sich in Theateraufführungen zwei Gruppen gegenüber, die als Kollektive aufgefasst werden können. Somit scheint Kollektivität im theatralen Dispositiv nahezu ›von vornherein‹ angelegt. Fast zwangsläufig entwirft jede Theaterpraxis Bilder eines Verhältnisses von unterscheidbaren Kollektiven. Kollektive, die zueinander in Beziehung treten, tun dies in Konstellationen, die sich zwischen Assoziation und Dissoziation bewegen. In den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war klarer zu erkennen als heute, dass Kollektive im Theaterraum mit Kollektiven außerhalb des Theaters, etwa auf der Straße oder in der Fabrik, korrespondieren. In diesen Korrespondenzen liegen politische Möglichkeiten und durchaus auch Interventionschancen. Diese ergeben sich – damals wie heute – an den verschiedenen Grenzen des Theaterdispositivs: Bühne und Zuschauerraum, Vorderbühne und Hinterbühne, Aufführungsraum und Außenraum, Raum der körperlichen Ko-Präsenz und mediale Erweiterungen etc. Es ist ein Spiel mit Kollektiven – auf der Bühne, vor der Bühne und hinter der Bühne; innerhalb und außerhalb des Theaters –, die alle auf keinen Fall in eins gesetzt werden dürfen, aber in wechselnde Verhältnisse zueinander geraten, und diese Verhältnisse können, darin liegt ihre politische Qualität, assoziativ oder dissoziativ gestaltet werden. Interventionen können auf die Konvergenz, aber auch auf die Trennung von Kollektiven abzielen.

Ästhetiken der Intervention

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