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aa) Sozialadäquanz

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156Früher war anerkannt, dass die Rechtswidrigkeit auch dann zu verneinen ist, wenn die Körperverletzung sozial adäquat ist. Hier ging es namentlich um das sog. Züchtigungsrecht, welches nach der früher herrschenden Meinung Erziehungspersonen zur körperlichen Züchtigung von Kindern berechtigen sollte. So lautet etwa der Leitsatz einer BGH-Entscheidung aus dem Jahr 1952: »Eltern, die ihre 16jährige sittlich verdorbene Tochter durch Kurzschneiden der Haare und Festbinden an Bett und Stuhl bestrafen, überschreiten nicht das elterliche Züchtigungsrecht.«[257] Eltern und auch Lehrer sollten aufgrund |73|einfachgesetzlicher Normen (die mittlerweile gestrichen wurden)[258] oder qua Gewohnheitsrecht befugt sein, Kinder zu Erziehungszwecken körperlich zu maßregeln.[259] Dadurch sollten auch Körperverletzungen gem. § 223 StGB gerechtfertigt werden können. Ein solcher Rechtfertigungsgrund wird von der herrschenden Meinung heute verneint.[260] Diese Ansicht vertritt nun auch der Gesetzgeber, der in § 1631 Abs. 2 S. 2BGB festgeschrieben hat, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben und körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen im Rahmen der Personensorge für ein Kind unzulässig sind.[261]

157Als sich der Meinungsstand zum Züchtigungsrecht gerade im Umbruch befand, war im Einzelfall ein Schuldausschluss gem. § 17 StGB in Betracht zu ziehen,[262] wenn sich der Täter über das Bestehen bzw. die Reichweite seines Züchtigungsrechtes irrte. Da ein solcher sog. Erlaubnisirrtum als indirekter Verbotsirrtum[263] gem. § 17 StGB unvermeidbar gewesen sein muss, um zum Schuldausschluss zu führen, dürfte eine Anwendung auf Fälle körperverletzender Züchtigung von Kindern heute ausgeschlossen sein, da mittlerweile die Pflicht zur gewaltlosen Erziehung allgemein bekannt und im BGB gesetzlich festgeschrieben ist.

158Wesentlich aktueller ist der aufgrund einer Entscheidung des LG Köln aus dem Jahr 2012 neu entbrannte Streit um die Sozialadäquanz der religiös motivierten Knabenbeschneidung. Das LG Köln hatte die Tatbestandsmäßigkeit in einem Verfahren gegen einen Arzt, der eine solche Beschneidung vorgenommen hat, bejaht (und den Arzt wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums dennoch freigesprochen). Zur Sozialadäquanz führte das Landgericht aus, dass ihr »neben dem Erfordernis tatbestandsspezifischer Verhaltensmissbilligung keine selbstständige Bedeutung« zukomme. »Die Sozialadäquanz eines Verhaltens ist vielmehr lediglich die Kehrseite dessen, dass ein rechtliches Missbilligungsurteil nicht gefällt werden kann. Ihr kommt nicht die Funktion zu, ein vorhandenes Missbilligungsurteil aufzuheben.«[264] Mit dem Argument der Sozialadäquanz soll also tatbestandliches Verhalten nicht legalisiert werden |74|können. Das Landgericht verneinte auch das Vorliegen einer rechtfertigenden Einwilligung. Ein – in diesem Falle vierjähriges – Kind sei mangels hinreichender Verstandesreife nicht einwilligungsfähig. Die Eltern des Kindes hatten zwar eingewilligt. Allerdings erfasse das Sorgerecht und die damit verbundene Entscheidungsberechtigung der Eltern nur Erziehungsmaßnahmen, die dem Wohl des Kindes dienten, § 1627 S. 1BGB. Ob die Einwilligung in die Beschneidung von § 1627 S. 1BGB gedeckt sei, müsse durch eine Abwägung des Erziehungsrechts der Eltern aus Art 4 Abs. 1, 6 Abs. 2GG und den Grundrechten des Kindes auf Selbstbestimmung (Art 2 Abs. 2 S. 1GG) und körperliche Unversehrtheit (Art 2 Abs. 1GG) bestimmt werden: »Bei der Abstimmung der betroffenen Grundrechte ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Die in der Beschneidung zur religiösen Erziehung liegende Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist, wenn sie denn erforderlich sein sollte, jedenfalls unangemessen. Das folgt aus der Wertung des § 1631II1BGB. Zudem wird der Körper des Kindes durch die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert. Diese Veränderung läuft dem Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwider. Umgekehrt wird das Erziehungsrecht der Eltern nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten sind abzuwarten, ob sich der Knabe später, wenn er mündig ist, selbst für die Beschneidung als sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zum Islam entscheidet (…).«[265]

159Nach dieser Entscheidung entwickelte sich eine kontroverse Diskussion über die Strafwürdigkeit der massenhaft praktizierten muslimischen und jüdischen Beschneidungstradition.[266] Der Gesetzgeber reagierte darauf sehr schnell mit dem am 28. Dezember 2012 in Kraft getretenen »Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes«[267]. Es fügt in das BGB den § 1631d neu ein. Danach umfasst nun die Personensorge auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Eine Ausnahme soll gelten, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird. In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen gem. § 1631d Abs. 2BGB auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind. Ob die gesetzgeberische Intervention tatsächlich die rechtspraktischen Probleme der Beschneidung zu lösen vermag, wird zum Teil bezweifelt.[268] Es bleibt abzuwarten.

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